Großfamilie und katholisches Milieu
Aenne Brauksiepe kommt am 23. Februar 1912 als zweite Tochter des Reichsbahnbeamten Heinrich Engels und seiner Frau Käthe in Duisburg zur Welt. Ihre Kindheit und Jugend ist geprägt vom als außerordentlich glücklich empfundenen Zusammenleben in der Großfamilie, zu der neben Eltern und Schwester noch die Großeltern, eine Urgroßmutter sowie 22 Tanten und Onkel gehören. Die Mutter engagiert sich in der katholischen Frauenbewegung und in der Zentrumspartei. Während der großen Arbeitslosigkeit im Zuge der Weltwirtschaftskrise ab 1929 bemüht sie sich, in den Arbeitervierteln der Stadt die größte Not zu lindern und wird bei diesen „Engelgängen“ häufig von ihren Töchtern begleitet. Für Aenne Brauksiepe ist das ehrenamtliche Engagement innerhalb des katholischen Milieus daher eine Selbstverständlichkeit. Sie betätigt sich in der katholischen Jugendbewegung und ist Vorsitzende des Liebfrauenbundes in Duisburg, einer Vereinigung von Schülerinnen der von den „Schwestern unserer lieben Frau“ geleiteten Schulen. 1931 legt sie am katholischen Oberlyzeum das Abitur ab und arbeitet zunächst als Erzieherin in einem Heim für blinde und behinderte Kinder. Da sie aufgrund der politischen Haltung der Familie im „Dritten Reich“ nicht zum Studium zugelassen wird, verlässt sie Deutschland und besucht ein College in Glasgow. Nach der 1937 erfolgten Heirat mit dem Journalisten Werner Brauksiepe lebt sie sechs Jahre in den Niederlanden und unterrichtet erneut körperbehinderte Kinder. 1943 kehrt sie nach Duisburg zurück, wo auch ihr einziges Kind, ein Sohn, zur Welt kommt.
Engagement in der „Zusammenbruchsgesellschaft“
Trotz der Sorge um ihren an der Front vermissten Mann, der erst 1946 heimkehrt, stürzt sich Aenne Brauksiepe unmittelbar nach Kriegsende in die caritative und politische Arbeit. So gründet sie mit der Frau von Oberbürgermeister Heinrich Weitz im schwer zerstörten Duisburg einen überparteilichen Frauenausschuss zur Unterstützung von Flüchtlingen, Obdachlosen und anderen Bedürftigen. Sie befürwortet die Bildung einer überkonfessionellen christlichen Volkspartei und gehört zu den Mitgründern der CDU in ihrer Heimatstadt. Nach den ersten Kommunalwahlen am 13. Oktober 1946 zieht sie als einzige Frau in die Stadtverordnetenversammlung ein. Eine solche „Rathaustätigkeit“ sei, wie sie rückblickend schreibt, „die beste Vorschule für spätere politische Einsätze“. Man lernt „zu formulieren, in Fachausschüssen weiter zu denken, die Gegenseite zu akzeptieren als bemüht … und hinterher den Mehrheitsbeschluss mit Spaß hinzunehmen“. Auch in der kirchlichen Jugend- und Frauenarbeit ist sie wieder aktiv, engagiert sich als zweite Vorsitzende für den Katholischen Deutschen Frauenbund (KDFB) und knüpft – wie schon in der Weimarer Zeit – erneut internationale Kontakte.
Mitglied des Deutschen Bundestages
Der KDFB ist es auch, der sich für sie als Kandidatin für die Wahl zum 1. Deutschen Bundestag stark macht. Nach einigem Zureden willigt Aenne Brauksiepe ein, im Wahlkreis Köln II zu kandidieren. Sie gewinnt das Mandat mit deutlichem Vorsprung und verteidigt es bei den folgenden Wahlen immer wieder erfolgreich. Ständig pendelt sie nun zwischen Bonn, dem münsterländischen Oelde, wo die Familie seit Mitte der 1950er Jahre wohnt, und ihrem Kölner Wahlkreis. Im Parlament befasst sie sich mit frauenrelevanten Themen wie dem Mutterschutzgesetz, der Einführung eines Kindergeldes ab dem 3. Kind und der Witwenrente, ohne sich auf diese Bereiche zu beschränken. Ebenso engagiert ficht sie für eine Aussöhnung mit den früheren Kriegsgegnern, die Abwehr des Kommunismus und die europäische Integration. So bestreitet sie 18 größere Versammlungen zur Popularisierung des Schuman-Planes und verteidigt diesen resolut gegen Kritiker. Bundesweite Bekanntheit erlangt Aenne Brauksiepe durch eine fulminante Rede in der großen Wehrdebatte des Deutschen Bundestages am 7. Februar 1952. Sie ist sich darüber im Klaren, dass nur dann ein breiter gesellschaftlicher Konsens über die Notwendigkeit eines bundesdeutschen Wehrbeitrags herzustellen ist, wenn es gelingt, die Zustimmung der durch den Krieg vielfach leidgeprüften und darum oftmals zögernden Frauen zu gewinnen. Eindringlich wendet sie sich gegen den angesichts der kommunistischen Bedrohung in ihren Augen illusionären und gefährlichen Neutralismus, wie ihn die Zentrumspolitikerin Helene Wessel in derselben Debatte vertritt. „Ausweichen in die Neutralität“ sei schlicht „nicht möglich“. Ein deutscher Wehrbeitrag wäre angesichts der Weltlage „ein der Sicherung des Friedens dienendes Verteidigungsinstrument“ und das Ja der Frauen hierzu daher ein Beitrag zur Friedenssicherung und zur Wahrung der eigenen Freiheit. Die Rede wird von ihrer Partei als Broschüre unter dem Titel „Eine Frau spricht gegen die Angst“ verbreitet. In der 2. Hälfte der 1950er Jahre wird Aenne Brauksiepe mehr und mehr zur entscheidenden Figur innerhalb der Frauengruppe der CDU/CSU-Fraktion des Deutschen Bundestages. Am 15. Dezember 1964 wird sie als Nachfolgerin der verstorbenen Luise Rehling zur stellvertretenden Vorsitzenden ihrer Fraktion gewählt.
Für ein partnerschaftliches Verhältnis von Mann und Frau
Immer wieder ermutigt sie Frauen, von überkommenen Rollenbildern Abschied zu nehmen und in Staat und Gesellschaft mitgestaltend tätig zu werden: „Wir Frauen sind eine Macht, dass wir es nicht wissen, schränkt unsere Macht ein.“ Ziel ist ein partnerschaftliches Verhältnis der Geschlechter, denn „die Last der Geschichte ist Männern und Frauen gleichermaßen auferlegt“. Schon früh erkennt sie die tiefgreifenden Veränderungen hinsichtlich der weiblichen Rolle in Familie und Volkswirtschaft. Zu den „Grundsatzfragen künftiger Familienpolitik“ zählt sie die Herausforderung, die Familie als Grundwert der Verfassung zu erhalten, zugleich aber die persönliche und berufliche Entwicklung von Frauen und Jugendlichen zu fördern. Im Frühjahr 1968 mahnt Aenne Brauksiepe gegenüber Bundeskanzler Kiesinger die Umsetzung der Ergebnisse der Frauen- und Sozialenquete an, deren Bericht 1966 vorgelegt worden war. Es müsse den Frauen ein flexibler Berufsweg und die Vereinbarung von Berufstätigkeit und Kindererziehung ermöglicht werden. Die vorgeschlagenen Maßnahmen muten höchst aktuell an: Anrechnung von Erziehungszeiten in der Rentenversicherung, Förderung von Weiterbildungsmaßnahmen, Ausbau von Kindergärten und Ganztagsschulen.
Anerkennung unterschiedlicher Lebensentwürfe
Allerdings betont sie stets die Differenziertheit und dennoch Gleichrangigkeit weiblicher Lebensläufe. Alleinstehende berufstätige Frauen, alleinerziehende Mütter, verheiratete Frauen mit Beruf und Kindern verdienten ebenso gesellschaftliche Anerkennung und Förderung wie „Nur-Hausfrauen“. Konsequent fordert sie von Staat und Wirtschaft, Frauen nach der Kindererziehung die Rückkehr in das Berufsleben durch Weiterbildung, Umschulung usw. zu ermöglichen. 1958 übernimmt sie von Helene Weber den Vorsitz der Bundesvereinigung der Frauen der CDU, die damals von einer konfessionellen Doppelspitze geführt wird. Nach einer entsprechenden Satzungsänderung wird sie 1969 alleinige Vorsitzende. Während ihrer Amtszeit werden die Organisation gestrafft, Fachausschüsse gebildet sowie vermehrt Seminare zur politischen Bildung, Studientagungen, Delegiertenkonferenzen und zentrale Kongresse durchgeführt. 1964 findet unter dem Titel „Frau und Arbeitswelt – morgen“ der erste Frauenkongress der CDU statt, an dessen Ende Aenne Brauksiepe hervorhebt, man habe der eigenen Partei die Kluft zwischen dem antiquierten, in der Gesellschaft gleichwohl immer noch vorherrschenden Frauenbild und der gesellschaftlichen Realität bewusst machen können. 1969 erfolgt ein weiterer großer Frauenkongress mit dem Thema „Die Frau im Spannungsfeld unserer Zeit“, der sich vor allem mit dem Spannungsfeld von familiären und außerfamiliären Aufgaben auseinandersetzt. Auch im Bundesvorstand ihrer Partei, dem sie seit 1956 angehört, sowie im Präsidium, in das sie 1966 aufrückt, kämpft sie für ihre Positionen.
Bundesministerin im Kabinett Kiesinger
Aenne Brauksiepe gilt schon lange Zeit als „ministrabel“. Als der amtierende Bundesminister für Familie und Jugend, Bruno Heck, der zugleich Generalsekretär der CDU ist, ein Jahr vor Ende der Legislaturperiode auf sein Amt verzichtet, um den Wahlkampf für seine Partei vorzubereiten, wird sie im Oktober 1968 seine Nachfolgerin. Sie ist damit nach Elisabeth Schwarzhaupt (CDU) und Käte Strobel (SPD) die dritte Bundesministerin in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. In ihre kurze Amtszeit fallen Initiativen für einen Ausbau des Familienlastenausgleichs, die Einführung eines „Bundesaltenplans“, die Schulfreiheit an Samstagen, damit v.a. die Väter mehr Zeit mit ihren Kindern verbringen können sowie die rechtliche Gleichstellung unehelicher Kinder. Verabschiedet wird das „Erste Gesetz über individuelle Förderung und Ausbildung“, das in Fortschreibung des sog. „Honnefer Modells“ die Ausbildungs- und Studienförderung junger Menschen regelt. In diesem Zusammenhang wird sie auch unmittelbar mit der protestierenden akademischen Jugend konfrontiert, als eine Gruppe Studenten ungehindert in ihr Ministerium eindringen kann und vor dem Ministerbüro ein „Sit-In“ veranstaltet, um dagegen zu protestieren, dass ein „repressionsfreies Studium“ nicht möglich sei. Die Reaktion von Aenne Brauksiepe verblüfft Protestierer wie Mitarbeiter: Sie lässt sich ein Sitzkissen bringen, nimmt Platz und diskutiert zwei Stunden mit den jungen Leuten, denen sie eine Fortsetzung des Gesprächs anbietet, „wenn alle sich sachkundig gemacht haben“.
Kämpferischer Einsatz
Gelegentlich äußert Aenne Brauksiepe die Überzeugung, man müsse als Frau in der Politik „auftreten wie eine Lady und kämpfen wie ein Schlachtross“. Diese Kampfeslust bekommt unter anderem der Schriftsteller Heinrich Böll zu spüren, der im Juli 1969 in einem „Offenen Brief an eine deutsche Frau“ in reichlich herablassendem Ton den Versuch unternimmt, die Wählerinnen der Union „aus der unwürdigen Situation zu befreien, ´Stimmvieh´ für die CDU/CSU zu sein“. Sie sollten nicht aus falsch verstandener Treue und Gewohnheit ihre Wahlentscheidung treffen und „ihre Sympathien erotischer Art streng von der Politik trennen“. Aenne Brauksiepe antwortet ihm unter der Überschrift „Ansichten eines Clowns“ mit schneidender Schärfe: Böll wisse nichts von Frauen und nichts von Politik, besitze aber – einem Clown angemessen – „einen unerhörten Mut zur Lächerlichkeit“. Hinter der Wahlentscheidung von Frauen stecke „eine sehr bewusste politische Entscheidung“, diese wüssten „besser als die Träumer vom Schlage eines Herrn Böll, worauf es ankommt“.
Abschied von der Bundespolitik
Aenne Brauksiepe die sich nach dem Ausscheiden aus dem Ministeramt 1969 sukzessive aus ihren zahlreichen Ämtern und Funktionen zurückzieht, wird mit zahlreichen staatlichen und kirchlichen Auszeichnungen geehrt. Im Rahmen einer Feier zu ihrem 75. Geburtstag würdigt Bundeskanzler Helmut Kohl ihre Verdienste und stellt fest: „Die Frauenpolitik der Bundesrepublik wäre ohne sie nicht möglich gewesen.“
Am Neujahrstag des Jahres 1997 stirbt Aenne Brauksiepe in Oelde. Sie war, wie ihre frühere Mitstreiterin Hanna-Renate Laurien schreibt, eine der Frauen, „die sich zu Wort melden und nicht in einer Tanzstundenhaltung warten, bis man sie auffordert“ und habe „durch ihr Reden und Tun, durch ihr Verhalten und ihre Konzeptionen entscheidend zum Wandel des Frauenbildes in Deutschland beigetragen“.
Lebenslauf
- 1931 Abitur
- 1933 nicht zum Studium zugelassen, Mitgründerin der CDU in Duisburg
- 1946–1948 Stadträtin
- 1949–1972 MdB (1964–1968 stellvertretende Fraktionsvorsitzende)
- 1958–1971 Vorsitzende der Frauenvereinigung (Frauen-Union)
- 1967–1969 stellvertretende Bundesvorsitzende der CDU
- 1968-69 Bundesministerin für Familie und Jugend.
Literatur
- Christa Schroeder: Von einer mitreißenden Überzeugung: Aenne Brauksiepe. In: Renate Hellwig (Hg.), Die Christdemokratinnen - Unterwegs zur Partnerschaft Stuttgart/Herford 1984), S. 184–193.
- Hanna-Renate Laurien: Aenne Brauksiepe – immer einen Schritt voraus. In: Monika Weichert-von Hassel (Hg.): Der zerrissene Schleier. Frauen in unserer Zeit. Bonn 1987, S. 209ff.
- Marlene Lenz (Hg.): Aenne Brauksiepe zum 75. Geburtstag. Selbstdruck 1987.
- Brigitte Kaff: Aenne Brauksiepe (1912–1997). In: Jürgen Aretz/Rudolf Morsey/Anton Rauscher (HG.): Zeitgeschichte in Lebensbildern. Aus dem deutschen Katholizismus des 19. und 20. Jahrhunderts. Bd. 9. Münster 1999, S. 277–289.