Wieviel Programm braucht die CDU?
Ludwigshafen sollte ein Parteitag der Superlative werden und der CDU Zuversicht und Selbstvertrauen zurückgeben. Seit nunmehr neun Jahren verharrte die Union in der Opposition und hatte zuletzt bei der Bundestagswahl 1976 die absolute Mehrheit um nur sechs Mandate verpasst. Das in Ludwigshafen verabschiedete Grundsatzprogramm sollte aus Sicht des CDU-Generalsekretärs Heiner Geißler die grundlegende geistige Erneuerung der CDU dokumentieren.
Die Frage, ob und wieviel Programm die CDU denn brauche, war dabei lange umstritten. So lebte die CDU während der Ära Adenauer vor allem von den politischen Ideen Soziale Marktwirtschaft, Westbindung und europäische Integration sowie deren Umsetzung in die praktische Politik. Programmatische Festlegungen über die christliche Weltanschauung hinaus schienen lange Zeit vernachlässigbar. Erst in den 1960er Jahren setzte mit dem in der Partei beginnenden Generationenwechsel verstärkt ein Umdenken ein, und als die Union nach der Bundestagswahl 1969 erstmals auf die harten Bänke der Opposition verwiesen wurde, schenkte man der Programmarbeit noch mehr Aufmerksamkeit. Doch weder das „Berliner Programm“, das auf dem Parteitag im November 1968 verabschiedet worden war, noch die in Düsseldorf 1971 verabschiedete überarbeitete 2. Fassung des Berliner Programms konnten das Bedürfnis nach programmatischer Vergewisserung und Erneuerung stillen. So waren die beiden Programme auch gar nicht als „Grundsatzprogramme“ angelegt, sondern stellten vielmehr „Aktionsprogramme“ dar mit einem konkreten politischen Maßnahmenpaket.
Programmarbeit in der Opposition
Im Herbst 1971 schlug der CDU-Vorsitzende Rainer Barzel die Einsetzung eines fünfköpfigen Grundsatzausschusses vor, der in engem Kontakt mit der Wissenschaft die für die Politik relevanten neu auftretenden Fragen erfassen und dem Vorstand Handlungsvorschläge erarbeiten sollte. Darüber hinaus erhielt der Ausschuss den Auftrag, sich mit den Grundsätzen der Partei zu befassen und deren Verwirklichung durch die praktische Politik zu erörtern. Einen Zwischenbericht erstattete der Ausschuss, der sich unter der Leitung von Richard von Weizsäcker als Grundsatzkommission konstituiert hatte, auf dem Bundesparteitag in Wiesbaden im Oktober 1972. An die Ausarbeitung eines Grundsatzprogramms dachte zu dieser Zeit aber noch niemand.
Erst die erneute Niederlage bei der Bundestagswahl 1972 brachte den Vorsitzenden Barzel zu dem Eingeständnis, dass die CDU irgendwann in den 1960er Jahren die geistige Führung verloren und auf die gesellschaftlichen Veränderungen nicht rechtzeitig reagiert habe. So gelte die CDU trotz aller gesellschaftspolitischer Initiativen, die sie angeregt hatte, als rückständige, bisweilen sogar als reaktionäre Partei. Einigkeit herrschte, dass sich die Partei nicht mehr allein auf ihre in den 1950er und 1960er Jahren erbrachten Leistungen berufen könne, sondern die gesellschaftlichen Veränderungen aufnehmen, politisch verarbeiten und insbesondere für bislang vernachlässigte Gruppen – Intellektuelle, junge Menschen, Arbeiter und Frauen – attraktiver werden müsse. Die Programmarbeit gewann damit an Fahrt.
Ein Grundsatzprogramm für die CDU
Auf dem Bundesparteitag im November 1973 in Hamburg, der unter der Leitung des neugewählten Vorsitzenden Helmut Kohl stattfand, erstattete von Weizsäcker für die Grundsatzkommission zum zweiten Mal Bericht. So sei die Programmarbeit in der Partei und ihren Gliederungen sehr positiv aufgenommen und mit vielen Beiträgen bereichert worden. Zahlreiche Kreis- und Landesverbände sowie die Vereinigungen hätten sich mit eigenen Veranstaltungen an der Grundsatzdebatte beteiligt. Das ernsthafte Bedürfnis nach Orientierung zeige jedoch, dass es allein mit Kommissionsberichten, Veranstaltungen und Broschüren nicht getan sei. Stattdessen plädierte er für die Ausarbeitung eines Grundsatzprogramms: „Denn wir stehen ja immer vor neuen Herausforderungen der Technik und der Wissenschaft, der wirtschaftlichen Dynamik und der sozialen Entwicklung. Unter ihrem Einfluss wandeln sich unsere Lebensbedingungen ständig. Auf diesen Wandel dürfen wir nicht nur reagieren, wir müssen ihn politisch gestalten, und dazu bedürfen wir des Antriebs und der Leitlinien verbindlicher Grundsätze.“ Mit breiter Mehrheit stimmte der Parteitag für die Ausarbeitung eines Grundsatzprogramms.
Von März 1974 an arbeitete die Grundsatzkommission zwei Jahre an einem Programmentwurf. So wie es Kohl selbst auf dem Hamburger Parteitag gefordert hatte, wurden zu den Programmdebatten immer wieder auch Wissenschaftler zu den verschiedenen Themenbereichen hinzugezogen, was eine echte Neuerung darstellte. Im April 1976 konnte eine erste Vorlage veröffentlicht werden, die in modifizierter Form im September in Berlin von rund 600 Wissenschaftlern, Vertretern gesellschaftlicher Gruppierungen und Parteimitgliedern diskutiert wurde.
Das Grundsatzforum wurde von Kohl im Nachgang als „rundum gelungenes Experiment“ bezeichnet, es offenbarte aber auch den Dissens, der innerhalb der CDU über den Programmentwurf herrschte. Kritik kam insbesondere von Generalsekretär Kurt Biedenkopf, der die wirtschaftspolitischen Artikel des Entwurfs beanstandete. Seine Äußerungen führten dazu, dass die entsprechenden Kapitel in den kommenden Monaten einer umfassenden Revision unterzogen wurden und ordoliberale Positionen stärkere Berücksichtigung fanden. Auf dieser Grundlage verabschiedete der Bundesvorstand am 11. Mai 1978 einstimmig den Entwurf für das Grundsatzprogramm „Freiheit, Solidarität, Gerechtigkeit“. Auf dem für Oktober geplanten Parteitag in Ludwigshafen sollte der Entwurf die Zustimmung der Parteibasis finden.
Parteitag in Ludwigshafen
Zum Auftakt des Parteitags am 23. Oktober 1978 beschwor Kohl die Delegierten: „Hier in Ludwigshafen werden wir unseren gemeinsamen Standort bestimmen. Am Ende dieser Tage müssen unser Profil klarer, unsere Botschaft überzeugender, unser Wille entschiedener sein.“ Es sei ein Parteitag der Bilanz, des neuen Aufbruchs, der geistigen Mobilisierung. Begeisterungsstürme löste die Rede Geißlers aus, in der er das christliche Menschenbild als obersten Grundwert der Union bezeichnete und die CDU mahnte, den Mut aufzubringen, Gott wieder in ihrem Parteiprogramm zu nennen. So hieß es auch in der Präambel des Grundsatzprogramms: „Die Politik der CDU beruht auf dem christlichen Verständnis vom Menschen und seiner Verantwortung vor Gott.“
In sechs Kapiteln legte die CDU ihr Verständnis vom Menschen (Kapitel 1) dar und beschrieb die dem Programm namensgebenden Grundwerte Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit (Kapitel 2). Diese müssten immer gleichberechtigt nebeneinander stehen. Aufgabe der Politik sei es, das Verhältnis dieser Grundwerte zueinander stets so zu gestalten, dass sie zusammen ihre humane Wirkung entfalteten. Freiheit sei für die CDU dabei aber immer eine selbst verantwortete Freiheit. Solidarität bedeute, füreinander einzustehen. Mit Gerechtigkeit sei keine Gleichbehandlung aller Menschen gemeint, ungeachtet ihrer unterschiedlichen Anlagen und Bedürfnisse. Vielmehr, so Geißler, ginge es darum, allen Menschen die Chance zu eröffnen, sich frei zu entfalten.
Das dritte Kapitel widmete sich denn auch ausführlich der Entfaltung der Person, wobei der Familie als Fundament der Gesellschaft eine entscheidende Rolle beigemessen wurde. Es wurden ein Erziehungsgeld und die Berücksichtigung von Erziehungsjahren bei der Rente gefordert. Unter dem Punkt „Arbeit und Freizeit“ wurde ein „Freiheitsrecht auf Arbeit“ festgeschrieben.
Am umfangreichsten wurde im Kapitel vier die Soziale Marktwirtschaft behandelt, die sich – so das Programm – an neue wirtschaftliche und soziale Bedingungen anpassen müsse. Dabei müssten die Bedürfnisse des Menschen in den Mittelpunkt gestellt und auch Erwartungen miteinbezogen werden, die über den materiellen Wohlstand hinausgingen. Die Soziale Marktwirtschaft sollte vor diesem Hintergrund auch auf andere Bereiche wie das Gesundheits- oder das Bildungswesen angewandt und mit ökologischen Erfordernissen in Einklang gebracht werden. Dem Umweltschutz wurde generell große Bedeutung beigemessen und als wichtige konservative Zukunftsaufgabe ausgewiesen. Auch die Neue Soziale Frage, die seit Mitte der 1970er Jahre von Heiner Geißler propagiert wurde und die Bedürfnisse und Interessen nicht-organisierter Bevölkerungsgruppen in den Mittelpunkt stellte – Arbeitslose, Frauen und alte Menschen –, wurde hier thematisiert.
Das vierte Kapitel blieb nicht unumstritten. Zum Konflikt zwischen Biedenkopf und den Sozialausschüssen kam es um die Forderung nach Arbeitszeitverkürzung als Mittel zur Beseitigung der Arbeitslosigkeit. Im Programm setzte sich schließlich der Kompromiss durch, dass Verkürzungen der Arbeitszeit im Einklang mit Wachstum und Vollbeschäftigung zu stehen haben. Auch das in Kapitel drei geforderte „Recht auf Arbeit“ führte zu Diskussionen und wurde schließlich in abgeschwächter Form als „Freiheitsrecht auf Arbeit“ festgeschrieben.
Kaum Debatten löste dagegen das Kapitel fünf aus, in dem die CDU ihre Auffassung „vom Wesen des Staates“ und dessen Aufgaben umschrieb. Die Rolle von „Deutschland in der Welt“ thematisierte das abschließende Kapitel sechs. Die CDU nahm Stellung zu den Ostverträgen und zum Grundlagenvertrag mit der DDR. Klar bekannte sich die Partei zur europäischen Integration und zum Ziel der Politischen Union.
Standortbestimmung und Integration
Mit den gesetzten Schwerpunkten und Themen musste das Programm verschiedene Funktionen erfüllen. So ging es zum einen darum, den geistigen Standort der Partei zu finden und zu überprüfen, ob die für die Gründung der Union konstitutiven Ideen noch Gültigkeit besaßen oder an die Erfordernisse der 1970er Jahre angepasst werden mussten. Das Programm definierte erstmals die Grundwerte Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit und stellte ihre Anwendung auf die verschiedenen Bereiche der Politik dar. Damit einher ging das Ziel, sich neuen Gruppen zu öffnen: Gerade junge Menschen und Frauen, die seit Mitte der 1960er Jahre im Mittelpunkt der gesellschaftlichen Veränderungen standen, sollten angesprochen werden. Schließlich wurde dem Programm eine integrierende Funktion beigemessen. Auch wenn Kohls Feststellung, dass es in der CDU keine Flügelkämpfe gebe, vielleicht zu optimistisch war, so gab es in Ludwigshafen doch keine Grabenkämpfe zwischen den Parteiflügeln, wie es sie noch um die Frage der Mitbestimmung auf den Parteitagen 1971 in Düsseldorf und 1973 in Hamburg gegeben hatte.
Zum Abschluss des Parteitags erklärte Kohl, dass es nun, nach der einstimmigen Verabschiedung des Programms, darauf ankäme, es auch in der praktischen Politik anzuwenden und neue Prioritäten zu setzen. Tatsächlich stand das Grundsatzprogramm schon am Tag nach seiner Verabschiedung in der Kritik. Das Grundsatzprogramm der CDU – Ergebnis siebenjähriger Arbeit – verschwand vorerst in der Schublade. Dass „Ludwigshafen“ zunächst schnell vergessen war, lag nicht zuletzt auch daran, dass der Kanzlerkandidat der Union, Franz Josef Strauß (CSU), von der Programmarbeit der Schwesterpartei ohnehin wenig gehalten hatte und bei der Bundestagswahl 1980 seine eigene Agenda verfolgte, die mit dem Geist von Ludwigshafen nur wenig zu tun hatte. Erst mit Strauß´ Scheitern konnte Kohl seinen am Konsens orientierten Reformkurs fortführen und auch programmatisch an Ludwigshafen anknüpfen.
Die Bedeutung von Ludwigshafen
Heute gehört das Grundsatzprogramm von 1978 zu den zentralen Wegmarken der Unionsgeschichte. So liegt die Bedeutung des Programms zum einen in seiner Entstehungsgeschichte. Bis heute ist die breite Partizipation auf allen Ebenen der Partei und in ihren Vereinigungen sowie die Einbeziehung der Wissenschaft und gesellschaftlicher Gruppen ein einzigartiger Prozess. Zum anderen werden in Ludwigshafen erstmals die Grundwerte der Partei – Freiheit, Solidarität, Gerechtigkeit – kodifiziert. Sie sind bis heute Kern des Selbstverständnisses der CDU. So steht es im Grundsatzprogramm von 1994 wie auch im bis heute gültigen aus dem Jahr 2007: Ausgehend vom christlichen Menschenbild leiten sich unsere Grundwerte Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit ab. Sie erfordern, begrenzen und ergänzen einander und sind gleichrangig. Ihre Gewichtung untereinander sinnvoll zu gestalten, sei unsere Aufgabe und Kern der politischen Auseinandersetzung. Die Grundwerte als unteilbare Menschenrechte gelten universell und über unsere nationalen Grenzen hinaus.
In dem Entwicklungsprozess der CDU von der Honoratioren- und Wählerpartei der 1950er und 1960er Jahre zu einer modernen Volkspartei der Mitte ist der Ludwigshafener Bundesparteitag von 1978 ein entscheidender Schritt. So urteilte auch die Welt in ihrer Ausgabe vom 26. Oktober 1978: „In Ludwigshafen hat sich die CDU als eine in sich gefestigte Mitgliederpartei dargeboten, die ihre Programmatik breit zu diskutieren und dann durch Mehrheitsentscheidungen zu normieren versteht. Wer jetzt noch von einem Wählerverein spricht, meint allenfalls die CDU von vorgestern.“
Literatur:
- Bösch, Frank: Die Krise als Chance. Die Neuformierung der Christdemokraten in den siebziger Jahren, in: Konrad H. Jarausch (Hg.): Das Ende der Zuversicht? Die siebziger Jahre als Geschichte. Göttingen 2008, S. 296–309.
- Bösch, Frank: Macht und Machtverlust. Die Geschichte der CDU. München 2002.
- Buchstab, Günter: Politik an Werten orientieren. Zur Geschichte der CDU-Grundsatzprogramme, in: Die Politische Meinung 437 (April 2006), S. 14–18.
- Kleinmann, Hans-Otto: Geschichte der CDU. Stuttgart 1993.
- Schönbohm, Wulf: Die CDU wird moderne Volkspartei. Selbstverständnis, Mitglieder, Organisation und Apparat 1950-1980 (Forschungen und Quellen zur Zeitgeschichte, Reihe B: 7). Stuttgart 1985.