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Länderberichte

100. Jahrestag der Tschechoslowakischen Republik

von Matthias Barner, Lennart Ritterbach
Am 28. Oktober jährt sich zum hundertsten Mal der Jahrestag der Gründung der Tschechoslowakischen Republik, dem ersten demokratischen Rechtsstaat auf dem heutigen tschechischen und slowakischen Gebiet. Dieser Tag wird mit Stolz und Ehre zelebriert, vor allem in Tschechien. Das Ende der ersten Republik und die folgenden totalitären Regime bedeuteten einen enormen Rückschritt, der erst mit der Samtenen Revolution ein Ende nahm. Die Teilung im Jahre 1993 hatte weitreichende Folgen für beide neu entstandenen Länder.

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Es war wohl kein reiner Zufall: Kurz vor dem denkwürdigen Jahrestag kam es in der UEFA Nations League zum friedlichen Bruderduell in Bratislava, Slowakei gegen Tschechien. Der „Große“ gewann gegen den „Kleinen“ (gemessen an Fläche und Einwohnerzahl). Aber nur ganz knapp (1:2). War das im Ergebnis vielleicht eine zutreffende Beschreibung des aktuellen Verhältnisses der beiden Nachbarländer? Fakt ist zumindest, dass die Bedeutung des 100. Jahrestages der Bildung der Tschechoslowakischen Republik an der großen Anzahl von Veranstaltungen deutlich wird, die zum 28. Oktober in beiden Ländern stattfinden. Prag organisiert an diesem Wochenende ein dreitägiges Festprogramm. Der tschechische Staatspräsident Miloš Zeman empfängt seinen slowakischen Amtskollegen Andrej Kiska auf der Burg. Tschechiens Premierminister Andrej Babiš, eigentlich ein Slowake, wird gemeinsam mit dem slowakischen Ministerpräsidenten Peter Pellegrini ebenso an den Feierlichkeiten teilnehmen. Angekündigt ist die bisher größte Militärparade mit mehr als 2000 Soldaten. Auch der französische Staatspräsident Macron kommt zu Besuch.

Schon das gesamte Jahr über fanden zahlreiche Events, Ausstellungen und Festivals statt, bis hin zu gemeinsamen Kabinettssitzungen der Regierungen. Dennoch wird das Jubiläum in der Slowakei verhaltener gefeiert. Während der 28. Oktober in Tschechien ein Feiertag ist, ist er in der Slowakei ein Werktag, wenn er nicht wie in diesem Jahr auf einen Sonntag fällt. In Tschechien spielt die gemeinsame tschechoslowakische Identität immer noch eine wichtige Rolle. Die Slowaken begehen dafür den Tag der „Deklaration des slowakischen Volkes“ (auch Martiner Deklaration): Am 30. Oktober 1918 wurde mit diesem Dokument dem Beitritt der Slowakei zu einem gemeinsamen Staat mit den Tschechen zugestimmt. Die Auswahl dieses Tages unterstreicht die eigenständige slowakische Identität.

Historischer Hintergrund

Der Gründervater der Tschechoslowakei, der Politiker und Philosoph Tomáš Garrigue Masaryk, konnte mit dem Ende des Ersten Weltkrieges seinen langfristigen Traum für einen unabhängigen Staat für die Tschechen und Slowaken verwirklichen. Seine Vision war es, dass eine Nation nicht nur durch das Land und die Sprache, sondern auch durch Werte und ein humanistisches Ideal gebildet wird. Die Tschechoslowakei sollte laut Masaryk „kein nationalistisches Konstrukt, sondern eine moderne und progressive Demokratie sein“. Die Tschechoslowakei gehörte in der Zwischenkriegszeit zu den am meisten entwickelten Ländern Europas. Der kulturelle, wissenschaftliche und auch wirtschaftliche Aufstieg erfolgte auf Basis der neuen demokratischen Rahmenbedingungen.

An sich war der Zusammenschluss der beiden Länder trotz sprachlicher und kultureller Nähe ein künstliches Konstrukt, denn politisch sowie wirtschaftlich trennte sie viel. Der tschechische Teil war administrativ Wien untergeordnet, war industriell stark und verfügte über die doppelte Einwohnerzahl. Der slowakische Teil gehörte zum Königreich Ungarn und wurde von Budapest verwaltet. Dieser Teil war insgesamt ärmer und landwirtschaftlich geprägt. Gemeinsam war aber die Sehnsucht nach Freiheit und Unabhängigkeit.

Dennoch missfiel der slowakischen Bevölkerung über viele Jahre hinweg die führende Rolle Tschechiens, da sie die tschechische Dominanz als arrogant und bevormundend empfanden. Nachdem die Slowaken bereits zwischen 1939 und 1945 einen eigenen Staat durchgesetzt hatten, welcher allerdings stark abhängig vom Dritten Reich war, und 1969 die kommunistische Tschechoslowakei in zwei Sozialistische Republiken föderalisiert wurde, forderten die Slowaken im Zuge der Samtenen Revolution 1989 erneut nationale Autonomie. Die angeheizte Stimmung spitzte sich schließlich 1992 bei den Parlamentswahlen zu. Bei der Wahl gewann in dem tschechischen Landesteil die „Demokratische Bürgerpartei“ (ODS), während im slowakischen Teil die nationalorientierte „Bewegung für eine demokratische Slowakei“ (HZDS) siegte. Die Regierungsbildung war nun äußerst kompliziert, da eine Zusammenarbeit der beiden größten Parteien angesichts komplett unterschiedlicher Auffassungen unmöglich erschien. Die Folge, die Tschechoslowakei aufzuteilen, war letztendlich die Entscheidung der Führungsfiguren der beiden Parteien, Václav Klaus (ODS) und Vladimír Mečiar (HZDS). Ein Referendum in der Bevölkerung fand nicht statt.

Hervorzuheben ist, dass die Trennung friedlich erfolgte, was nicht selbstverständlich war. Immerhin mussten staatliche Institutionen aufgelöst, gemeinsame Infrastruktur zergliedert und Vermögen aufgeteilt werden. Konfliktpotential wäre also ausreichend vorhanden gewesen – in einer Zeit, in denen in Europa die Jugoslawienkriege stattfanden. In der Tschechoslowakei handelten die Parteien die gewaltfreie Trennung mit diplomatischem Geschick aus und legten Grundlagen für eine weitere enge Zusammenarbeit fest. Dabei wurde u.a. der freie Verkehr von Waren, Personen und Dienstleistungen beibehalten.

Entwicklung nach der Trennung

Doch wie haben sich beide Länder nach der Trennung entwickelt? Haben sie tatsächlich einen Vorteil aus der neugewonnen Selbstständigkeit ziehen können? Der tschechische Premierminister Klaus leitete umgehend wirtschaftsliberale Reformen ein, sodass die zentral gelenkte Wirtschaft einer Marktwirtschaft „ohne Adjektive“ wich. Zudem trieb er die Privatisierung zahlreicher Staatsbetriebe voran. Die radikale Umstrukturierung der tschechischen Wirtschaft stellte das Land zunächst vor gewaltige Herausforderungen. Die Privatisierung wurde teilweise innerhalb eines ungenügenden gesetzlichen Rahmens durchgeführt. Es entstand aber ein stabiles Parteiensystem und die Integration in Europa wurde von Beginn an verfolgt, auch wenn sich im Land früh eine starke europaskeptische Stimmung ausbreitete.

Für die Slowakei waren die Anfangsjahre noch schwieriger. Der slowakische Premierminister Mečiar und seine nationalistische HZDS standen für eine staatlich gelenkte interventionistische Wirtschaftspolitik. Dabei übergab Mečiar seinen Parteifreunden Staatsbetriebe, was zu einer Oligarchisierung der Wirtschaft führte. Auch die politische Herrschaftsform nahm autoritäre Züge an. Die Slowakei war folglich in den neunziger Jahren in Europa isoliert. Im Gegensatz zu Tschechien, Polen und Ungarn wurde sie 1999 kein Mitglied der NATO. Rückblickend war die Zeit der Isolation dennoch äußerst bedeutend für das Land. Getragen von einer lebendigen Zivilgesellschaft ging ein Ruck durch die Bevölkerung und ein Umdenken fand statt, sodass sich bei der Wahl 1998 eine demokratische europafreundliche Regierungskoalition unter dem neuen Ministerpräsidenten Mikuláš Dzurinda bildete.

Das Jahr 2004 als Wendepunkt

Beide Republiken wurden 2004 Mitglied der EU. Im gleichen Jahr ist die Slowakei – fünf Jahre nach Tschechien – auch der NATO beigetreten. Die EU-Mitgliedschaft verschaffte ihnen nicht nur eine bessere internationale Stellung, sondern steigerte auch die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, da nun Investitionen aus dem Ausland und EU-Fördergelder in die Länder strömten. Die slowakische Regierung begann mit dem EU-Eintritt aber auch tiefgreifende Reformen durchzuführen, um Teil der Eurozone zu werden. Diese klare politische Strategie gepaart mit einer effektiven Finanzpolitik hatte dann die Einführung des Euros in der Slowakei im Jahre 2009 zur Folge. Demgegenüber gibt es bis heute in großen Teilen der tschechischen Bevölkerung sowie in der politischen Klasse eine ausgeprägte Zurückhaltung gegenüber der Einführung des Euro als nationale Währung. Durch die engen Handelsbeziehungen mit Deutschland sowie anderen Ländern der Eurozone werden bereits viele Geschäfte mit dem Euro abgewickelt. Dennoch besteht in Tschechien derzeit kein Anreiz, den Status quo zu ändern. Die tschechische exportorientierte Wirtschaft hat insgesamt vom EU-Beitritt stark profitiert. Gleichwohl holte die Slowakei mit durchdachten Reformen und der Einführung des Euro gegenüber Tschechien enorm auf und schrieb als sogenannter „Tatra-Tiger“ eine regelrechte Erfolgsstory. Die Slowakei hat heute die höchste Pro-Kopf-Autoproduktion weltweit. War das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf gemäß der OECD in Tschechien 2004 um 27 % höher als in der Slowakei, trennten die beiden Länder 2017 nur noch 13 %. Experten halten es nicht für ausgeschlossen, dass die Slowakei Tschechien in Zukunft sogar überholen könnte.

Beide Staaten profitieren von der Unabhängigkeit

Aufgrund des geschichtlichen Hintergrunds wäre es nicht weiter verwunderlich, wenn Tschechien und die Slowakei keine allzu guten Beziehungen pflegen würden. Allerdings kamen sich beide Länder nach Auflösung der Tschechoslowakei immer näher, sodass sie heute einander große Sympathien entgegenbringen und ein freundschaftliches Verhältnis führen. Im Nachhinein profitierten beide Länder von der neugewonnen Selbstständigkeit. Zwischen den Staaten gibt es weniger Differenzen als es in der Tschechoslowakei der Fall gewesen wäre. Auch wenn die Bevölkerung damals möglicherweise mehrheitlich dagegen gewesen wäre, war wohl aus heutiger Sicht die Auflösung der Tschechoslowakei und die Gründung zweier neuer Staaten die richtige Entscheidung. Mit der friedlichen Trennung als Ausgangspunkt machten beide Länder nach anfänglichen Schwierigkeiten, insbesondere in der Slowakei, große Fortschritte und sind heute feste Bestandteile der Europäischen Union.

Auf dieser Grundlage kann der 100. Jahrestag der Gründung des gemeinsamen Staates und das gleichzeitige 25jährige Jubiläum der jeweiligen Unabhängigkeit in einer Atmosphäre des Wohlwollens und der Zuversicht begangen werden. Die Feierlichkeiten dürfen allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass die aktuelle politische Situation in beiden Ländern kompliziert und fragil ist. Trotz deutlichem Wahlsieg benötigte Ministerpräsident Andrej Babiš mit seiner politischen Bewegung „Aktion unzufriedener Bürger“ (ANO) acht Monate, um im zweiten Anlauf eine Minderheitsregierung mit den Sozialdemokraten (ČSSD) zu bilden. Dies gelang mit der tatkräftigen Unterstützung des Staatspräsidenten Miloš Zeman. Dabei muss sich die Regierung jedoch im Parlament von den Kommunisten (KSČM) tolerieren lassen. 29 Jahre nach der Wende erhielt die Kommunistische Partei Böhmens und Mährens damit wieder Einfluss auf die Regierungsgeschäfte. Mit neun Parteien im Abgeordnetenhaus, aus dem sich bisher keine starke Oppositionskraft zu Andrej Babiš und seiner Bewegung hervortut, ist die Parteienlandschaft äußerst zersplittert. Oppositionsparteien und zivilgesellschaftliche Organisationen warnen vor einer zunehmenden Oligarchisierung der Medienlandschaft und einer Erosion der proeuropäischen, liberalen und repräsentativen Elemente der Demokratie in der Tschechischen Republik.

Die Slowakei ist im Frühjahr nach dem Doppelmord an einem jungen investigativen Journalisten und seiner Lebensgefährten in großem politischem und gesellschaftlichem Aufruhr geraten. Die andauernden Korruptionsfälle und Berichte, dass hinter dem Mord angeblich die italienische Mafia mit Kontakten bis in die politische Spitze des Landes stehe, führten zu landesweiten Massenprotesten und den Rücktritt des sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Robert Fico sowie seines Innenministers. Auch wenn die Regierungskoalition mit der sozialdemokratischen oder eher sozialpopulistischen SMER-SD, der nationalorientierten SNS und der liberal-konservativen Most-HíD sich weiter im Amt halten konnte, bleiben die unübersichtliche politische Szenerie sowie die Existenz korrupter und klientelistischer Strukturen als Dauerprobleme.

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Über diese Reihe

Die Konrad-Adenauer-Stiftung ist in rund 110 Ländern auf fünf Kontinenten mit einem eigenen Büro vertreten. Die Auslandsmitarbeiter vor Ort können aus erster Hand über aktuelle Ereignisse und langfristige Entwicklungen in ihrem Einsatzland berichten. In den "Länderberichten" bieten sie den Nutzern der Webseite der Konrad-Adenauer-Stiftung exklusiv Analysen, Hintergrundinformationen und Einschätzungen.