Der Moskauer Vertrag
Die seit Oktober 1969 regierende Koalition aus SPD und FDP unter Bundeskanzler Willy Brandt und Außenminister Walter Scheel setzte neue Akzente in der Ost- und Deutschlandpolitik. Schon in seiner Regierungserklärung vor dem Deutschen Bundestag am 28. Oktober 1969 erkannte Brandt die DDR de facto als zweiten deutschen Staat an – auch wenn er eine völkerrechtliche Anerkennung ausschloss. Ende 1969 wurden die Gewaltverzichtsgespräche mit Moskau wiederaufgenommen. Die Bundesregierung erkannte dabei von Beginn an die Realitäten im Ostblock ebenso an wie die Führungsrolle Moskaus innerhalb des Warschauer Paktes.
Im Januar 1970 übernahm Egon Bahr, Staatssekretär im Bundeskanzleramt, selbst die Verhandlungsführung. Die Ergebnisse seiner Gespräche mit dem sowjetischen Außenminister Andrej Gromyko wurden im Mai 1970 im sogenannten Bahr-Papier zusammengefasst. Darin kam die Bundesregierung den Forderungen der UdSSR weit entgegen: So erkannte sie die territoriale Integrität aller Staaten in Europa an (auch der DDR) sowie die „Unverletzlichkeit“ aller europäischen Grenzen – auch der innerdeutschen Grenze und der Oder-Neiße-Linie. Außerdem willigte sie ein, die Verträge mit der UdSSR, Polen, der CSSR und der DDR als Einheit zu betrachten. Damit wich die sozial-liberale Koalition von der bisher verfolgten Politik der Bundesregierungen ab, keine Vereinbarungen zu treffen, die Bestandteile eines späteren Friedensvertrages betreffen würden.
Auf der Grundlage des Bahr-Papiers verhandelte Außenminister Scheel im Juli/August 1970 mit der Sowjetunion und konnte noch einige Verbesserungen erzielen. Auf sein Drängen hin erklärte sich Moskau bereit, einen „Brief zur deutschen Einheit“ entgegenzunehmen, in dem der Wunsch der Bundesrepublik Deutschland nach Wiedervereinigung notifiziert wurde. Dies ging nicht zuletzt auf die heftige Kritik der Union zurück, die auf die unklare und interpretierbare Begriffswahl im Bahr-Papier hingewiesen hatte. Am 12. August 1970 wurde der Moskauer Vertrag schließlich von Bundeskanzler Brandt in Moskau unterzeichnet.
Der Warschauer Vertrag
Der mit Polen am 7. Dezember 1970 geschlossene Warschauer Vertrag war mit dem Moskauer Vertrag fast identisch – in ihm rangierte nur die Anerkennung der Oder-Neiße-Linie vor dem Gewaltverzicht. Der Vertrag war seit Februar 1970 vom Staatssekretär im Auswärtigen Amt, Georg Ferdinand Duckwitz, ausgehandelt worden. Die Absicht der Bundesregierung, den nach dem Zweiten Weltkrieg noch in Polen verbliebenen Deutschen einen Minderheitenstatus zuerkennen zu lassen oder ihnen die Ausreise zu ermöglichen, konnte nicht im Vertrag selbst, sondern nur in einer begleitenden „Information“ zum Ausdruck gebracht werden. Darin sicherte die polnische Regierung „einigen zehntausend Personen“ von unbestreitbar deutscher Volkszugehörigkeit die Ausreise zu. Allerdings lebten nach Angaben des Deutschen Roten Kreuzes zu dieser Zeit noch über 300.000 Deutsche in Polen. Außerdem verzichtete die Bundesregierung gegenüber Warschau auf einen begleitenden „Brief zur deutschen Einheit“, so dass Polen den Vertrag als endgültige Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze interpretierte.
Parlamentarischer Kampf um die Verträge
Nachdem die Hauptsiegermächte des Zweiten Weltkriegs – die USA, UdSSR, Großbritannien und Frankreich – ihre Verhandlungen über ein Berlin-Abkommen am 3. September 1971 beendet hatten, leitete die Bundesregierung das Ratifizierungsverfahren zu den Ostverträgen ein. In dem Vier-Mächte- Abkommen hatten die Siegermächte ihre Verantwortung für Berlin bekräftigt, die Bindungen West-Berlins an die Bundesrepublik bestätigt – vor allem die Verkehrsverbindungen –, der Außenvertretung West-Berlins durch die Bundesrepublik zugestimmt und wieder Besuchs-möglichkeiten für West-Berliner im Ostteil der Stadt und in der DDR vereinbart. Das Inkrafttreten des Berlin-Abkommens, an dem die Bundesrepublik sehr interessiert war, knüpfte die UdSSR allerdings an die Ratifizierung des Moskauer Vertrages.
Bei der ersten Lesung der Ostverträge im Februar 1972 kam es im Plenum des Bundestags zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen der Bundesregierung und der Opposition. Die CDU/CSU warf der Regierung unter anderem eine Annäherung der Bundesrepublik an die Sowjetunion zu Lasten der Westbindung vor. Ein weiterer Einwand gegen die Ostverträge war, dass durch sie das System der liberalen Demokratie und der sowjetische Totalitarismus moralisch-politisch auf eine Stufe gestellt wurden. Darüber hinaus befürchtete die Union, dass die Verträge langfristige Auswirkungen auf die innere Ordnung der Bundesrepublik haben könnten, die die Bundesregierung billigend in Kauf nehme. Und schließlich kritisierte die Opposition die Unausgewogenheit der Ostverträge, die mangelnden Fortschritte bei der Gewährung von Menschenrechten in der DDR und den damit verbundener Stillstand in der Entwicklung der innerdeutschen Beziehungen.
Der Bundesausschuss der CDU lehnte die Ostverträge aus diesen Gründen am 24. Januar 1972 ab. Um die Verträge möglichst vor ihrer Ratifizierung selbst in die Hand zu bekommen und ändern zu können und um die Chance zum Sturz der Bundesregierung, die sich ihr durch den Übertritt von Abgeordneten aus dem Regierungslager boten, zu nutzen, beantragte die CDU/CSU-Fraktion erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland am 24. April 1972 ein Konstruktives Misstrauensvotum.
Der Fraktion gehörten zu diesem Zeitpunkt 246 Abgeordnete an. Die für die Kanzlerwahl erforderlichen 249 Stimmen glaubte Rainer Barzel auch mit Hilfe von Stimmen aus den Reihen der FDP-Fraktion zu erhalten. Bei der Abstimmung am 27. April 1972 votierten allerdings nur 247 Abgeordnete für Barzel, drei Abgeordnete enthielten sich und zehn stimmten gegen ihn. Zwar war damit das Misstrauensvotum knapp gescheitert, doch demonstrierte eine Abstimmung am 28. April 1972, dass auch die Regierungskoalition ihre Mehrheit verloren hatte. Deshalb mussten sich nun beide Seiten bewegen, um die Ratifizierung der Ostverträge – und damit auch des Berlin-Abkommens – sicherzustellen.
Gemeinsame Entschließung und Ratifizierung der Ostverträge
In zähen Verhandlungen handelten CDU/CSU und die Regierungskoalition bis zum 10. Mai 1972 eine Gemeinsame Entschließung aus, in der der Moskauer- und der Warschauer Vertrag als Modus Vivendi bezeichnet, die Möglichkeit eines endgültigen Friedensvertrages mit Deutschland genannt, das Recht der Deutschen auf Selbstbestimmung bekräftigt und die Fortdauer der Verantwortlichkeiten der Vier Mächte für die deutsche Frage unterstrichen wurde. Außerdem wurde noch die Hoffnung ausgedrückt, dass sich durch die Verträge die Lage Berlins und die innerdeutsche Situation verbessern werde. Mit der Gemeinsamen Entschließung lag nun eine offizielle Interpretation der Ostverträge im Sinn eines Offenhaltens der deutschen Frage vor. Obwohl die völkerrechtliche Bedeutung der Entschließung umstritten war, folgte der Bundesvorstand der CDU der Empfehlung des Parteivorsitzenden Barzel und stimmte am 15. Mai 1972 den Ostverträgen und der Entschließung zu. Die CDU/CSU-Fraktion konnte allerdings dieser Wende vom „Nein“ bzw. „So nicht“ zum „Ja“ nicht folgen, zumal die CSU-Landesgruppe um Franz Josef Strauß beim kategorischen „Nein“ stehen blieb. Um kein Bild der Zerrissenheit zu bieten, einigte sich die Fraktion in letzter Minute darauf, der Gemeinsamen Entschließung zuzustimmen, sich aber bei den Ostverträgen der Stimme zu enthalten.
Bei der Abstimmung des Deutschen Bundestages am 17. Mai 1972 stimmten dann 248 Abgeordnete für den Moskauer Vertrag, bei zehn Nein-Stimmen und 238 Enthaltungen. Ähnlich sah das Bild beim Warschauer Vertrag aus, für den 248 Ja-Stimmen, 17 Nein-Stimmen und 231 Enthaltungen abgegeben wurden. Wie erhofft sprachen sich 491 Abgeordnete für die Gemeinsame Entschließung aus – bei nur fünf Enthaltungen. Damit hatten die Ostverträge den Bundestag passiert. Zwei Tage später stimmte ihnen auch der Bundesrat zu. Mit dem Austausch der Ratifikationsurkunden am 3. Juni 1972 traten die beiden Verträge sowie das Vier-Mächte-Abkommen über Berlin schließlich in Kraft.
Fazit
Obwohl die Union sich nicht zu einer Zustimmung zu den Ostverträgen durchringen konnte, hat sie mit ihrer Enthaltung und dem Ja zu der Gemeinsamen Entschließung doch eine Annahme der Ostverträge ermöglicht. Die Gemeinsame Entschließung bildete zusammen mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Grundlagenvertrag vom 31. Juli 1973 eine wichtige Grundlage für die künftige Deutschlandpolitik aller Bundesregierungen bis zur Wiedervereinigung.
Literatur:
Rainer Barzel: Auf dem Drahtseil. München/Zürich 1978.
Boris Meissner: Moskau-Bonn. Die Beziehungen zwischen der Sowjetunion und der Bundesrepublik Deutschland 1955–1973. Dokumentation, Köln 1975.
Wolfgang Jäger: Die CDU und das Ziel der deutschen Einheit, in: Norbert Lammert (Hg.): Christlich Demokratische Union. Beiträge und Positionen zur Geschichte der CDU. München 2020, S. 301–334.
Andreas Grau: Gegen den Strom. Die Reaktion der CDU/CSU-Opposition auf die Ost- und Deutschlandpolitik der sozial-liberalen Koalition 1969–1973. Düsseldorf 2005.
Kai Wambach: Rainer Barzel. Eine Biographie. Paderborn 2019.