Die historische Situation
In Deutschland bestimmt im Jahr 1990 das atemberaubende Tempo des Wiedervereinigungsprozesses die Innenpolitik. Der Vertrag über die Herstellung der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion und der Einigungsvertrag, die die Ausgestaltung der deutschen Einheit und die zukünftige Struktur des Rechts- und Sozialstaates vorgeben, werden geschlossen. Die neugewonnene politische Freiheit erfordert einen Wahlmarathon – von den Volkskammerwahlen (18. März) über die Kommunal- (6. Mai) zu den Landtagswahlen (14. Oktober). Die CDU ist dabei erfolgreich, stellt in vier von fünf der neuen Länder den Ministerpräsidenten, was im Bundesrat die Blockademöglichkeiten der SPD beendet. Die ersten freien Wahlen in einem demokratischen Gesamtdeutschland seit den Reichstagswahlen vom November 1932 sollen am 2. Dezember 1990 stattfinden.
Der Wahlkampf
Das entscheidende Thema des Bundestagswahlkampfes bildet die zukünftige Ausgestaltung der deutschen Einheit, insbesondere ihre Finanzierung. Die Regierungskoalition geht von optimistischen Wirtschaftsprognosen aus und Bundeskanzler Helmut Kohl erwartet für die nächsten Jahre „blühende Landschaften“ in den neuen Bundesländern. Dementsprechend stellen die CDU-Werbeslogans den „Kanzler für Deutschland“ in den Mittelpunkt und betonen den gesamtdeutschen Aufbauwillen: „Gemeinsam schaffen wir’s“. Lange meint der Bundeskanzler, auf Steuererhöhungen verzichten zu können, und will sie erst in der Endphase des Wahlkampfes nicht mehr für die Zukunft ausschließen.
Der SPD-Spitzenkandidat Oskar Lafontaine verlegt sich auf Kritik an der Ausgestaltung der Einheit und warnt vor den Kosten. Seine Themen sind Steuerfragen, die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und der Umweltschutz. Auch in der Organisation des Wahlkampfes gibt es Unterschiede: Während die Union auch das Fernsehen geschickt in den Wahlkampf einbezieht und Helmut Kohl mit Flugzeug und Hubschrauber in Deutschland fast omnipräsent ist, rollt Oskar Lafontaine eher behäbig durch die Lande: „Im Sonderzug aufs Abstellgleis“ titelt die NZZ prophetisch (25.11.1990). Seine nur schlecht verhohlene Ablehnung der deutschen Einheit trägt dem Herausforderer viel Kritik aus der eigenen Partei ein; während der Ehrenvorsitzende Willy Brandt ein klarer Unterstützer der Einheit ist, sagt der frühere Bundeskanzler Helmut Schmidt Lafontaine gar eine „verdiente“ Niederlage voraus. Daneben gibt es noch regionale Themen: In Bonn etwa spielt die Frage des Sitzes von Regierung und Parlament, Bonn oder Berlin, eine Rolle, und in der ehemals geteilten Stadt stehen zeitgleich zu den Bundestagswahlen die ersten freien Wahlen zum Abgeordnetenhaus an.
Organisatorisch stellen die Wahlen alle Parteien vor besondere Herausforderungen. Während der CDU und der FDP der Zusammenschluss mit ihren ostdeutschen Schwesterparteien zugute kommt, deren weitgehend intaktes Organisationsnetz ihnen den Wahlkampf in den neuen Ländern erlaubt, müssen die SPD und die Grünen erst neue Strukturen im Osten aufbauen. Außerdem scheinen die Vorbehalte gegenüber der staatlichen Einheit im Bereich der ostdeutschen Bürgerrechtsbewegung deutlich größer zu sein, was auch dazu führt, dass sich der Zusammenschluss mit den westdeutschen Grünen nicht mehr vor der Wahl realisieren lässt. Gewählt wird – ein Sonderfall der deutschen Wahlgeschichte – in zwei unterschiedlichen Wahlgebieten, den alten und den neuen Ländern, in denen jeweils die Fünfprozenthürde gilt. Hintergrund ist eine Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts, dass den ostdeutschen Parteien die gleichen Chancen eingeräumt werden müssen. Die insgesamt fast 60 Millionen Wahlberechtigten haben die Wahl zwischen 23 Parteien.
Das Wahlergebnis
Bei einer hohen Wahlbeteiligung (77,8%) kann die Union mit 43,82% (1987, noch in der alten Bundesrepublik: 44,3%) ihr Ergebnis knapp behaupten, die FDP mit 11,03% gegenüber der letzten Bundestagswahl sogar noch zulegen (1987: 9,1). Wohl nicht zu Unrecht reklamiert CDU-Generalsekretär Volker Rühe einen Teil des FDP-Zuwachses für Helmut Kohl; die FDP sieht dies naturgemäß völlig anders und träumt schon am Wahlabend von einer liberalen Umgestaltung der Republik. Der alte und neue Bundeskanzler kommentiert das Ergebnis aus der historischen Perspektive. Nicht ohne Stolz stellt er fest, dass das Wahlergebnis für die Union das Beste sei, das jemals eine demokratische Partei in freien Wahlen in Gesamtdeutschland erzielt hat – was übrigens bis heute nicht übertroffen worden ist. Ebenfalls hoch erfreut ist er darüber, dass die Union bei den Jungwählern vorn gelegen hat.
Der größte Verlierer der Wahl sind die Grünen (3,9%), deren zögerliche Haltung zur deutschen Einheit im Verbund mit der organisatorischen Fehlentscheidung, nicht rechtzeitig die Fusion mit Bündnis90/Grüne (1,2%, aber 5,9% im Beitrittsgebiet) eingegangen zu sein, der Partei den Verlust der Mandate im alten Bundesgebiet beschert. Nur die als Listenverbindung angetretenen Bündnis’90/Grüne, die in den neuen Bundesländern über der Fünfprozenthürde liegen, sind im Deutschen Bundestag vertreten. Auf Seiten der SPD sorgt das Wahlergebnis (33,5%), das schlechteste für die Partei auf Bundesebene seit 1957, für Konflikte. Der Wahlverlierer Oskar Lafontaine flüchtet sich in den Urlaub, in der Partei entbrennt eine Debatte um den zukünftigen Kurs der Partei.
Bei den Demoskopen ist man sich weitgehend darüber einig, dass die Haltung zur Wiedervereinigung den Ausschlag gegeben hat. Die Gegner der Einheit sind vom Wähler abgestraft worden, aber auch der beginnende Wirtschaftsaufschwung spielte eine Rolle: „Der Optimismus hat gesiegt“ (Elisabeth Noelle-Neumann, FAZ vom 5.12.1990). Einzelthemen wie die Frage nach der Neufassung des § 218 waren nach den Ergebnissen der Meinungsforscher nur von untergeordneter Bedeutung. Ein weiteres Ergebnis der Wahl geht fast unter: Trotz einer vierzigjährigen SED-Diktatur in der DDR wählt das vereinte Deutschland nicht wesentlich anders als die „alte“ Bundesrepublik. Der Wähler straft alle Vorstellungen von einem „Vierten Reich“ oder einer Radikalisierung der deutschen Politik durch angeblich extremismusanfällige Ostdeutsche Lügen.
Der neugewählte Deutsche Bundestag tritt mit nunmehr 656 Abgeordneten am 20. Dezember 1990 im Reichstagsgebäude in Berlin zusammen. Rita Süssmuth, die auch als Ministerin gehandelt worden war, wird erneut zur Bundestagspräsidentin gewählt. Schließlich wählt der Deutsche Bundestag am 17. Januar 1991 Helmut Kohl zum ersten gesamtdeutschen Bundeskanzler.