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Winston Churchills Rede an die akademische Jugend in Zürich

von Denise Lindsay M.A.
Als Winston Churchill am 10. Mai 1956 in Aachen mit dem Internationalen Karlspreis ausgezeichnet wurde, würdigte ihn Konrad Adenauer in seiner Laudatio als einen „Vorkämpfer der europäischen Idee“ und verwies im Besonderen auf die Bedeutung der Züricher Rede Churchills.

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Churchill und Europa

Schon während des Zweiten Weltkriegs hatte Churchill verschiedene Vorstellungen für die Zukunft nach einem erfolgreichen Sieg über Hitler-Deutschland entworfen. So vertrat er die Ansicht, dass es fünf große Nationen (England, Frankreich, Italien, Spanien und Preußen) und mehrere Konföderationen (Nordeuropa, Mitteleuropa, Donauraum, Balkan) geben würde. Zur Stabilisierung des Kontinents wäre die Schaffung eines Europäischen Rates auf zwischenstaatlicher Ebene unerlässlich, über den Großbritannien eine Art Oberaufsicht haben sollte. Im Januar 1943 verfasste Churchill – von einer Konferenz mit türkischen Regierungsvertretern kommend – während einer Zugfahrt ein mit „Morning Thoughts. Note on Post War Security by the Prime Minister“ überschriebenes Memorandum, das er im Februar 1943 an Roosevelt und Stalin sandte. Auch hier sprach er sich für die Schaffung eines „Council of Europe“ aus, der die Grundlage für eine europäischen Regierung darstellen sollte. Diese regionale europäische Organisation sollte in eine Weltorganisation unter amerikanischer Führung eingebunden sein, somit aber auch – gemäß dem Prinzip der „balance of power“ – ein Gegengewicht zu den USA darstellen.

In seiner Radioansprache am 21. März 1943 entwickelte er die Idee, dass im Rahmen einer künftigen Weltorganisation ein asiatischer und ein europäischer Rat entstehen könnten. Der Europarat sollte alle Mitglieder des europäischen Kontinents umfassen.

 

Winston Churchills Rede an die akademische Jugend

Am 23. August 1946 reiste Winston Churchill, seit seiner Wahlniederlage im Juli 1945 Oppositionsführer der konservativen Partei im britischen Unterhaus, von seinem Landsitz Chartwell in Kent zu einem dreiwöchigen Ferienaufenthalt an den Genfer See. In der Villa Choisi in Bursinel plante er, an seinen Memoiren zu arbeiten, seiner Leidenschaft, der Malerei, zu frönen sowie einen Vortrag an der Universität von Zürich vorzubereiten. Nach einem Besuch beim Roten Kreuz in Genf am 16. September und einem feierlichen Bankett, das der Präsident der Schweizer Konföderation ihm zu Ehren in Bern gab, traf er am 19. September 1946 mit seiner Tochter Mary Churchill in Zürich ein. Nach der Begrüßung durch den Dekan und der Entgegennahme einer Ehrendoktorwürde begann Churchill seine Rede vor der Universität mit den eindringlichen Worten: „Ich möchte heute über die Tragödie Europas zu Ihnen sprechen. Dieser edle Kontinent, der alles in allem die schönsten und kultiviertesten Gegenden der Erde umfasst und sich eines gemäßigten, ausgeglichenen Klimas erfreut, ist die Heimat aller großen Muttervölker der westlichen Welt. Er ist die Wiege des christlichen Glaubens und der christlichen Ethik. Hier liegt der Ursprung fast aller Kulturen, Künste, philosophischen Lehren und Wissenschaften des Altertums und der Neuzeit. Könnte sich jemals ein vereintes Europa das gemeinsame Erbe teilen, wäre seinen drei- oder vierhundert Millionen Bewohnern Glück, Wohlstand und Ehre in unbegrenztem Ausmaße beschieden.“

In seiner Ansprache, die er mit dem emotionalen Aufruf „Lasst Europa auferstehen! (Let Europe arise!)“ beendete, würdigte er die Vorarbeit, die Richard Graf Coudenhove-Kalergi mit der Paneuropa-Union geleistet habe ebenso wie die Pläne Aristide Briands zur Schaffung einer europäischen Union. Auch kam er auf das Versagen des Völkerbunds zu sprechen, das er dessen Mitgliedsstaaten anlastete, denn „der Völkerbund ist nicht an seinen Grundsätzen oder Leitbildern gescheitert. Er scheiterte, weil die Staaten, die ihn gegründet hatten, diesen Grundsätzen untreu geworden waren.“ Churchill plädierte für die Etablierung „einer Art Vereinigte Staaten von Europa“. Die Vorbedingung zur Schaffung eines geeinten Europa lag für ihn in der Aussöhnung zwischen Frankreich und Deutschland, denn „es gibt keine Renaissance Europas ohne ein geistig hoch stehendes Frankreich und ein geistig hoch stehendes Deutschland“. Er forderte, den früheren britischen Premierminister William Gladstone zitierend, einen „segensreichen Akt des Vergessens“, um den Neuanfang zu schaffen. In der Gründung eines „Europarates“ sah er den ersten praktischen Schritt, um das Ziel einer europäischen Staatengemeinschaft zu erreichen. Und er forderte zur Eile auf, denn, „wenn wir die Vereinigten Staaten von Europa schaffen wollen, oder wie sie auch immer heißen, welche Form sie auch immer annehmen mögen, dann müssen wir jetzt beginnen“. Für ihn bedeutete die Schaffung eines geeinten europäischen Kontinents – und es stand für ihn außer Frage, dass dieses Europa alle Staaten des Kontinents umfassen sollte – vor allem auch die Möglichkeit, ein Bollwerk gegen Expansionsbestrebungen der Sowjetunion zu schaffen. Dennoch schloss er die Sowjetunion zusammen mit Großbritannien, dem Commonwealth und den USA in die Rolle von „Freunden und Förderern des neuen Europa“ ein. Hier betonte er erneut, wie auch schon bei anderen Gelegenheiten, die Großbritannien zugedachte Sonderstellung.

 

Reaktionen

Die Züricher Rede stieß im Großen und Ganzen auf begeisterte Resonanz. Für viele Beobachter galt die Rede als „Dammbruch für die Europaidee“ (Brunn). Am 24. September 1946 lobte Gerhard Kreyssig in einem Beitrag für die „Süddeutsche Zeitung“ Churchill für seinen „Mut“. Richard Graf Coudenhove-Kalergi, der Gründer der Paneuropa-Bewegung, kommentierte die Rede in seinen 1949 erschienenen Memoiren „Kampf um Europa“ voller Begeisterung. Für ihn war der britische Staatsmann „der größte Realpolitiker des Jahrhunderts“. Konrad Adenauer beurteilte die Rede in seinen „Erinnerungen“ im Rückblick als einen „entscheidenden Impuls“ für die Voranbringung der Einigung Europas und nannte sie „bewundernswert“. In Frankreich fielen die Reaktionen direkt nach der Rede – verständlicherweise – verhalten aus. In „Le Monde“ erschien am 21. September 1946 ein mit „Les idées de M. Churchill“ überschriebener Artikel, der die Chancen für die von Churchill angeregte deutsch-französische Aussöhnung aufgrund der jüngsten Ereignisse verständlicherweise kühl beurteilte. Auch General de Gaulle äußerte sich in einem Gespräch mit Duncan Sandys, dem pro-europäisch orientierten Schwiegersohn Churchills, am 29. November 1946 in Colombey skeptisch zur Möglichkeit einer deutsch-französischen Aussöhnung. Für die Schaffung eines vereinten Europas stellte er Churchill klare Bedingungen. Das Wiedererstarken Deutschlands müsse verhindert werden, da Frankreich kein bloßes Anhängsel Deutschlands sein dürfe.

Kritik kam auch von Seiten der Föderalisten, deren Ziel die Schaffung eines europäischen Bundesstaates war. Altiero Spinelli, Mitgründer der Union Europäischer Föderalisten und späterer Europa-Abgeordneter, warf Churchill vor, die „schlaue wie auch zynische Idee“ verfolgt zu haben, die Idee einer europäischen Bewegung unter britische Führung zu stellen, um den Gedanken eines europäischen Bundesstaates gezielt zu sabotieren. Auch die Teilnehmer der fast gleichzeitig (15.–19. September 1946) im schweizerischen Hertenstein stattfindenden Konferenz von Föderalisten aus verschiedenen europäischen Ländern blieben Churchill gegenüber skeptisch und zurückhaltend.

 

Churchill und die europäische Einigung

Nach Zürich setzte Churchill sein europapolitisches Engagement auf Betreiben und mit der Unterstützung von Duncan Sandys, der auch an der Ausarbeitung der Rede beteiligt gewesen war, zunächst fort. Er übernahm den Vorsitz des United Europe Movement und hielt auf der Gründungsversammlung der Organisation am 14. Mai 1947 in der Royal Albert Hall in London erneut eine pro-europäische Rede, in der er aber auch besonders die engen Beziehungen Großbritanniens zu den USA und zur englischsprachigen Welt hervorhob. Für ihn lag die Bedeutung eines vereinten und demokratischen Europa darin, „to give decisive guarantees against aggression“.

Churchill untermauerte seinen Eindruck als Befürworter der europäischen Einigung in der Öffentlichkeit weiter durch sein Auftreten beim Europa-Kongress und die Übernahme der Schirmherrschaft der Veranstaltung, die vom 7. bis 10. Mai 1948 in Den Haag stattfand. Er sprach sich erneut für die Notwendigkeit einer deutsch-französischen Aussöhnung sowie die Schaffung einer Europäischen Versammlung aus, mit deren Hilfe sich das vereinte Europa Gehör verschaffen sollte.

Nach der Gründung des Europarates am 5. Mai 1949 hatte Churchill im August an der ersten Sitzung der Parlamentarischen Versammlung in der Aula der Straßburger Universität teilgenommen und er besuchte auch die zweite Sitzung der Beratenden Versammlung des Europarates. In seiner Rede vor dem Plenum am 11. August 1950 sprach er sich für die Schaffung einer Europäischen Armee aus, sein Vorschlag wurde mit 89 zu 5 Stimmen bei 27 Enthaltungen angenommen. Den später entstandenen Pleven-Plan lehnte Churchill allerdings ab und bezeichnete ihn als ein „sludgy amalgam“. In seinen Augen war die vorgeschlagene multilaterale Streitmacht weniger effizient als eine Koalition aus nationalen Armeen.

Die Hoffnungen, die die europafreundlichen Äußerungen Churchills geweckt hatten, wurden nach seiner erneuten Amtsübernahme im Oktober 1951 allerdings – sehr zur Enttäuschung pro-europäischer Unterhausmitglieder der Konservativen Partei – nicht in praktische Politik umgesetzt. Das Foreign Office unter der Leitung Anthony Edens war nur an einer Beteiligung in loser Form an den entstehenden europäischen Organisationen interessiert. In Churchills Konzeption spielte Großbritannien – so verkündete er bei verschiedenen Gelegenheiten – die Rolle eines Verbindungsglieds zwischen den drei konzentrischen Kreisen aus Europa, Empire und Commonwealth sowie den USA, entsprechend dem Prinzip der „balance of power“. Seine zweite Amtszeit war vor allem damit ausgefüllt, ein weiteres Gipfeltreffen zwischen den „Großen Drei“ zustande zu bringen, analog zu den Treffen während des Zweiten Weltkriegs. Obwohl Churchill sich der Gefahr der sowjetischen Expansionsbestrebungen immer bewusst war, gab er dennoch die Hoffnung nicht auf, dass die Partnerschaft aus Kriegstagen wiederbelebt werden könnte. Für ihn lag der Weg zur Befriedung des Kontinents in der deutsch-französischen Aussöhnung. In der Schaffung eines geeinten Europa sah er die Möglichkeit, jahrhundertealte Konflikte und Rivalitäten beizulegen. Eine Notwendigkeit für Großbritannien am europäischen Einigungsprozess teilzunehmen, sah er – geboren im Jahre 1874 und noch immer den Gedanken und Traditionen des britischen Empire verhaftet – nicht. Schon in einem Beitrag für die „Saturday Evening Post“ am 15. Februar 1930, in dem er sich positiv zum Gedanken der Schaffung der „Vereinigten Staaten von Europa“ äußerte und deren Bedeutung auf wirtschaftlicher Ebene hervorhob, skizzierte Churchill seine Vorstellung über die Großbritannien zugedachte Rolle in Bezug auf den Kontinent: „We are with Europe, but not of it. We are linked, but not comprised. We are interested and associated, but not absorbed. We belong to no single continent, but to all. (Wir stehen zu Europa, gehören aber nicht dazu. Wir sind verbunden, aber nicht umfasst. Wir sind interessiert und assoziiert, aber nicht absorbiert. Wir gehören zu keinem einzelnen Kontinent, sondern zu allen).“ Diese Handlungsmaxime stellte den Leitfaden für seine später verfolgte Politik dar. Sein Schwiegersohn, der Diplomat Christopher Soames, kam im Nachhinein zu der Einschätzung, dass der Beginn der europäischen Einigung für Großbritannien zehn Jahre zu früh gekommen sei.

 

Literaturauswahl:

  • Robert Blake/Wm. Roger Louis: Churchill. Oxford 1993.
  • Max Beloff: Britain and European Union. Dialogue of the Deaf. Basingstoke 1996.
  • Gerhard Brunn: Die Europäische Einigung von 1945 bis heute. 3. Aufl. Stuttgart 2009.
  • Michael Charlton: The Price of Victory. London 1983.
  • Martin Gilbert: ‘Never Despair’. Winston S. Churchill 1945–1965. Vol. VIII. London 1988.
  • Hanns Jürgen Küsters: Der Integrationsfriede. Viermächte-Verhandlungen über eine Friedensregelung mit Deutschland 1945–1990. München 2000.
  • Klaus Larres: Churchill’s Cold War. The politics of personal diplomacy. New Haven/London 2002.
  • Walter Lipgens: Die Anfänge europäischer Einigungspolitik 1945–1950. Erster Teil: 1945–1947. Stuttgart 1977.
  • Walter Lipgens/Wilfried Loth: Documents on the History of European Integration. Vol. 3: The Struggle for European Union by Political Parties and Pressure Groups in Western European Countries 1945–1950. Berlin/New York 1988.
  • Frank Niess: Die europäische Idee. Aus dem Geist des Widerstands. Frankfurt/Main 2001.
 

 

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Denise Lindsay M.A.

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