Herkunft und Studium
Am 17. Januar 1812 wurde Ludwig Windthorst auf Gut Kaldenhof bei Ostercappeln geboren. Das Kind war zwergwüchsig, das schlechte Gehör und die schwachen Augen blieben zeitlebens eine Belastung. In einem Zeitalter, in dem körperliche Behinderung häufig mit mangelnder Intelligenz gleichgesetzt wurde, war dies ein nicht unwesentliches Handicap. Nach dem Tod des Vaters 1822 geriet die Familie zudem noch in finanzielle Bedrängnis. Der Schulunterricht war für Ludwig Windthorst anfänglich eine Qual, allerdings trieben ihn die Misserfolge dazu, die für ihn später charakteristische Beharrlichkeit zu entwickeln. Obwohl ein Lehrer in völliger Verkennung von Windthorsts Intelligenz zu einer Drechslerlehre geraten hatte, schaffte er 1830 ein glänzendes Abitur und konnte trotz seiner angespannten wirtschaftlichen Verhältnisse das Jurastudium in Göttingen aufnehmen. Für einen weitgehend mittellosen Studenten waren die Rechts- und Staatswissenschaften in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts – neben dem Theologiestudium – die einzige realistische Möglichkeit, über einen akademischen Beruf mit einem entsprechenden Einkommen später der Familie die Auslagen und Entbehrungen zu ersetzen, die sie auf sich genommen hatten, um ihm das Studium zu ermöglichen. Später wechselte Windthorst nach Heidelberg und schloss sein Studium 1834 ab. Es schloss sich das übliche zweijährige Referendariat an, bevor er sich als Anwalt niederließ.
Justizminister im Königreich Hannover
Das nächste Jahrzehnt in Windthorsts Leben verlief unspektakulär, aber allem Anschein nach glücklich. Mit der ihm eigenen Beharrlichkeit warb er um die deutlich ältere Julie Engelen, eine Tochter aus gutem Haus, und heiratete sie 1838. Der Ehe entstammten vier Kinder, die – bis auf eine Tochter – alle noch vor Windthorst starben. Seine Anwaltskanzlei war einträglich, Windthorst agierte häufig im Umfeld der katholischen Kirche und der verfassten Ritterschaft. Als Katholik gehörte er im Königreich Hannover zu einer widerwillig geduldeten Minderheit, als Anwalt und juristischer Vertreter der Ritterschaft war er dem autokratischen Welfenhaus doppelt suspekt. König Ernst August I. hatte 1837 die Verfassung von 1833 aufgehoben und damit eine innenpolitische Krise in Hannover ausgelöst, die bis zur Annexion durch Preußen 1866 weiterschwelen sollte.
In der Revolution 1848/49 unternahm Windthorst mehrere Anläufe, um ins hannoversche Parlament gewählt zu werden. Ab 1849 vertrat er Iburg in der Zweiten Kammer. Die Tätigkeit als Parlamentarier wies im 19. Jahrhundert deutlich andere Rahmenbedingungen auf als heutzutage. Die Diäten ersetzten in der Regel nicht einmal die erhöhten Fahrt- und Lebenshaltungskosten, Abgeordneter konnte – und sollte – nur sein, wer wirtschaftlich unabhängig war. Außerdem drohten bei zu starker oppositioneller Tätigkeit in der Kammer Schikanen der Regierung, die besonders für einen Anwalt im Umfeld von staatlichen Mandaten wirtschaftlich bedrohlich sein konnten. Andererseits schloss die Stellung ein immenses Sozialprestige ein; Windthorst war nun arriviert.
Im Parlament verfolgte er von Anfang an eine Position zwischen den regierungsfeindlichen Liberalen und der Regierung, die sich auch aus seiner Rolle als inoffizieller Vertreter der hannoverschen Katholiken ergab. Er profilierte sich bald als glänzender Redner und parlamentarischer Taktiker, dem allerdings auch von seinen Gegnern wohl nicht immer zu Unrecht Doppelzüngigkeit vorgeworfen wurde. Als sich die Mehrheitssituation Anfang der 1850er Jahre verschob, trat Windthorst 1851 als Justizminister in die Regierung ein – ein immenser sozialer Aufstieg für einen nichtadeligen katholischen Akademiker. Seine Entlassung erfolgte 1853 mit Beteiligung des preußischen Bundesratsgesandten Otto von Bismarck. In den folgenden fünfzehn Jahren befand sich Windthorst immer wieder phasenweise in Opposition zum erratisch agierenden Monarchen, dem blinden König Georg V., und verfolgte parallel dazu eine Karriere im Justizdienst des Landes weiter. 1862 bis 1865 schloss sich eine zweite Amtszeit als Justizminister an, bei der sich der großdeutsch ausgerichtete Windthorst stark in verschiedenen Projekten zur Reform des Deutschen Bundes engagierte. Im Gefolge des Fürstentages von Frankfurt 1863 war Bewegung in den angeblich so immobilen Deutschen Bund gekommen und auf vielen Gebieten – Währung, Handelsgesetzbuch, gemeinsame Außenpolitik – wurden Konzepte entwickelt, die Bismarck nach der Reichseinigung mit Erfolg umsetzte. In den Nachwehen einer borussischen Geschichtsschreibung wird dies freilich bis heute nur unzureichend wahrgenommen. Nach seinem zweiten Rücktritt übernahm Windthorst das Amt des Kronoberanwalts in Celle.
Zwischen „deutschem Krieg“ und Unfehlbarkeitsdogma
1865/66 gelang es dem im gesamten Deutschen Bund ungeliebten preußischen Ministerpräsidenten Otto von Bismarck, seinen Monarchen und den Deutschen Bund in einen bewaffneten Konflikt hineinzumanövrieren. Es war deutlich geworden, dass bei einer Reform des Bundes die Mehrheit der Staaten eher zu einer österreichischen Führung als zu einer preußischen Dominanz tendieren würden, während andererseits Preußen militärisch nach den gegen massive innenpolitische Widerstände durchgesetzten Heeresreformen gut gerüstet war. Obwohl die wichtigsten deutschen Mittelstaaten – Bayern, Sachsen, Hannover – an die Seite Österreichs traten, wurde mit der für Österreich verlorenen Schlacht bei Königgrätz am 3. Juli 1866 die Frage der Vorherrschaft im Deutschen Bund zugunsten Preußens entschieden. Preußen annektierte neben kleineren Gebieten auch das Königreich Hannover. Die Annexion wurde von Teilen der Hannoverschen Bevölkerung, insbesondere der bürgerlich-liberalen Opposition gutgeheißen, während die Katholiken mehrheitlich den Welfen anhingen.
Generell stellte sich für die Katholiken im neugegründeten „Norddeutschen Bund“ die Frage, wie sie sich zu der sich abzeichnenden kleindeutschen Lösung stellen sollten. Windthorst vertrat hier eine Position ähnlich der des ihm vertrauten Bischofs von Mainz, Wilhelm von Ketteler. Dieser wohl sozialpolitisch profilierteste deutsche Bischof im 19. Jahrhundert hatte die deutschen Katholiken in seiner weit verbreiteten Flugschrift „Deutschland nach dem Kriege von 1866“ gedrängt, sich „auf den Boden der Tatsachen“ zu stellen und das neue Reich mitzugestalten. Nachdem Windthorst aus dem nun preußischen Justizdienst ausgeschieden war, ließ er sich 1867 sowohl für die Wahlen zum Preußischen Abgeordnetenhaus wie für den Reichstag des Norddeutschen Bundes aufstellen und errang jeweils das Mandat. Entscheidend war hierfür – und daran sollte sich bis zu seinem Tode nichts ändern – die feste Unterstützung durch die örtliche Honoratiorenschaft, insbesondere die regionalen Adelsfamilien, und die katholische Kirche. In beiden Parlamenten schloss sich Windthorst anfangs konstitutionell-liberalen Gruppierungen an.
Die kirchenpolitischen Rahmenbedingungen änderten sich jedoch in den Jahren zwischen dem „deutschen Krieg“ und der Reichsgründung deutlich. Zum einen führte die parallel stattfindende Bildung des italienischen Nationalstaates, die nur möglich war durch den Sieg Preußens über Österreich, zwangsläufig zur Zerschlagung des Kirchenstaates. Damit ergab sich für die Katholiken in Deutschland, in Frankreich und Belgien die Forderung nach dessen Wiederherstellung, eine politische Hypothek, die sie jeweils innenpolitisch in Gegensatz zu ihren nationalen Regierungen brachte, die natürlich nicht daran dachten, dadurch die Beziehungen zum Königreich Italien zu belasten. Gleichzeitig bestand die innerkirchliche Gegenreaktion darin, im I. Vatikanischen Konzil 1869–70 die Lehre von der päpstlichen Unfehlbarkeit als Dogma festzuschreiben. Das Dogma, das wohl ohne die äußere Bedrohung so nicht von der Konzilsmehrheit angenommen worden wäre, belastete die Beziehungen der Katholiken zur liberal bestimmten öffentlichen Meinung in den meisten europäischen Staaten zusätzlich. Auch innerkirchlich stark umstritten – Bischof Ketteler etwa reiste aus Rom vorzeitig ab, um nicht mit abstimmen zu müssen – führte es zur Abspaltung der Altkatholiken, die sich ihm nicht unterwerfen wollten.
In Preußen kam Bismarck die empörte Reaktion der Öffentlichkeit auf das sich abzeichnende Unfehlbarkeitsdogma wie gerufen. Antikatholizismus, der „Antisemitismus für Intellektuelle“, ließ sich in seinem macchiavellistischen Instrumentarium hervorragend verwenden, um endgültig die Liberalen auf seine Seite zu ziehen. Nachdem die Liberalen schon mit der Indemnitätsvorlage, die Bismarcks ohne parlamentarische Legitimation durchgeführte Heeresreform im Nachhinein legalisierte, dessen rapide steigender Popularität Rechnung getragen hatten, gingen sie jetzt mit dem Reichskanzler bei der Bekämpfung „römischen Ungeistes“ zusammen.
Parlamentarischer Gegenspieler Bismarcks im Kulturkampf
Der letzte Schritt zur Reichseinigung war der deutsch-französische Krieg. Der innenpolitisch schwache Kaiser Napoleon III. tappte in eine diplomatische Falle Bismarcks und unterschätzte, in welchem Maße die Deutschen der gemeinsame Feind Frankreich einen würde. Nach wenigen Monaten Krieg kam es am 18. Januar 1871, dem traditionellen preußischen Krönungstag, zur Kaiserproklamation im Spiegelsaal von Versailles. Auf die innenpolitische Situation der deutschen Katholiken hatte die Reichgründung vor allem durch die veränderte Perspektive der Liberalen Auswirkungen. Bismarck avancierte durch die Vollendung der kleindeutschen Lösung in der öffentlichen Meinung endgültig vom „Eisenfresser“ zum „Reichseiniger“. In der Folge bestand eine wesentliche Gemeinsamkeit zwischen national-liberal dominierten Parlamenten und der Reichsregierung darin, eine die Katholiken diskriminierende Sondergesetzgebung durchzusetzen. In den nächsten Jahren wurde im Reich der Jesuitenorden verboten, später sogar alle Orden, soweit sie sich nicht mit Krankenpflege befassten. In den berüchtigten preußischen Maigesetzen (1873–75) wurde die katholische Kirche auch in innerkirchlichen Angelegenheiten der staatlichen Gerichtsbarkeit unterstellt und de facto die Staatsdotationen abgeschafft („Brotkorbgesetz“). Der „Kanzelparagraph“ (1871) stellte politische Äußerungen durch Geistliche unter Strafe, ihre Ausbildung wurde staatlicher Aufsicht unterstellt. Durch die Ausweisung mehrerer hundert Ordensangehöriger aus dem Deutschen Reich wollte man die katholische Kirche personell schwächen. Organisatorisch schaffte man durch die Aufhebung der katholischen Abteilung im Preußischen Kultusministerium die Voraussetzung für eine Säkularisierung der Schulbildung. Der liberale Abgeordnete Rudolf Virchow prägte für die Auseinandersetzung den diskriminierenden Namen „Kulturkampf“.
Die Folgen waren jedoch völlig andere als von Bismarck und den Liberalen erwartet. Weit davon entfernt, sich zu unterwerfen, reagierten die katholischen Parlamentarier im Preußischen Abgeordnetenhaus und im Reichstag schon auf die ersten Anzeichen einer Diskriminierung 1870 mit dem Zusammenschluss zur Fraktion des Zentrums. Auch wenn dies eine katholische Fraktion war, gehörten ihr von Anfang an auch evangelische Abgeordnete an, so etwa die Vertreter der Welfenpartei als Hospitanten. Auf dem Höhepunkt des „Kulturkampfes“ in den 1870er Jahren wählten etwa 80% aller Katholiken die Zentrumspartei, es kam zu einer unmissverständlichen Solidarisierung von Wählern, Partei und Kirche. Die deutsche Gesellschaft spaltete sich, Katholiken verließen die bis dahin für gehobene Honoratioren üblichen Vereine wie etwa die örtlichen Veteranenvereine und gründeten Piusvereine oder andere konfessionell geschlossene Gruppierungen. Eine dezidiert katholische Presse entstand, deren wichtigste Zeitungen die in Berlin erscheinende „Germania“ und die „Kölnische Volkszeitung“ waren. Es bildete sich für jeden Bereich der Gesellschaft eine katholische Sonderorganisation, ein Geflecht entstand, das den einzelnen Katholiken „von der Wiege bis zur Bahre“ umfing und beschützte, aber auch einband. Die Heirat mit einem nicht-katholischen Mädchen war nur denkbar, wenn dieses konvertierte, die Wahl des Zentrumsabgeordneten war gesetzt. Dieses „katholische Milieu“ wie es die Forschung bezeichnet, bestand bis in die 1970er Jahre. Die Ausbildung einer Subgesellschaft, die ihren Mitgliedern Schutz vor Diskriminierung bot, war zur selben Zeit auch in anderen europäischen Staaten zu beobachten: Katholikendiskriminierung unter dem Banner eines „Kulturkampfes“ gab es etwa auch in der Schweiz oder in den Niederlanden. Auch andere unterdrückte Gruppen bildeten ein eigenes Milieu: Als Bismarck in den 1880er Jahren mit dem „Sozialistengesetz“ die Sozialdemokraten verfolgte, bildeten diese das sozialdemokratische Milieu aus. Beide Milieus, verbunden jeweils mit ihrer Partei, haben die deutsche Innenpolitik seitdem stark beeinflusst.
Die Fraktionen des Zentrums im Preußischen Abgeordnetenhaus und im Reichstag bildeten die Speerspitze des Widerstandes gegen Bismarck. Der hervorragende Parlamentsredner Windthorst schaffte es häufig, die Widersprüche in Bismarcks Argumentation aufzuzeigen oder seine wunden Punkte zu treffen, etwa, wenn er ihm vorwarf, die Liebe der Katholiken zu ihrem Monarchen Wilhelm I. zu zerstören. Gern führte er auch die Liberalen, die durch die juristisch mehr als zweifelhaften Sondergesetze des „Kulturkampfes“ einen der Grundsätze des vormärzlichen Liberalismus verraten hatten, den der Gleichheit vor dem Gesetz, mit entsprechenden Anträgen vor.
Windthorst achtete dabei darauf, dass er nie auf Sonderrechten für die Katholiken bestand, sondern immer gesamtgesellschaftlich argumentierte: Selbstverständlich sollte ein weites Verständnis von Religionsfreiheit genauso den Juden Schutz gegen Diskriminierung bieten. Dass ihn die regierungsnahe Presse deswegen als „Judenfreund“ verspottete, nahm er in Kauf. Für den deutschen Katholizismus bedeutete die Erfahrung der Diskriminierung im „Kulturkampf“, dass anders als etwa in Österreich oder Frankreich ein Bündnis zwischen Katholiken und den später entstehenden antisemitischen Gruppierungen nicht möglich war, bis hin zu einer weitgehenden Immunität der deutschen Katholiken gegenüber dem Nationalsozialismus.
Trotz etlicher taktischer Erfolge, die Windthorst zum unangefochtenen Wortführer des Zentrums machten, war jedoch erst Anfang der 1880er Jahre an eine grundsätzliche politische Wende zu denken. Bismarck zerstritt sich mit den Liberalen in der Frage einer restriktiveren Zollpolitik, die für das Zentrum ohne grundsätzliche Bedeutung war. Jetzt zahlte sich aus, dass das Zentrum auf Windthorsts Drängen niemals auf Fundamentalopposition gesetzt hatte, sondern bei unproblematischen Regierungsvorlagen mitgestimmt hatte. Es kam zu einer punktuellen Annäherung, bei der Windthorst immer auf klar definierten Gegenleistungen der Regierung bestand. Dadurch geriet das Zentrum allerdings in Gegensatz zur Position des Vatikans. Der neue Papst Leo XIII. wollte aus seelsorgerischen Gründen eine möglichst schnelle Beilegung des „Kulturkampfes“ erreichen und wurde darin von dem einzigen regierungsfreundlichen katholischen Bischof im Reich bestärkt, dem Breslauer Fürstbischof Georg Kopp. Klerikale Selbstüberschätzung, gepaart mit einer Geringschätzung gegenüber dem Laien Windthorst, führten zu einer vatikanischen Paralleldiplomatie, bei der ein gewiefter Taktiker wie Bismarck mühelos die Kurie ausspielte. Allerdings brachte nicht einmal eine verschleiert gegen das Zentrum gerichtete päpstliche Intervention Windthorst dazu, sich in dieser Frage amtskirchlichem Führungsanspruch unterzuordnen. Demonstrativ von der Mehrheit der deutschen Bischöfe gestärkt, ließen sich katholische Wähler und Zentrum nicht auseinanderdividieren. Windthorst konnte danach, gestützt auf die unangreifbare Stellung bei der Wählerschaft und die parlamentarische Konstellation der 1880er Jahre, in einer Reihe von politischen Kompromissen Bismarck mehrere „Milderungsgesetze“ abhandeln, die die Kulturkampfgesetzgebung weitgehend rückgängig machten.
Eine besondere Genugtuung erfuhren die deutschen Katholiken, als der junge Kaiser Wilhelm II. Bismarck 1890 entließ. Der Anlass waren Unstimmigkeiten über die Verlängerung des Sozialistengesetzes, aber Wilhelm II. strebte tatsächlich auch eine Versöhnung innerhalb der deutschen Gesellschaft an. Sichtbar wurde diese Politik auch in der Regierungssymbolik. Als Gegenstück zur „Kaiserproklamation im Spiegelsaal von Versailles am 18. Januar 1871“, die der wichtigste Historienmaler des Reiches, Anton von Werner, angefertigt hatte, gab der Monarch die „Eröffnung des Reichstags im Weißen Saal des Berliner Schlosses am 25. Juni 1888“ beim selben Künstler in Auftrag. Konzipiert war das Gemälde, das Wilhelm II. im Kreis der deutschen Fürsten, aber auch der Reichstagsabgeordneten zeigte, als Interpretation seines Staatsverständnisses. Auf Wunsch des Kaisers, darüber sind wir aus Werners Aufzeichnungen informiert, wurde auch Windthorst zu dessen eigener Überraschung dabei abgebildet: Unter Wilhelm II., so die Botschaft, sollten jetzt auch die Katholiken dazugehören.
Trotz sich verstärkender gesundheitlicher Probleme arbeitete Windthorst daran, dem deutschen Katholizismus eine zukunftsfähige Ausrichtung zu geben. Der geplanten Gründung eines Katholikenvereins, der seitens der Initiatoren als traditionalistischer Verehrungsverein für den Papst geplant war, gab er mit hohem persönlichen Engagement eine moderne Ausrichtung. Windthorst hatte sehr wohl registriert, dass die professionellen Parteistrukturen der SPD besser geeignet waren, Massenwahlkämpfe zu organisieren, als die Honoratiorenpartei Zentrum. Zusammen mit Franz Hitze, dem damals profiliertesten katholischen Sozialpolitiker, wurde deshalb am 24. Oktober 1890 von ihm der „Volksverein für das katholische Deutschland“ ins Leben gerufen, der bis zu seiner Auflösung 1933 als Vorfeldorganisation des Zentrums die organisatorische Basis für die Parteiarbeit bildete.
Als Windthorst am 17. März 1891 nach kurzer Krankheit in Berlin verstarb, spiegelten die Begräbnisfeierlichkeiten seine Stellung in der deutschen Gesellschaft wieder. Kaiserhaus, Reichsregierung und Reichstag schickten Vertreter, der Trauerzug durfte als besondere Auszeichnung die „Kaiserdurchfahrt“ im Brandenburger Tor passieren. Seine letzte Ruhe fand „die Perle von Meppen“ in der Marienkirche in Hannover, für deren Bau er zeitlebens Spenden gesammelt hatte.
Windthorst in der Forschung
Die Erforschung der Biographie der „kleinen Exzellenz“ hat unter ganz unterschiedlichen Perspektiven stattgefunden. In der Zeit des späten Kaiserreichs wurde Windthorsts Wirken in etlichen „Volksbüchern“ gewürdigt. Im Vordergrund stand eine hagiographische Deutung, die vor allem dem Zentrum als Integrationsfigur dienen sollte. Trotzdem wurde etwa mit der noch heute lesenswerten Biographie von Eduard Hüsgen Anfang des letzten Jahrhunderts durchaus seriöse Geschichtsschreibung betrieben und viele nur mündlich überlieferte Fakten gesichert. Während sich die Windthorst-Verehrung in der Weimarer Republik wenig verändert fortsetzte – der nach Windthorst benannte Jugendverband des Zentrums erlebte seine Blütezeit – war Windthorst für die Nationalsozialisten ein rotes Tuch und wurde entweder totgeschwiegen oder in der NS-Presse mit Invektiven belegt.
Nach dem Zweiten Weltkrieg führte die Gründung der Union paradoxerweise zu einer Vernachlässigung des Andenkens an Windthorst. Er selbst hätte die Gründung einer interkonfessionellen Partei vermutlich gutgeheißen, da er ja immer darauf geachtet hatte, das Zentrum für andere Glaubensrichtungen offen zu halten. Da aber sein Andenken derartig konfessionell konnotiert war, wollten es die Katholiken innerhalb der CDU ihren evangelischen Parteifreunden nicht zumuten.
Windthorsts „Wiederentdeckung“ begann deshalb erst Ende der 1980er Jahre, als sich die Konrad-Adenauer-Stiftung und die von Werner Remmers gegründete Ludwig-Windthorst-Stiftung gemeinsam entschlossen, die erste kritische Windthorst-Biographie überhaupt, verfasst von amerikanischen Historikerin Margaret Lavinia Anderson, übersetzen zu lassen. Anderson arbeitet besonders die Nähe von Windthorsts politischen Vorstellungen zu denen des Liberalismus angelsächsischer Prägung heraus, eine von der Forschung weitgehend akzeptierte Deutung. Zeitgleich sammelte der niedersächsische Historiker Hans-Georg Aschoff Material zu einer Edition der Briefe Ludwig Windthorsts, die wenigstens zum Teil den vermutlich vernichteten Nachlass ersetzt. Auch Spezialisten waren nach dem Erscheinen der Bände erstaunt, wie eng die Beziehungen Windthorsts zum Welfenhaus auch nach dessen Exilierung blieben.
Wesentliche neue Akzente hat auch die gesellschaftsgeschichtliche Erforschung des deutschen Katholizismus in den letzten beiden Jahrzehnten geliefert. Eine Reihe von Dissertationen wie die von Eleonore Föhles hat auf regionaler Ebene die Spaltung der deutschen Gesellschaft im „Kulturkampf“ analysiert. Unsere Vorstellungen von der Ausprägung des katholischen Milieus sind dadurch sehr viel plastischer geworden; der Milieubegriff selbst hat die neomaterialistischen Vorstellungen von „Klassen“ in der deutschen Sozialgeschichtsschreibung zurückgedrängt.
In jüngster Zeit sind neue Deutungen zur Diskussion gestellt worden. Während die Windthorst-Biographie von Rüdiger Drews eine gut lesbare Einführung auf der Basis von Anderson und Aschoff bietet, ergänzt die regionalgeschichtliche Arbeit von Helmut Lensing viele bisher unbekannte Facetten aus Windthorsts heimatlichem Umfeld. Ob sich der Versuch einer kulturgeschichtlichen Deutung der europäischen Kulturkämpfe, wie sie Manuel Borutta vorschlägt, durchsetzen wird, bleibt noch abzuwarten.
Lebenslauf
- 18.01.1812 auf Gut Kaldenhof bei Ostercappeln geboren
- 1830-1834 Abitur, Studium der Rechtswissenschaft in Göttingen und Heidelberg
- 1834-1836 Referendariat
- 1838-1848 Tätigkeit als Anwalt
- 1848 Oberappellationsgerichtsrat in Celle
- 1849-1856 Mitglied der Zweiten Kammer der Ständeversammlung des Königreichs Hannover
- 1851-1853 Justizminister des Königreichs Hannover
- 1857-1862 Anwaltstätigkeit
- 1862-1866 wieder Mitglied der Zeiten Kammer des Königsreichs Hannover
- 1862-1865 zweite Amtszeit als Justizminister des Königreichs Hannover
- 1866 Kronoberanwalt in Celle
- 1867 Pensionierung durch den preußischen König Wilhelm I.
- 1867-1891 Mitglied des Preußischen Abgeordnetenhauses
- 1867-1871 Mitglied des Reichstags des Norddeutschen Bundes
- 1871-1891 Mitglied des Deutschen Reichstages
- 1884-1891 Mitglied des Hannoverschen Provinziallandtages
- 1890 Gründung des „Volksvereins für das katholische Deutschland“
- 1891 gestorben in Berlin, beerdigt in der Marienkirche in Hannover
Literatur
- Margaret Lavinia Anderson: Windthorst. Zentrumspolitiker und Gegenspieler Bismarcks. Düsseldorf 1988 (Forschungen und Quellen zur Zeitgeschichte Bd. 14).
- Hans-Georg Aschoff/Heinz-Jörg Heinrich (Bearb.): Ludwig Windthorst. Briefe 1834–1880. Paderborn u.a. 1995 (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte, Reihe A. Quellen, Bd. 45).
- Hans-Georg Aschoff/Heinz-Jörg Heinrich (Bearb.): Ludwig Windthorst. Briefe 1881–1891. Paderborn u.a. 2002 (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte, Reihe A. Quellen, Bd. 47).
- Manuel Borutta: Antikatholizismus. Deutschland und Italien im Zeitalter der europäischen Kulturkämpfe. 2. Aufl. Göttingen 2011 (Bürgertum. Neue Folge Bd. 7).
- Rüdiger Drews: Ludwig Windthorst. Katholischer Volkstribun gegen Bismarck. Regensburg 2011.
- Eduard Hüsgen: Ludwig Windthorst. 2. Aufl., Köln 1911.
- Eleonore Föhles: Kulturkampf und katholisches Milieu 1866–1890 in den niederrheinischen Kreisen Kempen, Geldern und der Stadt Viersen. Geldern 1996 (Veröffentlichungen des Historischen Vereins für Geldern und Umgegend Bd. 95).
- Helmut Lensing: Ludwig Windthorst. Neue Facetten seines politischen Wirkens. Haselünne 2011.
- Ludwig Windthorst 1812-1891. Christlicher Parlamentarier und Gegenspieler Bismarcks. Begleitbuch zur Gedenkausstellung aus Anlaß des 100. Todestages. Meppen 1991.
- Ludwig Windthorst: Ausgewählte Reden des Staatsministers a.D. und Parlamentariers Dr. Ludwig Windthorst, gehalten in der Zeit von 1851-1891. Bd.I–III. ND der 2. Aufl. Hildesheim 2003.