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Liberalismus
von Ines Soldwisch
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Der Liberalismus ist die älteste der modernen politischen Strömungen. Er hat im Laufe der Geschichte zahlreiche Veränderungen durchlaufen. Auch wenn es keine einheitliche Definition und scharfe Abgrenzung gibt, so existieren doch bis heute universelle Werte und Leitbilder, die zeitlose Gültigkeit beanspruchen und den Liberalismus als Ideologie charakterisieren. Aufklärerisch-liberale Ideen sind dabei älter als der politische Begriff, den wir heute kennen. Politisch wird der Begriff zum ersten Mal 1812 in den spanischen Cortes, als sich die Anhänger der Verfassung als „los liberales“ bezeichneten. Die Entstehung des Liberalismus als geistige Bewegung lässt sich dem letzten Drittel des 17. Jahrhunderts zuordnen.
Die wesentlichen Werte des Liberalismus, die als Grundrechte bezeichnet werden können, sind: Leben, Freiheit, Eigentum, das Streben nach Glück und Verantwortung. Dabei steht die individuelle Freiheit immer im Mittelpunkt aller Überlegungen. Sie ist nicht grenzenlos, sondern endet mit dem berühmten Leitsatz Immanuel Kants für das einzelne Individuum dort, wo sie die Freiheit eines anderen Individuums verletzen würde. Damit wiederum wird die Eigenverantwortung gefördert, ein weiterer wichtiger liberaler Grundsatz menschlichen Handelns, um Sicherheit und Wohlergehen in einer Gesellschaft zu ermöglichen (Kant, Methaphysik der Sitten, 1797). Der Liberalismus beruht auf den Axiomen der ganz Europa umfassenden philosophischen Bewegung der Aufklärung im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts und ist eng mit der sich entfaltenden Verfassungsbewegung verknüpft. Zielte diese darauf ab, das Individuum durch verbriefte Grundrechte vor der willkürlichen Gewalt des Staates zu schützen, ging der Liberalismus ein Stück weiter, indem er den Schutz durch diese Grundrechte erweiterte und das geistig emanzipierte Individuum, dass frei die öffentlichen Angelegenheiten mitformen sollte, in den Mittelpunkt seines Weltbildes setzte.
Philosophische Grundlagen des Liberalismus
Zahlreiche Prinzipien der neuzeitlichen Philosophie prägten den Liberalismus, etwa der Gesellschaftsvertrag als Grundlage des Staates von Thomas Hobbes (Leviathan, 1651), das liberale Menschenbild von John Locke (Two Treatises on Government, 1689), das Leben, Freiheit und Eigentum als natürliche Rechte beschützt, das Prinzip der Gewaltenteilung von Charles de Montesquieu (De l’esprit des lois/Vom Geist der Gesetze, 1748) oder die Idee der Gesellschaft als gemeinschaftliches Zusammenspiel von John Stuart Mill (On liberty/Über die Freiheit, 1859). Der Liberalismus beruft sich in seinem allumfassenden Anspruch ebenso auf die Idee menschlicher Rechts- und Tugendpflichten und der Vernunft Immanuel Kants (Kritik der reinen Vernunft, 1781), auf die Bedeutung von Arbeitsteilung, Freihandel und Streben nach Eigeninteresse für den Wohlstand, die Adam Smith (An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations/Der Wohlstand der Nationen, 1776) formuliert hat, ebenso wie auf die Erziehungs- und Bildungsideen von Jean-Jaques Rousseau (Émile ou De l’éducation/Emile oder über die Erziehung, 1762). Diese Vordenker des Liberalismus belegen die Vielschichtigkeit des Begriffs und der Ideologie. Sie sind, je nach politischem Kontext, nach gesellschaftlichen und kulturellen Begebenheiten wandelbar, bleiben aber in ihren Kernaussagen bestehen. Das gilt es bei jeder historischen Betrachtung zu berücksichtigen.
Geschichte des Liberalismus
Die Entstehung des Liberalismus ist eng mit der Bewegung der Aufklärung und den großen Revolutionen u.a. in England (1688), Frankreich (1789) und Nordamerika (1776) verbunden. Diese Revolutionen und ihre politischen Nachwirkungen markieren ein gesellschaftliches Phänomen, das allgemein als das „Zeitalter der Moderne“ bezeichnet wird. Durch die Bewegung der Aufklärung war das bisher geltende Weltbild in Frage gestellt worden. Aus aufklärerischen Prämissen wurden dann politische Forderungen, denn empfänglich für die Ideen der Aufklärung war eine ganz bestimmte soziale Gruppe: die Oberschicht des dritten Standes, also diejenigen, die trotz ihrer individuellen Fähigkeiten und materiellen Möglichkeiten wegen ihrer nichtadeligen Herkunft der Zugang zu politischem Einfluss und sozialem Prestige verschlossen war. Diese soziale Gruppe setzte sich zusammen aus reichen Kaufleuten und Fabrikanten, nichtadeligen Beamten, bürgerlichen Großgrundbesitzern, Akademikern und anderen Intellektuellen. Ihr Streben nach politischer Beteiligung und die Ideen der Aufklärung, die sie teilten, wurden zum Sprengsatz der alten ständisch-feudalen Gesellschaft, deren Aufbrechen den Aufstieg des Liberalismus begünstigte. Diese Sprengkraft speiste sich aus mehreren Faktoren: Der geistigen Revolution der Aufklärung, der politischen Krise der Monarchie und der wirtschaftlichen Krise, die zur industriellen Revolution werden sollte. Diese welthistorischen Umwandlungsprozesse wurden größtenteils von bürgerlichen Kreisen getragen.
Gegenüber Frankreich und England war die Situation in Deutschland durch die Kleinstaaterei eine völlig andere. Sie begünstigte einerseits die Verbreitung der Aufklärung, denn es existierte eine Vielzahl an Universitäten, behinderte aber andererseits den Durchbruch der industriellen Revolution und das Aufkommen eines breiten Wirtschaftsbürgertums. Der „aufgeklärte Absolutismus“ nährte bei vielen deutschen Liberalen und Reformwilligen die Überzeugung, dass Verbesserungen nicht unbedingt gegen die Staatsmacht durchgesetzt werden müssten. „Freiheit und Einheit“ waren die Schlagworte der liberalen Bewegung in Deutschland, wobei es durchaus Diskussionen darüber gab, welcher Forderung der Vorrang gebühre. In der Revolution von 1848/49 konnte kein gesamtdeutscher Verfassungsstaat – das politische Ziel vieler Liberaler und Reformer – geschaffen werden.
Der Eintritt in die Moderne, die europäischen Revolutionen, die Verfassungsbewegungen, die industrielle Revolution und damit einhergehend die Entstehung der Arbeiterbewegung führten dann im Laufe des 19. Jahrhunderts zu einer Ausdifferenzierung des Liberalismus in Europa, je nach nationalen Gegebenheiten. Verschiedene Strömungen entstanden in diesem Zusammenhang, z.B. der Sozialliberalismus und der Wirtschaftsliberalismus. Diese inhaltliche Ausdifferenzierung führte zur Minderung der politischen Schlagkraft des politischen Liberalismus in der Organisationsform von Parteien. Besonders gut erkennbar war dies an den beiden deutschen liberalen Parteien der Weimarer Republik, der Deutschen Demokratischen Partei (DDP) und der Deutschen Volkspartei (DVP). Zur Schwächung des politischen Liberalismus trugen außerdem neue Akteure auf der politischen Bühne bei: Verbände, Vereinigungen, Interessenverbände, die den Parteien ihre alleinige politische Verantwortung und Macht streitig machten.
Diese Schwäche der liberalen Parteien als Organisationsform des Liberalismus ist auch nach dem Zweiten Weltkrieg bis in die heutige Zeit zu beobachten. Ursprünglich liberale Werte sind inzwischen zu demokratischen Werten geworden und haben somit Einzug in die Programmatik vieler demokratischer Parteien gefunden. Sie sind damit kein Alleinstellungsmerkmal liberaler Politik mehr. Ideengeschichtlich entwickelte sich der Liberalismus weiter, z.B. in Richtung des Neo-Liberalismus oder des Ordo-Liberalismus. Schwierig gestaltete sich, die inzwischen zahlreichen nationalen Ausdifferenzierungen in einen europäischen parteipolitischen Liberalismus zu bündeln. Selbst in europäischen Parteien oder auch in der liberalen Fraktion des Europäischen Parlaments, treffen unterschiedliche nationale Werte aufeinander, die immer wieder neu verhandelt werden müssen. Dennoch – und dies eint die europäischen Liberalen – gültig sind bis heute der Schutz der zentralen Werte, die sich Liberale seit Jahrhunderten zu eigen machten: Leben, Freiheit, Individuum, Eigenverantwortung und Eigentum.
Liberalismus und westliche Demokratie
Für die Entstehung westlicher Demokratien ist die Bewegung des Liberalismus grundlegend. Liberale und Reformer gelten als die Vorkämpfer der Verfassungsbewegung, ein zentrales Element jedes demokratischen Rechtsstaats. Volkssouveränität wäre ohne Liberale und Reformer lange nicht denkbar gewesen. Der Schutz des Individuums als zentrale Aufgabe des Staates ist das Ergebnis liberaler Bemühungen. Das Gleiche gilt für den Grundsatz des Schutzes des Individuums vor Eingriffen des Staates in sein persönliches Leben. Der Liberalismus ist die Grundlage für das Konzept der Gleichheit aller vor dem Gesetz. Jedes Individuum hat demzufolge das Recht auf politische, berufliche und soziale Chancengleichheit, unabhängig von Herkunft, Geschlecht, Alter und finanziellen Möglichkeiten. Dieser Gleichheitsgrundsatz, Merkmal aller westlichen Demokratien, ist und war schon immer Fundament des Liberalismus und der Demokratie, die auf vielen Axiomen des Liberalismus aufbaut. Die freie Marktwirtschaft als Element des Kapitalismus war und ist Grundlage für den Wohlstand vieler Staaten Europas und war Vorbild für Staaten Osteuropas nach dem Fall des Eisernen Vorhangs.
Besonders deutlich lassen sich diese Prinzipien bei der Entstehung der Bundesrepublik Deutschland erkennen. Schon bei den Beratungen für das deutsche Grundgesetz im Parlamentarischen Rat – unter anderem durch den ersten Bundespräsidenten Theodor Heuss und den ersten Bundeskanzler Konrad Adenauer – wurde die Bejahung der westlichen Demokratie besonders deutlich, die sich dann in der ersten Regierung zeigte. Vor allem die Idee der freien Marktwirtschaft fand Eingang auch in die zentrale Programmatik der großen Volksparteien, erkennbar an der Bejahung der Wettbewerbspolitik im wirtschaftlichen Bereich, die bis heute Kernthema u.a. der CDU ist.
Literatur:
- Gall, Lothar (Hrsg.): Liberalismus. Königstein i. Ts. 1985.
- Langewiesche, Dieter: Liberalismus in Deutschland. Frankfurt a. M. 1988.
- Leonhard, Jörn: Liberalismus, Zur historischen Semantik eines europäischen Deutungsmusters. München 2001.
- Rawls, John: Politischer Liberalismus. Frankfurt am Main 2003.
- Steltemeier, Rolf: Liberalismus, Ideengeschichtliches Erbe und politische Realität einer Denkrichtung. Baden-Baden 2015.
- Vierhaus, Rudolf: Liberalismus, In: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Bd. 3, Stuttgart 1982, S. 741–785.