Erste deutschlandpolitische Gedankenexperimente
Offiziell hielt Konrad Adenauer stets an seinen deutschlandpolitischen Grundprinzipien fest: dem Selbstbestimmungsrecht, dem Alleinvertretungsanspruch und dem Grenzvorbehalt bis zum Abschluss eines Friedensvertrags. Zudem ging er davon aus, eine Verständigung mit dem Osten sei nur über Moskau und vor dem Hintergrund einer internationalen Entspannung möglich. Ab der zweiten Hälfte der 1950er Jahre begann Adenauer jedoch eine zweigleisige Politik zu verfolgen. Während er öffentlich an seinen deutschlandpolitischen Positionen festhielt, entwarf er hinter den Kulissen recht undogmatische Vorschläge und signalisierte gegenüber der Sowjetunion Verhandlungsbereitschaft. Bei aller Beweglichkeit war er jedoch zu keinen Konzessionen ohne Gegenkonzession bereit.
Im Frühjahr 1958 unterbreitete Adenauer der UdSSR einen Vorschlag, für den er laut seinen „Erinnerungen“ befürchtete, von seinen „eigenen Leuten … gesteinigt zu werden“. Seine Frage lautete, ob die Sowjetunion bereit wäre, „der Sowjetzone den Status Österreichs zu geben“. Dies bedeutete die Anerkennung der DDR durch die Bundesrepublik als zweiten deutschen Staat unter der Bedingung der Neutralität, des Verbots eines Beitritts zur Bundesrepublik und der vollen inneren Selbstbestimmung der DDR. Für den Preis dieser freien inneren Selbstbestimmung der Menschen in der DDR war Adenauer bereit, zwei zentrale deutschlandpolitische Positionen zu opfern: Zum einen stellte er das Ziel der Wiedervereinigung Deutschlands zur Disposition; zum anderen war er gewillt, die DDR de jure anzuerkennen. Die Sowjetunion ging auf diesen Vorschlag nicht weiter ein.
Nachdem dieser sogenannte Österreich-Plan auf keine Resonanz gestoßen war, arbeitete der Staatssekretär im Bundeskanzleramt, Hans Globke, Anfang 1959 den nach ihm benannten und von Adenauer gebilligten Globke-Plan aus. Die Erarbeitung des Plans ist auch vor dem Hintergrund der zweiten Berlinkrise zu sehen. Am 28. November 1958 hatte der sowjetische Staats- und Parteichef Nikita Chruschtschow die Westmächte aufgefordert, binnen sechs Monaten ihre Truppen aus West-Berlin abzuziehen. Sein Plan war, Berlin in eine „freie Stadt“ umzuwandeln und dem SED-Regime die Kontrolle der Zugangswege nach Berlin zu übertragen. Dies bedeutete einen Affront gegenüber Adenauers Alleinvertretungsanspruch gegenüber der DDR und stellte den Viermächtestatus Berlins in Frage. In den folgenden Monaten herrschte große Sorge über eine Eskalation der Krise, die aufgrund des Konflikts um die Sicherung von Hoheitsrechten schlimmstenfalls in eine nukleare Konfrontation der Westmächte mit der Sowjetunion hätte münden können.
Globkes Geheimplan sollte eine Lösung aus der brisanten Situation bieten. Der Plan enthielt einige aufsehenerregende Zugeständnisse wie die Anerkennung der DDR, die Umwandlung Berlins in eine freie Stadt und eine indirekte Akzeptanz der Ostgrenzen. Vorab sollte jedoch ein fünfjähriges Moratorium stehen, währenddessen u. a. den Menschen in der DDR wichtige Grundrechte zugestanden werden und an dessen Ende Volksabstimmungen über die Wiedervereinigung stattfinden sollten. Entschied sich die Mehrheit gegen die Einheit, hätten die Bundesrepublik und die DDR zwei getrennte souveräne Staaten werden sollen. Im Falle einer Einheit hätte sich das geeinte Deutschland für eine Mitgliedschaft in der NATO oder im Warschauer Pakt entscheiden müssen. Der Teil Deutschlands, dessen Mitgliedschaft im Militärbündnis aufgekündigt worden wäre, hätte entmilitarisiert werden sollen. Für die Neutralität hätte das geeinte Deutschland hingegen nicht votieren dürfen. Adenauer war also bereit, sich mit der DDR ein Stück weit zu arrangieren, hielt aber an zwei Prinzipien fest: dem Selbstbestimmungsrecht und der Ablehnung eines neutralen Gesamtdeutschlands. Der Globke-Plan wurde der Sowjetunion letztlich nicht unterbreitet.
Das Burgfriedensangebot
Am 6. Juni 1962 schlug Adenauer jedoch dem sowjetischen Botschafter in Bonn, Andrei Smirnow, ein Stillhalteabkommen für zehn Jahre vor. In dieser Zeit sollten die Beziehungen unter Beibehaltung des Status quo normalisiert werden, um anschließend Fortschritte in der deutschen Frage erzielen zu können. Voraussetzung sei jedoch, dass den Menschen in der DDR zwischenzeitlich mehr Freiheit gewährt werde. Für dieses Stillhalteangebot bürgerte sich später in Öffentlichkeit und Wissenschaft der Begriff „Burgfriedensplan“ ein. Dieser Terminus wurde in Hinblick auf die deutsch-sowjetischen Beziehungen der Nachkriegszeit vermutlich vom Botschafter der Bundesrepublik in Moskau, Hans Kroll, bei einem Gespräch mit Chruschtschow am 18. Januar 1960 eingeführt. Kroll meinte damit allerdings einen Pressefrieden bzw. einen „propagandistischen Waffenstillstand“ zwischen der Bundesrepublik und der UdSSR und nicht das Stillhalteabkommen, über das seit dem Globke-Plan nachgedacht wurde. Der Begriff wurde daher erst nachträglich für Adenauers Stillhalteangebot von 1962 gebraucht.
Mit dem Burgfriedensplan griff Adenauer zwei Elemente des Globke-Plans auf: eine mehrjährige Interimsphase und die Forderung nach menschlichen Erleichterungen. Der Vorschlag war somit kein „Plan“ im engeren Sinne, da zu diesem Zeitpunkt keine Verknüpfung mit einem phasenartigen Wiedervereinigungsprozess hergestellt wurde. Ebenso blieben weitreichende Konzessionen wie eine Anerkennung der DDR oder ein Freistadt-Vorschlag für Berlin unerwähnt. Anders als beim Globke-Plan wich Adenauer daher mit diesem Stillhalteangebot kaum von seiner offiziellen deutschlandpolitischen Linie ab. Möglicherweise hätte jedoch in der Folge von Verhandlungen über das Angebot später der modifizierte Globke-Plan vorgelegt werden sollen.
Die Sowjetunion lehnte allerdings den Burgfriedensplan am 2. Juli 1962 über Smirnow mit der Begründung ab, die Sowjetunion habe selbst gute Vorschläge für eine sofortige Lösung gemacht, über die verhandelt werden sollten. Tatsächlich hätte ein Eingehen auf Adenauers Angebot bedeutet, durch die Erweiterung der Freiheitsrechte in Vorleistung treten zu müssen ohne die Gewissheit, nach der Ruhepause von zehn Jahren Fortschritte im sowjetischen Sinne erzielen zu können.
Auch die westlichen Alliierten, die Adenauer in den folgenden Monaten über die Stillhalteidee informierte, zeigten sich zurückhaltend. Schließlich hätte ein Stillhalteabkommen nicht nur eine Forderung an die Sowjetunion bedeutet, sondern auch die Westmächte in ihrem deutschlandpolitischen Handlungsspielraum eingeschränkt.
1963 wagte Moskau einen Vorstoß, über den inzwischen als Botschafter abberufenen Kroll weiter zu verhandeln und einen Besuch Chruschtschows in Bonn zu planen. Ein im Rahmen dieses Besuchs angedachtes Gespräch mit dem Bundeskanzler kam jedoch unter anderem deshalb nicht mehr zustande, da Adenauer kurz vor seinem Rücktritt seinem Nachfolger diesbezüglich nicht vorgreifen wollte. Am 3. Oktober 1963 – wenige Tage vor seinem Rücktritt – verwies Adenauer in einem ZDF-Interview auf den Burgfriedensplan, so dass dieser öffentlich bekannt wurde.
Motive für Adenauers deutschlandpolitische Lösungsansätze
Für Adenauers Vorstöße dürften mehrere Motive ausschlaggebend gewesen sein: Zum einen wollte er – insbesondere vor dem Hintergrund des Mauerbaus von 1961 – die Lage der Menschen in der DDR verbessern, auch zu dem Preis, dass die Wiedervereinigung nicht unmittelbar zu erreichen war. Langfristig sollten die Menschen in der DDR durch ein freieres Leben eine stärkere Widerstandskraft gegen den Kommunismus entwickeln. Das Stillhalteelement sollte einen Beitrag dazu leisten, die deutsche Frage aus den Verhandlungen zwischen den Siegermächten herauszuhalten, indem sie zeitweise neutralisiert würde. Dies hatte den Hintergrund, dass Adenauer zu diesem Zeitpunkt mit ungünstigen deutschlandpolitischen Entscheidungen im Rahmen der Ost-West-Verhandlungen rechnete – insbesondere die USA und Großbritannien hielt der Kanzler für zu konzessionsbereit gegenüber der UdSSR.
Adenauer wollte außerdem in der festgefahrenen deutschlandpolitischen innen- und außenpolitischen Diskussion seit Mitte der 1950er Jahre selbst Initiative ergreifen und konkrete Vorschläge zur Lösung der deutschen Frage unterbreiten, um den guten Willen der Sowjetunion auf die Probe zu stellen. Dabei zeigte sich, dass die UdSSR nicht bereit war, auf Adenauers Vorschläge einzugehen. Die Gründe werden unter anderem darin gelegen haben, dass der Kanzler auf seinem Standpunkt beharrte, dass den 17 Millionen Deutschen in der DDR nur dann geholfen werden könne, wenn die Bundesrepublik ihre Freiheit in enger Westbindung erhalten könne – schließlich helfe es ihnen nichts, wenn Westdeutschland ebenfalls unter kommunistischen Einfluss gerate. Auch gibt keiner der Vorschläge das Prinzip von freien Wahlen vor einer Wiedervereinigung oder die Ablehnung eines neutralen Gesamtdeutschlands auf.
Bei aller Prinzipientreue war Adenauers Deutschlandpolitik jedoch nicht phantasielos-starr oder auf juristische Formeln beschränkt. Auch hatte er kein unverrückbares Konzept, sondern verschiedene sich ergänzende Elemente von Lösungsansätzen, die er je nach Situation und Gesprächszusammenhang kombinierte. Der Bundeskanzler zeigte sich gegenüber der Sowjetunion somit beweglicher als gemeinhin angenommen.
Literatur:
- Buchheim, Hans, Deutschlandpolitik 1949-1972. Der politisch-diplomatische Prozess, Stuttgart 1984.
- Eibl, Franz, Politik der Bewegung. Gerhard Schröder als Außenminister 1961-1966, München 2001.
- Erhard, Volker, Adenauers deutschlandpolitische Geheimkonzepte während der zweiten Berlin-Krise 1958-1962, Hamburg 2003.
- Globke, Hans, Überlegungen und Planungen in der Ostpolitik Adenauers, in: Dieter Blumenwitz u.a. (Hg.), Konrad Adenauer und seine Zeit. Politik und Persönlichkeit des ersten Bundeskanzlers, Stuttgart 1976, S. 665-672.
- Gotto, Klaus, Adenauers Deutschland und Ostpolitik 1954-1963, in: Rudolf Morsey/Konrad Repgen (Hg.), Adenauer-Studien, Band 3, Mainz 1974, S. 3-91.
- Kühlem, Kordula, „Burgfrieden“. Die Bedeutung und Verwendung des Begriffs zwischen Bonn und Moskau 1958–1963, in: Historisch Politische Mitteilungen 16/2009, S. 37-56.