Länderberichte
Bewertung der Ausgangssituation
Grundsätzlich steht Kenia aktuell in einem Konflikt zwischen Legalität und Legitimität: Dass Uhuru Kenyattas Wahl entsprechend den Gesetzen Kenias als legal angesehen werden kann, lässt sich kaum noch bezweifeln. Schon bei der später annullierten Wahl am 8. August 2017 hat Kenyatta offenbar eine klare Mehrheit der Stimmen erhalten, was auch vom Verfassungsgericht nicht direkt in Frage gestellt wurde. Dieses annullierte die Wahlen wegen multipler Formfehler, vor allem bei der Übermittlung und Verrechnung der Wahlergebnisse. Dass damit das auf dieser Grundlage übermittelte Ergebnis nicht gültig sein konnte, liegt auf der Hand und ist juristisch sicher korrekt. Dem widerspricht aber nicht, dass die Wahlbeobachtungsmissionen mit ihren eigenen Beobachtungsmethoden, ohne auf die fehlerhaften Übertragungs- und Verrechnungsmethoden zurückzugreifen, auf ein Ergebnis kamen, das ebenfalls einen relativ klaren Sieg Kenyattas aussagt.
Zur zweiten Wahl am 26. Oktober trat die Opposition dann nicht mehr an (zu den Gründen siehe Erläuterungen weiter unten). Dass Kenyatta somit diese Wahl klar gegen die sechs verbliebenen Kandidaten gewann, die im ersten Wahlgang insgesamt weniger als 1 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen konnten, stand nie in Frage. Nachdem das Verfassungsgericht dieser Wahl bescheinigte, dass sie in Ordnung war, konnte Kenyatta vereidigt werden, womit alle formalen Voraussetzungen für eine weitere Amtszeit vorlagen.
Die oben dargelegte Einschätzung würde jedoch von einem nicht unerheblichen Teil der kenianischen Bevölkerung als legalistisch, zynisch und faktisch falsch abgelehnt. Für diese Haltung gibt es handfeste Gründe, die nicht ignoriert werden können: So stellte z.B. die EU-Wahlbeobachtermission fest, dass die Regierung in erheblichem Ausmaße staatliche Ressourcen für den Wahlkampf einsetzte. Hierbei geht es nicht nur um Wahlplakate, sondern um konkrete Investitionen in Oppositionshochburgen knapp vor den Wahlen, womit in Kenia traditionell Wählerschichten erschlossen werden. Vor und während den Wahlen gab es daneben massive Einschüchterungsversuche gegen Justiz und Oppositionskandidaten, welche zwar nicht direkt der Regierung zugewiesen werden können, jedoch klar der Opposition schadeten. So wurde z.B. am Tag vor den Neuwahlen der Dienstwagen eines Verfassungsrichters beschossen. Der sich nicht nur dadurch manifestierende Druck auf die Richter wurde so groß, dass die Richter nicht mehr im Gericht erschienen. Eine Sitzung zu einer Eilentscheidung über die Rechtmäßigkeit der Wahlen konnte so aufgrund des verfehlten Quorums nicht abgehalten werden.
Dies zeigt, dass die Entscheidung der Opposition, die Wahl nicht zu akzeptieren, nicht gänzlich ohne Grundlage ist. Dies wird durch eine starke emotionale Komponente ergänzt, gespeist durch ein Gefühl historischer Ungerechtigkeit. Heute gilt es als Fakt, dass Raila Odinga die Wahlen 2007, die in Blutvergießen und einer Machtteilung mit Vorteilen für Präsident Kibaki endeten, eigentlich gewonnen hatte. Auch für die Wahlen 2012, die Kenyatta offiziell im ersten Wahlgang mit absoluter Mehrheit gewonnen hat, zeigen Analysen von Wahlbeobachtungsmissionen, dass hier zumindest ein zweiter Wahlgang nötig gewesen wäre, bei welchem Odinga gute Siegchancen gehabt hätte. Für die von Odinga repräsentierte Volksgruppe der Luo, zusammen mit ihren wichtigsten Verbündeten, den Luhya, verfestigt sich damit die Ansicht, dass es für sie nicht möglich ist, durch Wahlen die Macht zu erlangen. Für sie ist es eine sich perpetuierende historische Ungerechtigkeit, dass ihre Vertreter Kenia nie regiert haben.
Da schon vor den Wahlen Diskussionen um die Struktur der Wahlkommission, die Auszählungsmodalitäten und verfassungsmäßige Grundlagen von beiden Lagern anhand von nicht nachprüfbaren und sehr selektiv ausgewählter Fakten geführt wurden, entstand auf beiden Seiten eine eigene Erzählung, die nun durch selten nachprüfbare Argumente aufgegriffen wird und dazu führt, dass die gegensätzlichen Lager völlig unterschiedliche Wahrnehmungen der tatsächlichen Situation haben. Für einen Großteil der Luos und deren Verbündeten in den Regionen um den Victoriasee und an der Küste, welche gut ein Drittel der kenianischen Bevölkerung ausmachen, ist es daher eine Tatsache, dass Kenyatta die Wahlen „gestohlen“ habe. Daher wird es als völlig richtig angesehen, dass sich dem auch mit in der Verfassung nicht vorgesehenen Mitteln entgegengesetzt wird.
Der Weg zu Odingas Vereidigung
Nach der Annullierung der Präsidentenwahlen im August forderte das Oppositionsbündnis National Super Alliance (NASA) umfangreiche Reformen im Wahlablauf und eine komplett neue Wahlkommission als Voraussetzung für die Abhaltung der neu angesetzten Wahlen. Dies war eine politisch nötige Forderung, um die Linie beizubehalten, dass die Kommission Komplize bei der Manipulation der Wahlen war. Diese verliert aber einen großen Teil ihrer Glaubwürdigkeit, wenn man sich vor Augen hält, dass Wahlkommission und einige Ausführungsgesetze nach intensiven Auseinandersetzungen darüber Mitte 2016 in Verhandlungen zwischen NASA und Jubilee reformiert wurden. Das System, nach dem nun gewählt wurde, wurde also von beiden Seiten beschlossen. Daneben hatte auch das Verfassungsgericht die Wahl ausdrücklich nicht wegen flächendeckender Manipulation sondern wegen einer Häufung von Formfehlern annulliert, welche nicht zwangsläufig absichtlich begangen wurden. Drittens war es auch praktisch nicht machbar, innerhalb der von der Verfassung vorgegebenen Frist von sechs Wochen das Wahlprozedere zu ändern.
Die NASA nutzte aber die – zumindest aus Sicht ihrer Anhänger auch gut nachvollziehbare – Argumentation, dass mit dieser Wahlkommission auch im zweiten Anlauf keine faire Wahl möglich sei, um knapp zwei Wochen vor den Wahlen ihren Boykott zu verkünden.
Da es weder gelang, die Wahlen juristisch zu verhindern, noch sie in so starkem Ausmaße zu boykottieren, dass kein sinnvolles Ergebnis resultierte, brauchte man einen Alternativplan, um gegen die sich etablierende gewählte Regierung vorzugehen.
Neben dem parlamentarischen Weg – die NASA Parlamentarier boykottieren bis heute die meisten Sitzungen, was gerade zu Beginn zu Problemen bei der Besetzung von Ausschüssen führte – versuchten NASA-Strategen eine parallele Legitimation für ihren Spitzenkandidaten Raila Odinga aufzubauen. Dies sollte über die nicht in Zweifel stehende Legalität der Parlamente der 47 Counties geschehen. Denn in ihren Hochburgen hat die NASA Mehrheiten in diesen Parlamenten und stellt in 16 Counties die Gouverneure.
So sollte in jedem der NASA-Counties durch die Parlamente eine lokale „Peoples‘ Assembly“ gegründet werden, welche Delegierte in die nationale „Peoples‘ Assembly“ entsenden sollte, welche dann die Legitimitätsgrundlage für die Ausrufung Raila Odingas als „Peoples‘ President“ sein sollte. Diese lokalen Assemblies wurden tatsächlich auch unter großer medialer Aufmerksamkeit gegründet und von der Regierung ernst genommen, was die intensive juristische Auseinandersetzung mit diesen belegt.
Am Ende wurde diese gut durchdachte Struktur nicht durchgehalten. Eine nationale Peoples‘ Assembly tagte nie, stattdessen wurde für den 30. Januar die Vereidigung Raila Odingas als „President of the Republic of Kenya“ angekündigt. Legitimationsgrundlage waren nun einige Tage vorher von der NASA veröffentlichte Ergebnisse der Wahlen im August, nach welchen Odinga eine Mehrheit erhalten hätte.
Der Vereidigung gingen intensive Verhandlungen voraus. Bis zum Tag der Vereidigung selbst wurde von vielen Beobachtern in Zweifel gezogen, ob die NASA wirklich auf eine Vereidigung hinarbeite oder dies nicht doch ein Manöver zur Verbesserung der Verhandlungsposition sei. Diplomatenkreise bestätigten, dass es Verhandlungen zumindest der NASA-Partner Odingas mit Regierungsvertretern gäbe. Dass die Kabinettsliste der Regierung Kenyatta II bis einige Tage vor dem Termin der Vereidigung noch viele Lücken aufwies, wurde so gedeutet, dass man Positionen für NASA-Minister frei halte. Auch viele Botschafter brachten sich in Verhandlungen ein und übten offenbar auch nicht unerheblichen Druck auf die NASA-Anführer aus, das sehr riskante Spiel der Vereidigung zu unterlassen.
Als der Termin der Vereidigung ohne Lösung näher rückte und sich die Fronten eher verhärteten, stellte man sich auf das Schlimmste ein. NASA schien nicht von dem Vorhaben abzurücken, zehntausende Unterstützer im zentralen Uhuru Park in Nairobi zu versammeln; in Bussen wurden Unterstützer aus den Oppositionshochburgen Kisumu und Mombasa hergebracht. Die Polizei kündigte gleichzeitig an, niemanden in den Park zu lassen und riegelte ihn ab dem Vortag ab. Großflächige gewaltsame Unruhen schienen sehr wahrscheinlich.
Der Tag der Vereidigung begann mit einem überraschenden Signal der Entspannung: Gegen acht Uhr wurden die Sicherheitskräfte vom Uhuru Park abgezogen, die auf die Zeremonie wartende Menge konnte sich ungestört versammeln. Gegen elf Uhr sah dann diese Menge aber nicht die Vertreter aller vier Parteien, aus welchen die NASA besteht, sondern nur Raila Odinga. Auch Kalonzo Musyoka, der gleichzeitig als Vizepräsident vereidigt werden sollte, fehlte. Raila sprach die Vereidigungsformel und war auch schnell wieder verschwunden. Programmatische Aussagen oder andere Hinweise auf die politische Zukunft unter seiner „Präsidentschaft“ blieben aus. Entsprechend enttäuscht verließen die Anhänger den Park, es kam zu keinen nennenswerten Zusammenstößen.
Steht eine Spaltung der NASA bevor?
In den Tagen darauf ließen Anhänger Odingas kein gutes Haar an den bisherigen Partnern Moses Wetangula (Ford-Kenya), Musalia Mudavadi (ANC) und Kalonzo Musyoka (Wiper). Die Bezeichnung als Feigling gehörte dabei noch zu den netteren Benennungen. Warum die drei nicht zu der Zeremonie gekommen waren, ist bis heute nicht endgültig geklärt. Am wahrscheinlichsten ist hier eine Mischung aus internationalem Druck und Unzufriedenheit über den Führungsstil Odingas. Auch wenn NASA als Allianz weiterhin existiert und eine Vereidigung Wetangulas als Odingas Vizepräsident immer wieder angekündigt wird, scheint die NASA nun nicht mehr viel mehr als ein leerer Mantel zu sein. Die Verletzungen innerhalb der Allianz scheinen zu tief zu sein, als dass eine vertrauensvolle Kooperation noch möglich wäre. Eine formale Auflösung der NASA mag nach außen hin vermieden werden, doch Diskussionen um Leitungspositionen im Parlament und um Positionierungen in Blick auf die nächste Präsidentenwahl zeigen schon jetzt deutlich, dass jede Mitgliedspartei wieder vor allem für sich arbeitet. Für Odinga heißt dies, dass das Konzept des „Peoples‘ Presidents“ weiter entfernt ist als jeher und die Zuweisung aus den sozialen Medien eher passt, laut welcher er als Präsident der Luo bezeichnet wird.
Unverhältnismäßige Reaktion der Regierung
Ein Großteil der Kenianer konnte die Vereidigung Odingas nur über soziale Medien mitverfolgen, denn die terrestrische Übertragung der wichtigsten privaten Fernsehstationen wurde abgeschaltet. Dies geschah auf Grundlage einer Warnung der Regierung, die Vereidigung aus Sorge um die nationale Sicherheit nicht zu übertragen. Es dauerte eine Woche, bis die Signale der Fernsehstationen wieder übertragen wurden.
Dies ist eine Zäsur in der Entwicklung der kenianischen Demokratie, die Abschaltung von Fernsehstationen ist in Kenia völlig unüblich und brachte bei vielen Kenianern Erinnerungen an die Diktatur unter Präsident Moi zum Vorschein. Die Regierung nahm hier nicht den in der Verfassung vorgesehenen Weg, wonach es durchaus auf richterliche Anordnung möglich ist, Fernsehsender daran zu hindern, Gewalt oder Unruhen zu schüren. Daher verwundert es nicht, dass es schon am Tage darauf eine richterliche Anordnung gab, die TV-Signale wieder auszustrahlen – die zuständige Regulierungsbehörde hielt sich aber nicht daran.
Gleichzeitig wurde der Druck auf Angehörige der NASA verstärkt. Staatliches Sicherheitspersonal für Oppositionspolitiker wurde abgezogen, die Reisepässe von 14 NASA-Politikern bzw. Unterstützern wurden eingezogen. Im Zusammenhang mit der Organisation der Vereidigungszeremonie wurden zwei Parlamentsabgeordnete sowie der enge Berater Odingas, Miguna Miguna, welcher in seiner Funktion als Anwalt die Vereidigung Odingas geleitet hatte, festgenommen. Besonders der Fall Migunas schlug hohe Wellen, weil er entgegen einer gerichtlichen Anordnung nicht aus dem Arrest entlassen, sondern nach Kanada ausgewiesen wurde, dessen Staatsbürgerschaft er auch besitzt. Diese Deportation wurde vom High Court als ungesetzmäßig verurteilt. Miguna konnte bisher aber nicht nach Kenia zurückkehren.
Warum die Regierung so hart gegen Medien und Opposition zuschlug und dabei ganz offen Prinzipien des Rechtsstaats missachtete, obwohl die Vereidigung sich als Rohrkrepierer herausgestellt hat und die vor der Spaltung stehende Opposition kaum noch als ernstzunehmender Gegner angesehen werden kann, ist unklar. Es ist nicht auszuschließen, dass die Vereidigung nur als Anlass diente, um ein Zeichen zu setzen, woher der Wind in Kenia zukünftig weht. Ein Blick auf das neue Kabinett, in welchem Kenyatta sich vor allem mit Hardlinern zu umgeben scheint, verstärkt jedenfalls Vermutungen, dass ein stärker autoritärer Weg eingeschlagen werden soll.
Fazit
Trotz der formal recht eindeutigen Lage und trotz der blamablen Vereidigungszeremonie bleibt Kenia über die Frage nach dem rechtmäßigen Präsidenten tief gespalten. Aufgrund der hoch emotionalen Diskussion hierüber und der Existenz verschiedener alternativer Erzählungen ist es kaum möglich, dies anhand nachprüfbarer, rationaler Argumente zu lösen. Es ist also zu erwarten, dass zumindest die Luos für einen längeren Zeitraum Kenyatta nicht als ihren Präsidenten anerkennen werden.
Ob dies praktische Auswirkungen haben wird, ist nicht überaus wahrscheinlich. Die Kenianer sind als pragmatische Menschen bekannt und auch die Luos wollen nach der langen Lähmung durch die Wahlen wieder an ihre Arbeit gehen. Eine aktive Blockade staatlicher Institutionen in Luo-Hochburgen, also vor allem am Viktoriasee, würde dem widersprechen. Daneben scheint die NASA und auch Odinga selbst so stark geschwächt, dass ein Aufbau eigener staatlicher Strukturen bis hin zu einem eigenen Staat kaum möglich scheint.
Trotzdem sollte nicht ignoriert werden, dass ein nicht zu vernachlässigender Teil der kenianischen Bevölkerung sich durch die aktuelle Regierung nicht repräsentiert sieht. Dies sollte gerade von westlichen Partnern nicht auf die leichte Schulter genommen werden. Denn auch wenn sich die Opposition dilettantisch aufgeführt haben mag und dabei kein sonderlich hochstehendes Verständnis von demokratischen Prinzipien gezeigt hat, sind die noch in der NASA vereinigten Oppositionsparteien auf mittlere Sicht die einzigen Alternativen zur sich immer ungenierter autoritär gebärdenden Regierung unter Präsident Kenyatta.
Bereitgestellt von
Auslandsbüro Kenia
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