Neue Impulse nach Scheitern der EVG
Für Konrad Adenauer war es ein schwerer Schlag, als am 30. August 1954 die Europäische Verteidigungsgemeinschaft und der damit verbundene Plan einer Europäischen Politischen Gemeinschaft in der französischen Nationalversammlung zu Fall kamen – waren doch die europäische Einigung und damit verbunden die wirtschaftliche, politische und militärische Integration der Bundesrepublik als Voraussetzung für die Wiedervereinigung Kernanliegen seiner Politik.
Zwischen dem Präsidenten der Hohen Behörde der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS), Jean Monnet, dem belgischen Außenminister Paul Henri Spaak und seinem niederländischen Amtskollegen Jan Willem Beyen herrschte nach diesem Rückschlag für die europäische Idee weitgehend Einigkeit darüber, möglichst schnell eine neue Initiative zu ergreifen und damit der politischen und wirtschaftlichen Integration weitere Anstöße zu geben. Wichtig war jedoch ein behutsames Vorgehen, bei dem Frankreichs Integrationsbereitschaft nicht überreizt wurde. Es musste ein Projekt gefunden werden, das ohne große Widerstände gelingen würde.
Nach dem Fehlschlag der politischen Integration sollte daher der Weg über die wirtschaftliche Zusammenarbeit eingeschlagen werden, um dann, langfristig, zur politischen Einigung zu kommen. Offen war dabei die Frage, welchem Integrationsmodell man den Vorrang geben wollte. Im Kern gab es drei verschiedene Ansätze:
- Eine Erweiterung der Zuständigkeiten der EGKS auf die übrigen Energiebereiche, einschließlich der Atomenergie, und die Verkehrspolitik. Dieser Ansatz einer sektoralen Teilintegration wurde von Spaak und Monnet vertreten. Unterstützung fanden sie bei Walter Hallstein, Staatssekretär im Auswärtigen Amt, und Carl Friedrich Ophüls, Leiter der Europa-Abteilung im Auswärtigen Amt. Zwar hatten sie lange an dem Projekt einer politischen Union festgehalten. Im Frühjahr 1955 hielten Hallstein und Ophüls die Ausdehnung der EKGS auf andere Bereiche dann aber unter den gegebenen Umständen für einen realistischen und pragmatischen Ansatz, um langfristig noch zu einer institutionellen Integration zu kommen.
- Eine gesamtwirtschaftliche Integration mit dem Ziel, einen gemeinsamen Markt mit dem Kern einer Zollunion und einer supranationalen Behörde zu schaffen. Dieses Modell wurde von Beyen favorisiert. Eine ähnliche Position vertrat auch eine Gruppe um Ministerialdirigent Hans von der Groeben, Leiter der Schuman-Plan-Abteilung im Bundeswirtschaftsministerium, die für eine wirtschaftliche Gesamtintegration in einem gemeinsamen Markt eintrat und somit die funktionale Integration durch weitere institutionelle Vorkehrungen abstützen wollte.
- Eine rein funktionale Integration, die in erster Linie auf die Schaffung einer Freihandelszone abzielte oder zumindest weitreichende Liberalisierungen ermöglichte. Dafür sprach sich der deutsche Bundeswirtschaftsminister Ludwig Erhard aus, der fürchtete, dass die Lenkung durch supranationale Institutionen zu wirtschaftlichem Protektionismus und Dirigismus führen werde. Einen Mitstreiter fand Erhard in dem für Atomfragen zuständigen Sonderminister Franz Josef Strauß, der insbesondere die Einrichtung einer gemeinsamen Atombehörde und die damit verbundenen Diskriminierungen Deutschlands beim Zugang zu spaltbarem Material ablehnte.
Messina, Spaak-Bericht und Venedig
Auf der Konferenz der EGKS-Außenminister am 1./2. Juni 1955 in Messina wurde schließlich der Grundstein für die „relance européenne“ gelegt. Wohl wissend um die gegensätzlichen Ansätze zur Fortsetzung der Integration, wurden hier noch keine Entscheidungen über den einzuschlagenden Weg getroffen, sondern nur die Einsetzung einer Experten-Kommission beschlossen. Die Spaak-Kommission, benannt nach ihrem Vorsitzenden, wurde beauftragt, alle Möglichkeiten der wirtschaftlichen Integration zu prüfen, aber noch keine konkreten Vertragsverhandlungen zu führen. Nach zähen Beratungen einigten sich die Mitglieder schließlich, in ihrem Bericht den Aufbau einer Atombehörde und eines gemeinsamen Marktes zu empfehlen. Einer bloßen Freihandelszone oder sektoralen Ausweitung der EGKS erteilten sie damit eine Absage. Am 29./30. Mai 1956 kamen die Außenminister der Sechs in Venedig überein, auf Grundlage des sog. Spaak-Berichts Verhandlungen über die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und Euratom aufzunehmen.
Die grundsätzliche Entscheidung für den gemeinsamen Markt war damit gefallen. Aufgrund der unterschiedlichen Interessenlage in Deutschland und Frankreich gestalteten sich die weiteren Beratungen dennoch schwierig. Wohl hatte sich der Machtwechsel in Frankreich positiv ausgewirkt: Nach dem Sturz der Regierung unter Edgar Faure im November 1955 hatte mit dem Sozialisten Guy Mollet ein Ministerpräsident sein Amt angetreten, der die Verträge nicht scheitern lassen wollte. Da die Franzosen Teile der eigenen Wirtschaft jedoch noch nicht für wettbewerbsfähig hielten und zudem Einschnitte bei den staatlichen Sozialleistungen befürchteten, war eine Mehrheit in der französischen Nationalversammlung für den gemeinsamen Markt mehr als fraglich.
Aus diesem Grund setzte sich Mollet dafür ein, zunächst nur einen Vertrag über Euratom abzuschließen, wofür in Frankreich eine breite Mehrheit bestand, um dann, nach dem erhofften Meinungsumschwung, auch ein positives Votum für den gemeinsamen Markt zu erreichen. An die Zustimmung für den gemeinsamen Markt knüpfte Mollet zudem weitreichende Forderungen. Im Mittelpunkt standen dabei Wettbewerbserleichterungen und Harmonisierungen im sozialen Bereich sowie die Einbeziehung der französischen Überseegebiete.
Die Verhandlungspartner zeigten für die innenpolitische Lage Mollets aber nur wenig Verständnis. Namentlich Deutschland, das die Atombehörde lediglich als Preis für den gemeinsamen Markt tolerierte, pochte auf das Junktim zwischen dem gemeinsamen Markt und Euratom. Die Forderung nach Einbeziehung der Überseegebiete wurde insbesondere von Wirtschaftsminister Erhard zurückgewiesen – für die französischen Kolonien solle nicht die Bundesrepublik aufkommen. Adenauer sah hier hingegen eine Chance für die exportorientierte deutsche Wirtschaft, neue Absatzmärkte zu erschließen.
Die Suezkrise und die Verhandlungen Adenauer-Mollet
Auch wenn der deutsche Bundeskanzler der Idee eines gemeinsamen Marktes anfangs reserviert gegenüberstand, blieb er in dieser scheinbar ausweglosen Situation entschlossen, die Verhandlungen nicht an den deutsch-französischen Gegensätzen scheitern zu lassen. Für ihn hatte die politische Bedeutung des Unternehmens Vorrang. Auf dem Höhepunkt der Suezkrise beschloss Adenauer, obwohl ihm davon abgeraten wurde, an einer schon länger geplanten Reise nach Paris festzuhalten.
Um den ägyptischen Staatschef Nasser zur Rücknahme der Verstaatlichung der internationalen Suez-Kanal-Gesellschaft zu zwingen, starteten Frankreich und Großbritannien am 5. November 1956 einen militärischen Angriff auf Ägypten. Unter dem vereinten Druck der USA und der Sowjetunion sahen sich die Regierungen Mollet und Eden jedoch nur zwei Tage später gezwungen, das Unternehmen abzubrechen.
Demonstrativ stellte Adenauer sich in dieser Situation hinter Frankreich und Großbritannien und bezog damit auch Position gegenüber den USA. Die Geste des deutschen Bundeskanzlers wurde in der französischen Öffentlichkeit hoch geschätzt und schaffte neues Vertrauen. Hinzu kam, dass sich das Verhältnis zwischen Deutschland und Frankreich seit der Lösung der Saar-Frage im Oktober 1956 ohnehin deutlich verbessert hatte. Mit der Suezkrise wuchs in Frankreich nicht zuletzt auch die Einsicht in die Notwendigkeit einer starken europäischen Gemeinschaft. Die Krise trug damit zu dem von Mollet erhofften Meinungsumschwung bei.
Vor diesem Hintergrund verhandelten im November 1956 der französische Ministerpräsident und der deutsche Bundeskanzler in Paris. Sie erzielten entscheidende Kompromisse und traten dafür ein, von nun an die Verhandlungen zu einem schnellen Abschluss zu bringen. Nach und nach wurden alle noch im Oktober für unüberwindbar gehaltenen Konfliktpunkte ausgeräumt: die Einbeziehung der Landwirtschaft in den gemeinsamen Markt, die noch strittigen Fragen im Bereich der Atomgemeinschaft und der Harmonisierungen sowie die Bestimmungen über die Befugnisse und Entscheidungsmodi der einzelnen Institutionen. Eine letzte Hürde blieb die von Frankreich geforderte Einbeziehung der Überseegebiete in den gemeinsamen Markt, die dank Adenauers Vermittlungskünsten noch genommen werden konnte. Bei der letzten Verhandlungsrunde der Regierungschefs am 19./20. Februar 1957 gab der Bundeskanzler seine Zustimmung zur Schaffung eines Investitionsfonds zur Förderung der Überseegebiete der Mitgliedsländer.
Unterzeichnung der Römischen Verträge
Am 25. März 1957 wurden in Rom die Verträge zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und Europäischen Atomgemeinschaft von den Regierungschefs Belgiens, Frankreichs, Italiens, Luxemburgs, der Bundesrepublik und der Niederlande unterzeichnet. Nach der Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl 1951 machten die sechs Gründungsmitglieder damit den nächsten Schritt auf dem Weg zur Europäischen Union.
In Frankreich wurden die Verträge sogleich der Nationalversammlung zur Ratifizierung vorgelegt, um damit die mögliche Formierung einer Opposition im Keim zu ersticken. Am 9. Juli 1957 stimmte die französische Nationalversammlung mit einer überraschend großen Mehrheit von 342 zu 239 Stimmen für deren Annahme.
Im Deutschen Bundestag wurden die Verträge bereits am 5. Juli 1957 mit den Stimmen der SPD ratifiziert, die damit erstmals den Westkurs Adenauers mittrug. Nach deren Widerstand gegen die EVG, die NATO und die Wiederbewaffnung mussten die Sozialdemokraten den Erfolg der Integrationspolitik Adenauers anerkennen und ihre Opposition aufgeben.
Der Streit um die Westintegration war damit beigelegt und die Phase der Eingliederung abgeschlossen. Auf der europäischen Bühne war die Bundesrepublik ein gleichberechtigter und akzeptierter Partner. Mit den Römischen Verträgen verlor der noch junge Staat nicht Elemente seiner gerade erst gewonnenen Teilsouveränität, sondern verschaffte sich im Gegenteil neuen Handlungsspielraum. Symbolisch dafür war nicht zuletzt die Ernennung Hallsteins zum ersten Präsidenten der EWG-Kommission.
Zum 1. Januar 1958 traten die Verträge in Kraft. Durch die EWG wurde ein gemeinsamer Markt geschaffen, der die sog. „vier Freiheiten“ festschrieb: die Freizügigkeit der Personen und Arbeitskräfte, das freie Niederlassungsrecht, den freien Dienstleistungs- und Kapitalverkehr. Zum Ausgleich zwangsläufig auftretender Ungleichheiten beim Aufbau des gemeinsamen Marktes wurden der Europäische Sozialfonds und die Europäische Investitionsbank eingerichtet. Der gemeinsamen Erforschung und friedlichen Nutzung der Kernenergie diente fortan Euratom.
Den institutionellen Rahmen bildeten die vier Organe, die nach dem Vorbild der Montanunion geschaffen wurden und sowohl intergouvernementale als auch supranationale Elemente enthielten:
- Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften fungierte als Verfassungsgericht für die Auslegung der Verträge, als Schiedsgericht für Streitigkeiten zwischen den Mitgliedern und Organen der Gemeinschaft und als Verwaltungsgericht zum Schutz der Rechte des einzelnen Bürgers.
- Die Beratende Versammlung, deren Mitglieder von den nationalen Parlamenten entsandt wurden, erhielt Beratungs- und Kontrollrechte.
- Im Ministerrat, in dem die jeweiligen Fachminister der Mitgliedstaaten wirkten, fielen die Entscheidungen der EWG. Vor allem für die Übergangszeit war vorgesehen, dass eine große Zahl von Entscheidungen der Einstimmigkeit bedurfte.
- Die Kommission, für die jedes Mitglied zwei Vertreter benannte, war für die Durchführung der Beschlüsse verantwortlich. Sie entwickelte die Gemeinschaft weiter und galt als „Motor“ der europäischen Einigung und „Hüterin der Verträge“. Rat und Kommission sollten zusätzlich von einem Wirtschafts- und Sozialrat unterstützt werden.
Literatur:
- Elvert, Jürgen: Sektorale oder horizontale Integration? Die bundesdeutsche Diskussion zu Beginn der Relance Européenne 1954/55, in: Gehler, Michael: Vom gemeinsamen Markt zur europäischen Unionsbildung. 50 Jahre Römische Verträge 1957-2007, Wien/Köln/Weimar 2009, S. 131-145.
- Küsters, Hanns Jürgen: Der Streit um Kompetenzen und Konzeptionen deutscher Europapolitik 1949-1958, in: Herbst, Ludolf, Bührer, Werner, Sowade, Hanno (Hrsg.): Vom Marshallplan zur EWG. Die Eingliederung der Bundesrepublik Deutschland in die westliche Welt, München 1990, S. 335-370.
- Küsters, Hanns Jürgen: Die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, Baden-Baden 1982.
- Küsters, Hanns Jürgen: Konrad Adenauers und Walter Hallsteins Vorstellungen vom zukünftigen Europa, in: Duchhardt, Heinz (Hrsg.): Europäer des 20. Jahrhunderts, Mainz 2002, S. 91-113.
- Loth, Wilfried: Die Entstehung der Römischen Verträge, in: Gehler, Michael: Vom gemeinsamen Markt zur europäischen Unionsbildung. 50 Jahre Römische Verträge 1957-2007, Wien/Köln/Weimar 2009, S. 111-130.
- Loth, Wilfried: Konrad Adenauer und die europäische Einigung, in: König, Mareike, Schulz, Matthias (Hrsg.): Die Bundesrepublik Deutschland und die europäische Einigung 1949-2000. Politische Akteure, gesellschaftliche Kräfte und internationale Erfahrungen, Wiesbaden 2004, S. 39-59.
- Segers, Mathieu Laurent Leon: Deutschlands Ringen mit der Relance. Die Europapolitik der BRD während der Beratungen und Verhandlungen über die Römischen Verträge, Frankfurt/Main 2008.