Sie blickt immer wieder auf ihre Armbanduhr und es ist ihr anzusehen, dass ihr die Warterei auf die Nerven geht. Giorgia Meloni ist zuweilen eine ungeduldige Frau. Leerlauf ist ihre Sache nicht, bei ihr ist jede Minute am Tag verplant und peinlich genau eingeteilt. Auch das hat mit ihrem Aufstieg zur Premierministerin zu tun. Doch diesmal geht es nicht anders, denn sie wartet auf die Ankunft von US-Präsident Joe Biden am Beginn des zweiten Tages der NATO-Konferenz in Washington. Beim G7-Gipfel vor einem Monat in Apulien hatte sie ebenfalls fast eine halbe Stunde auf das Eintreffen Bidens warten müssen. Sie habe den Führer der freien Welt „fit und präsent“ in diesen Tagen erlebt, wird sie auf Nachfrage eines Reporters sagen. „Er hat einen großartigen Gipfel organisiert.“ Zu diesem Zeitpunkt war dessen Rückzug von der neuerlichen Kandidatur noch nicht absehbar gewesen.
Den NATO-Beschluss, in Europa, namentlich in Deutschland, Polen und Italien, neue Langstreckenraketen als Abschreckung vor Russlands Präsidenten Wladimir Putin zu stationieren, begrüßt sie mit deutlichen Worten. Da gibt es bei ihr kein Zaudern und Zögern: Giorgia Meloni gilt als treue Verbündete. Ihre Haltung zum russischen Angriffskrieg in der Ukraine, zur NATO und zu den transatlantischen Beziehungen ist glasklar. Auch wenn ihr die US-Republikaner in gesellschaftspolitischen Fragen und beim Umgang mit illegaler Migration politisch näherstehen, muss sie eine Rückkehr Donald Trumps ins Weiße Haus fürchten. Während sie mit US-Präsident Joe Biden seit ihrem Amtsantritt im Oktober 2022 eine tragfähige, mitunter herzliche Arbeitsatmosphäre geschaffen hat, befürchtet man in Rom einen neuen Handelskrieg mit den USA, sollte der Protektionist Trump wieder Strafzölle auf europäische Produkte erheben. Prosecco, Parmesan, Prada: Italien als Exportnation für Nahrungsmittel, Luxusgüter und Design-Produkte würde das besonders empfindlich treffen und die heimische Wirtschaft beschädigen. All das kann nicht im Sinne Melonis sein.
Salvini – der Stachel in der Flanke
Doch es gibt einen Koalitionspartner, der das erheblich anders sieht und aus der möglichen Rückkehr Trumps politischen Honig saugt: Matteo Salvini und seine rechtspopulistische Lega gehen schon jetzt bei entscheidenden Fragen offen auf Gegenkurs zur Regierungschefin. Die Strategie der innenpolitischen Nadelstiche bei Sachfragen, mit der Salvini die Premierministerin seit Wochen immer wieder piesackt, könnte sich in den kommenden Monaten zu einer Koalitionskrise ausweiten.
Wie weit man innerhalb der Rechts-Regierung bereits auseinanderliegt, zeigt der Übertritt von Salvinis Rechtspopulisten ins Lager der antieuropäischen Fraktion der „Patrioten“ um Victor Orban und Marine Le Pen im Europäischen Parlament. Zwar fand sich Salvinis Lega schon vorher in Gesellschaft rechtsradikaler Parteien (einschließlich der rechtsextremen AfD), doch zur neuen Fraktion der ultrarechten Putin-Freunde und Russlandversteher zählen etliche Überläufer aus Melonis rechtskonservativer Parteienfamilie ECR, deren Vorsitzende sie seit 2020 ist – darunter etwa die spanische Vox und deren Vorsitzender Santiago Abascal, den Meloni nicht zuletzt aufgrund ihrer exzellenten Spanischkenntnisse in mehreren Wahlkämpfen persönlich unterstützt hatte.
In Summe ist es eine unverhohlene Kampfansage Salvinis an die bisherige Ukraine-Politik der Rechts-Regierung in Rom. Der Lega-Chef fordert nun, wie sein Vorbild Trump, offen ein Ende der militärischen Unterstützung für Kiew und sofortige „Friedensverhandlungen“ – zu Moskaus Bedingungen. Bei der Abstimmung über eine Solidaritätsbekundung für die Ukraine im Europäischen Parlament stimmten die Lega-Abgeordneten mit Nein. Salvinis Kalkül dürfte sein, Meloni europaskeptische Wähler abspenstig zu machen, die die aktuelle Ukraine-Politik kritisch sehen: denn je mehr Realpolitik die Regierungschefin macht, umso populistischer kann Salvini auftreten.
Das alles birgt Sprengkraft für die Regierung bis hin zu einem Ausscheiden der Lega aus dem Bündnis mit den Fratelli d‘Italia und Forza Italia. Manche Beobachter glauben, Salvini lege es auf einen Hinauswurf geradezu an. Die lange, heiße Sommerpause hat der Lega-Vorsitzende schon in der Vergangenheit für politische Kapriolen genutzt; 2022 gehörte er zu den Drahtziehern hinter dem Sturz von Premier Mario Draghi, 2019 kam Premierminister Giuseppe Conte Salvini in letzter Minute durch dessen Rauswurf aus der damaligen Regierung zuvor. Giorgia Meloni ist sich der Gefahren bewusst; sie muss daher ein paar wichtige Entscheidungen treffen – und die haben alle mit Europa zu tun.
Politisches Signal für Italien und Europa
Ihr heimischer Erfolg bei der Europawahl kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass Meloni ihr eigentliches Wahlziel, dass ohne und gegen Rom in Brüssel künftig nichts mehr geht, verfehlt hat. Das wurde ihr gleich am Tag nach den Wahlen im Europäischen Rat vorgeführt; das Personalpaket für die künftige EU-Führungsspitze kam ohne ihre Mitwirkung zustande, alle Proteste verhallten. Ihrem Frust ließ Meloni öffentlich freien Lauf – und lenkte damit die Aufmerksamkeit von Opposition und Medien auf die Tatsache, dass Italien bei der Postenvergabe keine Rolle gespielt hatte.
Der nächste Eiertanz ging um die Wiederwahl Ursula von der Leyens zur Präsidentin der Europäischen Kommission. Eigentlich mögen sich Giorgia Meloni und Ursula von der Leyen gern, ihr Umgang ist freundschaftlich. Die Premierministerin hat es der Kommissionschefin nicht vergessen, dass sie die erste war, die das Eis brach und die drohende Isolation der italienischen Rechts-Regierung in Europa verhinderte. Doch ihre Niederlage beim Poker um das Personalpaket ließ Meloni nur noch ein letztes Ass im Ärmel, um für Italien einen wichtigen Posten herauszuschlagen: Und das war ausgerechnet die Karte von der Leyen und deren Wiederwahl. Bis zur letzten Sekunde hielt sich Meloni bedeckt und reizte ihr Blatt aus. Im Ergebnis stimmten die 24 Abgeordneten ihrer Fratelli gegen die alte und neue Kommissionschefin, vordergründig wegen Fortsetzung des „Green Deals“.
Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Zwei Faktoren spielen wohl zusammen: In den letzten Tagen vor der entscheidenden Sitzung verdichtete sich bei Beobachtern in Straßburg der Eindruck, dass die Wiederwahl der CDU-Politikerin nicht gefährdet war. Da die Lage klar schien, so die Überlegung bei den Fratelli, konnte man ungefährdet ein politisches Signal senden: einerseits an den europaskeptischen Teil der eigenen Wählerschaft – auf den es Lega-Chef Salvini mittelfristig abgesehen hat. Andererseits an die informelle Koalition aus Christdemokraten, Sozialdemokraten und Liberalen auf europäischer Ebene, die Meloni beim Personal-Deal ausgebootet hatten. Die deutliche Botschaft: Wenn man uns einbindet, verhalten wir uns konstruktiv – aber wir können auch anders. Inwieweit das persönliche Verhältnis zwischen Meloni und von der Leyen dadurch beeinträchtigt wird, bleibt abzuwarten. Beiden darf man jedoch einen gesunden Sinn für Pragmatismus unterstellen, denn am Ende braucht man sich gegenseitig.
Wer besetzt das bürgerlich-liberale Feld?
Düpiert hat sie mit ihrer Taktik Außenminister Antonio Tajani, der als Chef der zur EVP-Fraktion gehörenden Forza Italia im Hintergrund bis zuletzt versucht hatte, Meloni umzustimmen. Jedoch auch für seine Forza Italia eröffnen sich jetzt neue Möglichkeiten: Beim Tod Silvio Berlusconis im Juni 2023 hatte kaum ein Beobachter Forza Italia eine Überlebenschance gegeben. Doch gelang es Tajani, die Partei zusammenzuhalten und bei der Europawahl mit knapp zehn Prozent einen beachtlichen Erfolg einzufahren.
Das Wähler-Potential von Forza Italia wird von Tajani auf bis zu 20 Prozent geschätzt und als nächste Zielmarke ausgegeben. Schon ruft Berlusconis ältester Sohn Pier Silvio die finanziell von seiner Familie abhängige Forza Italia dazu auf, sich stärker auf die moderate Mitte-Rechts-Wählerschaft zu konzentrieren und diese nicht den Fratelli d’Italia von Meloni zu überlassen. Und Marina Berlusconi, die älteste Tochter, ließ unlängst wissen, dass sie bei gesellschaftspolitischen Fragen wie Abtreibung, Sterbehilfe oder LGBT-Rechten eine liberale Haltung einnehme.
Meloni zwischen allen Stühlen?
Die Entwicklungen der letzten Wochen führt zu der Frage: Wo verorten sich künftig Melonis Fratelli d‘Italia, die laut jüngster Meinungsumfragen mit 30 Prozent unangefochten Italiens stärkste politische Formation sind und – auch angesichts derzeit mangelnder Alternativen – das Mitte-Rechts-Lager anführen? Knapp zwei Jahre nach der Übernahme der Regierung steht die überwiegend realpolitisch agierende Partei zwei ehrgeizigen Koalitionspartnern gegenüber: während Forza Italia das bürgerlich-liberale Feld erneut anspricht, setzt die Lega auf nationaler Ebene auf einen europaskeptischen und russlandfreundlichen Kurs.
Für die Fratelli d’Italia wäre es indes eine Option, sich als bestimmende Kraft des bürgerlich-konservativen Lagers in Italien zu definieren und die Strategie fortzusetzen, weiter in die politische Mitte zu rücken. Gleichzeitig wollen sie aber ihre ultra-rechte Stammwählerschaft nicht verprellen. Die kürzlich ans Licht gekommenen Chat-Verläufe von Mitgliedern der Parteijugend zeigen, dass Antisemitismus, Rassismus und Witze über Behinderte offenbar keine Einzelfälle sind. Ein wirkliches Machtwort Melonis blieb bislang aus.
Auf europäischer Ebene ist die Parteienfamilie ECR, deren Vorsitzende Meloni ist, nach dem Auszug mehrerer Parteien geschwächt. Es stellt sich die Frage, wie sich die ECR künftig gegenüber der erstarkten EVP und den neugegründeten „Patrioten“ positionieren wird. Gleichzeitig müssen sich die Fratelli fragen, wie verlockend eine dauerhafte Partnerschaft mit der polnischen PiS ist – zumal es zwischen den beiden Partnerparteien etwa bei Migrationsverteilung oder Finanzfragen immer wieder Hauskrach gibt.
Doch in Zeiten von rasendem Populismus und Extremismus jeglicher Couleur kann man sich heute auf politische Logik und Vernunft nicht mehr unbedingt verlassen. War Melonis wirklich gut mit ihrer Entscheidung beraten, gegen die alte und neue Kommissionspräsidentin zu votieren? Oder hat sie damit ihr Land in die zweite Reihe Europas katapultiert, wie ihr Kritiker vorhalten? Hat sich die sonst so gewiefte Taktikerin der Macht vergaloppiert? Eigentlich, so hatte sie das Mantra seit Amtsantritt stets wiederholt, wollte sie in der „Regiekabine“ Europas sitzen. Das könnte sie sich vorerst verbaut haben. Am Beginn der römischen Sommerpause bleiben viele Fragen offen. Vieles dürfte zudem von den künftigen internationalen Entwicklungen abhängen, und die sind unvorhersehbarer denn je.
Autoren:
Michael Feth ist freier Korrespondent inRom und Vatikan-Experte.
Nino Galetti leitet seit 2020 das Büro der Konrad-Adenauer-Stiftung in Rom mit Zuständigkeit für Italien, Malta und den Heiligen Stuhl.
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