Was ist passiert?
Der Appellate Body ist die letzte Berufungsinstanz in der Streitschlichtung-Prozedur der WTO. Sie entscheidet abschließend, ob ein WTO-Mitgliedsland gegen WTO-Regeln verstoßen hat und die andere Partei das Recht auf Gegenmaßnahmen hat. Die Berufungsinstanz besteht aus sieben Mitgliedern, für die Beschlussfähigkeit sind mindestens drei notwendig. Nachdem die USA seit Sommer 2017 wiederholt die Nominierung neuer Mitglieder blockierten, wird – durch das Ausscheiden zweier Vertreter am 11. Dezember – der Appellate Body auf ein Mitglied schrumpfen. Sollte bei Handelsstreitigkeiten eine Partei den Schiedsspruch eines WTO-Streitschlichtungspanels nicht akzeptieren, kann der Appellate Body den Fall nun nicht mehr bearbeiten.
Es gibt zwei Ursachen für die US-Blockadehaltung zur Nachnominierung im Schiedsgremium. Zum einen ist man mit der Funktionsweise der Berufungsinstanz unzufrieden. Dazu gehört die nachvollziehbare Kritik an der Nichteinhaltung von Fristen. Schwerer wiegt der seit über einem Jahrzehnt von den USA wiederholt erhobene Vorwurf der Kompetenzüberschreitung: Anders als die EU verstehen die USA die Berufungsinstanz nicht als Gericht (samt Richtern) und beklagen, diese habe Fälle dazu genutzt, Präzedenzfälle zu schaffen und eine Art „Rechtsprechung“ zu etablieren. Die USA streben eine Rückkehr zu einer engen Mandatsauslegung und eine stärkere Rechenschaftspflicht für die Berufungsinstanz an.
Zweitens sind die USA mit grundsätzlichen Entwicklungen unzufrieden: So profitieren zahlreiche Staaten vom selbst zu deklarierenden Status als „Entwicklungsland“, obwohl sie diesem längst entwachsen sind.
Im Fokus der US-Kritik steht China: Peking bestehe auf den Entwicklungslandstatus, befolge WTO-Entscheidungen seit Beitritt im Jahr 2001 nur vordergründig und unterlaufe durch staat kapitalistische Subventionspolitik die WTORegeln. Andere Länder teilen diese Kritik. Zudem sei die WTO mit ihrem Instrumentarium derzeit kaum gerüstet, den Praktiken nicht-marktwirtschaftlich orientierter Mitgliedstaaten entgegenzutreten. Die Blockade der Berufungsinstanz ist also ein Druckmittel Washingtons. Allerdings weniger um notwendige WTO-Reformen zu erzwingen, die selbst die G20 einfordern, sondern um direkte Veränderungen von Staaten, namentlich China, in ihren handelspolitischen Praktiken zu erreichen.
USA nicht alleinschuldig an brüchiger Weltwirtschaftsordnung
Freilich trägt die Trump-Administration eine Hauptverantwortung für die sich verschärfende Institutionenkrise der WTO. Allerdings haben weitere Mitgliedstaaten in der Vergangenheit erheblich zur Eskalation des Streits beigetragen. Die einen durch den Unwillen, Reformdebatten zu führen, die anderen durch ein Unterlaufen von WTO-Vorgaben. Auch die EU ist nicht frei von Schuld. 2017 hatte sie die Nominierung eines Mitglieds der Berufungsinstanz blockiert und der oft berechtigten Kritik der USA zu wenig Beachtung geschenkt.
Beobachter betonen, dass die Konsequenzen eines kurzen Ausfalls der Berufungsinstanz verkraftbar wären. Eine mehrjährige Vakanz hätte aber gravierende Folgen für den Welthandel. Zwischenstaatliche Handelskonflikte könnten rapide zunehmen, weil unternehmensbezogene Streitigkeiten kaum gelöst würden. Eingedenk dessen strebt die EU eine Interimslösung an (sog. „interim appeal arbitration arrangements“ basierend auf Artikel 25 der WTO-Vereinbarung zur Streitbeilegung). Bislang haben Norwegen und Kanada diesem Verfahren zugestimmt, informell haben weitere Länder Interesse bekundet. Kritiker (u. a. die USA) sehen diese Lösung hingegen als einen Versuch, den fehlerbehafteten Appellate Body zu kopieren.
Stresstest für den Welthandel: Lösung der WTO-Krise ungewiss
Alle Mitgliedsländer und die G20 betonen zwar die Bedeutung der WTO, weltweit ist aber eine Zunahme protektionistischer Tendenzen festzustellen. Handelspolitik ist zum umstrittensten zwischenstaatlichen Thema geworden, was den grenzüberschreitenden Güteraustausch stagnieren lässt. Positiv ist, dass Reformideen aufgeworfen sind. Etwa das Papier des neuseeländischen WTO-Botschafters David Walker mit konkreten Lösungsvorschlägen (u. a. strikte Einhaltung der 90-Tage Frist für die Entscheidungsfindung, enge Auslegung des Mandats durch den Appellate Body, jährlicher Dialog mit WTO-Mitgliedern). Das Europäische Parlament, die Kommission und alle EU-Mitgliedstaaten drängen auf eine Einigung. Den USA geht der Walker-Bericht nicht weit genug. Gegen zu weitreichende Reformen sperren sich wiederum wichtige WTO-Mitglieder. Eine Grundvoraussetzung für einen Durchbruch wäre ein ohne Moralismus geführter Dialog zwischen der EU und den USA. Eine Lösung in den kommenden Monaten ist eher nicht zu erwarten.
Die WTO ist nicht am Ende
Die Streitschlichtungsfunktion ist eine wichtige Säule der WTO, aber nicht die einzige. Die WTO koordiniert die Handelspolitik ihrer Mitgliedstaaten und ist der Ort für Verhandlungen zur Stärkung des regelbasierten internationalen Handels in verschiedenen Sektoren. Dazu gehören u. a. Gespräche zum Abbau von Fischereisubventionen wie auch zum zunehmend wichtigen elektronischen Handel. Bei beiden Themen spielen die USA eine konstruktive Rolle. Trotz der Krise bei der Streitschlichtung geht die Arbeit der WTO in diesen und anderen Dossiers unverändert weiter.
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