Koalitionswechsel während einer Legislaturperiode gehören zu den seltenen Vorkommnissen in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Im 20. Jahrhundert kamen sie nur zwei Mal vor: 1966 mit dem Rücktritt der FDP-Minister aus der Regierung von Bundeskanzler Ludwig Erhard und der Bildung einer großen Koalition aus CDU/CSU und SPD unter Kurt Georg Kiesinger – und 1982 aufgrund des erfolgreichen konstruktiven Misstrauensvotums gegen Bundeskanzler Helmut Schmidt, das die sozialliberale Regierungskoalition beendete.
Sozialliberale Koalition in der Krise
Zu Beginn der 1980er Jahre befindet sich die Bundesrepublik Deutschland in einer schweren politischen und wirtschaftlichen Krise. 8.500 Firmen melden 1981 Konkurs an, die Arbeitslosigkeit nähert sich der Zwei-Millionen-Grenze, die Staatsverschuldung wächst, die Investitionsquote geht zurück, der Streit um die Belebung der Beschäftigungspolitik durch millionenschwere Programme und deren Finanzierung mittels Mehrwertsteuererhöhung eskaliert. Die schnelle Sanierung der öffentlichen Finanzen durch Erhöhung von Steuern und Abgaben ist nicht zu erwarten.
Gleichzeitig mehren sich die Zerfallserscheinungen des seit 1969 bestehenden sozialliberalen Regierungsbündnisses. Außenpolitisch stößt der von Bundeskanzler Helmut Schmidt herbeigeführte NATO-Doppelbeschluss in seiner eigenen Partei auf Widerstand. Große Teile der SPD sprechen sich gegen die Stationierung atomarer Mittelstreckenraketen in der Bundesrepublik Deutschland aus und stellen damit das transatlantische Bündnis als Eckpfeiler der Westintegration der Bundesrepublik in Frage.
Eine unruhige parlamentarische Sommerpause steht 1982 ins Haus. Beim letzten Treffen im Deutschen Bundestag unterhalten sich Helmut Kohl und der FDP-Vorsitzende Hans-Dietrich Genscher über ihre bevorstehenden Reiseziele. Obwohl beide nicht weit voneinander ihren Urlaub verbringen – der eine in St. Gilgen am Wolfgangsee, der andere am Fuß des Watzmanns oberhalb von Berchtesgaden – werden sie sich nicht treffen. Doch beim Abschied sagt Kohl zu Genscher: „Im übrigen musst du wissen, dass du nicht ohne Netz turnst.“ Es ist die einzige Vorabsprache auf einen möglichen Koalitionswechsel. Als Helmut Kohl am 18. August zurückkehrt, herrscht in Bonn weiterhin Ungewissheit. Hält die sozialliberale Koalition?
Koalitionswechsel – ein spannender September
Innenpolitisch offenbart am 9. September ein von FDP-Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff vorgelegtes „Konzept für eine Politik zur Überwindung der Wachstumsschwäche und zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit“ die Differenzen der Koalitionspartner in der Konsolidierung von Wirtschaft und Finanzen. Mit dem „Scheidungsbrief“ spitzen sich die tiefen Kämpfe in der sozialliberalen Koalition zu. Die Aufbruchsstimmung des roten Jahrzehnts ist endgültig verflogen.
Am 17. September 1982 verkündet Helmut Schmidt vor dem Deutschen Bundestag den Rücktritt der vier FDP-Minister Hans-Dietrich Genscher (Auswärtiges), Otto Graf Lambsdorff (Wirtschaft), Gerhart Baum (Inneres) und Josef Ertl (Ernährung, Landwirtschaft und Forsten). In der für ihn ausweglosen Situation erklärt der Bundeskanzler seine Bereitschaft, die Vertrauensfrage zu stellen und Neuwahlen den Weg zu öffnen. Nach Schmidts Erklärung über die Auflösung der sozialliberalen Koalition kommt Genscher auf Kohl zu. Es sei an der Zeit, miteinander zu reden. Beide arrangieren an diesem Freitag die erste gemeinsame Verabredung seit der parlamentarischen Sommerpause.
Wie gelingt das erste erfolgreiche konstruktive Misstrauensvotum in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland? Ohne Risiko ist das Vorgehen keineswegs. Wie groß ist der Riss, der durch die FDP geht? Wer hält zu Bundeskanzler Schmidt? Wer ist bereit für einen Neubeginn unter einem Bundeskanzler Helmut Kohl?
Am 20. September 1982 vereinbaren Parteipräsidium und Bundesvorstand der CDU einstimmig, Helmut Kohl als Kanzler einer neuen Bundesregierung aus CDU, CSU und FDP vorzuschlagen. Die Bundestagsfraktion schließt sich einen Tag später an. Alles läuft auf ihn zu: Helmut Kohl hat die CDU in den 1970er Jahren programmatisch und organisatorisch modernisiert, seinen Hauptkritiker Franz-Josef Strauß aufgrund dessen Wahlniederlage 1980 auf Bundesebene geschwächt und seine Strategie einer Koalition mit der FDP gefestigt. Seine seit der zweiten Hälfte der siebziger Jahre eingeschlagene Taktik, die FDP Schritt für Schritt auf die Seite der Union zu ziehen, ist aufgegangen. Kohls demonstrative Bündnistreue zur NATO und seine kompromisslose marktwirtschaftliche Orientierung machen ihn für die FDP als Alternative zu Helmut Schmidt und der SPD interessant. Als CDU-Vorsitzender genießt Kohl eine hohe Autorität – wie die überwältigende Mehrheit bei seiner Wiederwahl im März 1981 auf dem Mannheimer Parteitag zeigt.
CDU, CSU und FDP nehmen Gespräche auf, um ein Regierungsprogramm zu erstellen. Drei Tage nach Bildung der SPD-Minderheitsregierung treffen sich in Kohls Arbeitszimmer im Bundeshaus Helmut Kohl, Gerhard Stoltenberg (CDU), Franz-Josef Strauß, Friedrich Zimmermann (CSU), Hans-Dietrich Genscher und Wolfgang Mischnick (FDP). Später stoßen eine Reihe von Experten für Wirtschafts-, Sozial-, Finanz-, Außen- und Verteidigungspolitik hinzu (u.a. Heiner Geißler, Norbert Blüm, Manfred Wörner).
Die Wahl zum Hessischen Landtag am 26. September lässt das Stimmungsbarometer noch einmal erzittern: Die CDU verfehlt knapp die absolute Mehrheit, und die SPD diskreditiert mit einer „Verratslegende“ ihren ehemaligen Koalitionspartner FDP. Deren Wiederwahl in den Landtag scheitert. Die Atmosphäre ist gespannt! Informelle Gesprächsrunden, heftige Auseinandersetzungen, Unsicherheit bei allen Beteiligten – und Kohls Mut, gemeinsam mit Hans-Dietrich Genscher die Sache durchzuziehen. Nach intensiven Verhandlungen erklären am 28. September 34 FDP-Abgeordnete – bei 18 Nein-Stimmen und zwei Enthaltungen – in geheimer Abstimmung ihre Bereitschaft, am 1. Oktober gemeinsam mit der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag für das konstruktive Misstrauensvotum zu stimmen.
Der 1. Oktober 1982
Ein vorletzter Zählappell am Vorabend des 1. Oktober, ein letzter am Tag der Abstimmung – doch in der CDU/CSU-Bundestagsfraktion herrscht keine endgültige Klarheit. Nachzügler müssen herbeigeholt werden. Dann ist es so weit: Am 1. Oktober 1982 debattiert das Plenum den Antrag: „Der Bundestag möge beschließen: Der Deutsche Bundestag spricht Bundeskanzler Helmut Schmidt das Misstrauen aus und wählt als seinen Nachfolger den Abgeordneten Dr. Helmut Kohl zum Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland. Der Bundespräsident wird ersucht, Bundeskanzler Helmut Schmidt zu entlassen.“
In einer emotionalen Debatte werden die Argumente ausgetauscht. 256 von 495 Abgeordneten stimmen für Helmut Kohl – bei 235 Nein-Stimmen und vier Enthaltungen. 23 Stimmen der neuen Koalition aus CDU/CSU und FDP fehlen, doch Helmut Kohl bekommt sieben Stimmen mehr als benötigt. Um 15.12 Uhr verkündet Bundestagspräsident Richard Stücklen: „Damit ist der Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP angenommen. Ich stelle fest, der Abgeordnete Dr. Helmut Kohl ist zum Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland gewählt.“ Die Bewährungsprobe ist bestanden! Helmut Kohl, 52 Jahre, seit 1976 Oppositionsführer in Bonn und davor Landtagsabgeordneter und Ministerpräsident in Rheinland-Pfalz, ist Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland.
Die erste Regierungserklärung
Die „Wende“ ist da. Sie wird zum geflügelten Wort, ehe die Ereignisse in der DDR 1989/90 dem Begriff eine ganz neue Dimension verleihen. Kohl wirft der sozialliberalen Koalition vor, vor dem Zeitgeist kapituliert zu haben, weil sie in zentralen Fragen der Gesellschafts- und Außenpolitik keine moralisch fundierte, politisch geistige Führung demonstrierte. Grundlage Kohlscher Politik ist das christliche Menschenbild: unveräußerliche Würde des Menschen, soziale Verantwortung, Schöpfung bewahren sowie zu Frieden und Versöhnung bereit sein.
Die Regierungserklärung vom 13. Oktober 1982 läutet die „geistig-moralische Wende“ ein. Helmut Kohl will eine neue Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, neue Initiativen in der Außen- und Sicherheitspolitik und die Wiederbelebung des europäischen Einigungsprozesses. Er spricht von einem „historischen Neuanfang“ und fordert eine „Politik der Erneuerung“ sowie die Wiederbelebung von Tugenden wie Klugheit, Mut und Maßhalten. Er will Optimismus statt Ängste vor wirtschaftlichem Niedergang, Arbeitslosigkeit, Umweltzerstörung und Rüstungswettlauf, weniger Staat und mehr Markt, mehr Freiheit, Dynamik und Eigenverantwortung, Subsidiarität und Solidarität. Persönliche Leistung muss wieder zählen!
Neuwahlen 1983
Für Helmut Kohl steht fest: Der Machtwechsel über das konstruktive Misstrauensvotum soll durch die Stimmen der Wähler legitimiert werden. In einer Abstimmung über die von Kohl am 17. Dezember 1982 gestellte Vertrauensfrage im Deutschen Bundestag erreicht der Bundeskanzler gemäß vorheriger Absprache keine Mehrheit. Bundespräsident Karl Carstens löst den Deutschen Bundestag auf. Damit ist der Weg zu Neuwahlen am 6. März 1983 geebnet.
Die Bundestagswahl wird zur Abstimmung über den Koalitionswechsel, über das transatlantische Bündnis, über die Stationierung der Mittelstreckenraketen auf dem Territorium der Bundesrepublik Deutschland. CDU/CSU erreichen mit 48,8% (+ 4,3%) ihr zweitbestes Ergebnis und setzen die Koalition mit der FDP (7%) fort. Die SPD verliert knapp 5% und erlangt 38,2%. Erstmals ziehen die Grünen in den Deutschen Bundestag ein (5,6%).
Die Ära Kohl
Die 1980er Jahre kennzeichnen eine Reihe konkreter Reformen: Rückkehr zur Sozialen Marktwirtschaft, Privatisierung von Staatsunternehmen, Konsolidierung der Staatsfinanzen, Stabilisierung der Sozialbeitragssätze, Rentenreform, Anerkennung familiärer Leistungen, Senkung der Staatsquote und Inflation. Diese Stabilitätspolitik bewirkt den wirtschaftlichen Aufschwung, der bis in die 1990er Jahre anhält und die Voraussetzung für den Aufbau Ost bildet.
Aber die allererste große Prüfung ist Ende 1983 die Durchsetzung des NATO-Doppelbeschlusses in der Bundesrepublik Deutschland, an dem die Vorgängerregierung gescheitert ist. Die Stationierung der Mittelstreckenraketen auf dem Territorium der Bundesrepublik Deutschland und die Treue zur NATO sowie die Verlässlichkeit hinsichtlich der deutsch-amerikanischen Freundschaft, aber auch die wieder aufgenommenen Abrüstungsverhandlungen mit der Sowjetunion werden 1989/90 entscheidende Voraussetzungen für die Unterstützung der Alliierten zur Wiedervereinigung.
Helmut Kohl, der selbst noch die Schrecken des Krieges und der Vernichtung auf dem Kontinent erlebt hat, ist sich immer bewusst: Die deutsche Frage kann nur durch die unauflösliche Integration Deutschlands in Europa und durch die Überwindung der Teilung Europas im Rahmen einer europäischen Friedensordnung gelöst werden. In der Tradition Konrad Adenauers sieht er die deutsche Einheit und europäische Einigung als zwei Seiten derselben Medaille. Fast genau acht Jahre nach Kohls Regierungsantritt, am 3. Oktober 1990, feiern die Menschen in Deutschland den Tag der Deutschen Einheit. Der Auftrag des Grundgesetzes, „in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden“ ist vollbracht. Sie ist eingebettet in die Einigung Europas. Die letzte Dekade der alten Bundesrepublik ist beendet. Mauerfall und Wiedervereinigung ziehen eine Zäsur. Die zweite Hälfte der Ära Kohl in den 1990er Jahren steht im Zeichen von drei Entwicklungen: erheblicher Modernisierungsdruck aufgrund der Globalisierung und revolutionären Veränderungen in der Kommunikationstechnologie, insbesondere aber die innere Vollendung der deutschen Einheit und der Ausbau der europäischen Einigung mit den Verträgen von Maastricht und Amsterdam.