Eiserner Vorhang durch die Familie
Die Familie von Thomas de Maizière ist in besonderer Weise mit der deutschen Geschichte verwoben. Aus dem Raum Metz stammend, flüchteten seine Vorfahren – hugenottische Protestanten – im 17. Jahrhundert vor der religiösen Verfolgung in Frankreich nach Brandenburg-Preußen. Der Gedanke der Pflichterfüllung gegenüber dem Staat, der einst Zuflucht bot, ist seitdem in der Familie fest verwurzelt. Vater Ulrich diente in drei deutschen Armeen: der Reichswehr in der Endphase der Weimarer Republik, der Wehrmacht und der Bundeswehr, deren Generalinspekteur er in den letzten Jahren seiner aktiven Laufbahn war. Mit anderen Experten entwickelte er nach dem Zweiten Weltkrieg gegen manche Widerstände das Prinzip der „Inneren Führung“, das an die Stelle des „Kadavergehorsams“ treten sollte. Ziel dieses Leitbilds ist der verantwortungsbewusste „Staatsbürger in Uniform“ in einer in der demokratischen Gesellschaft verankerten Armee. Während des Kalten Krieges war auch die Familie de Maizière durch den eisernen Vorhang in einen west- und einen ostdeutschen Zweig geteilt. Prominentester Spross des Letzteren ist Lothar de Maizière, der letzte und einzige frei gewählter Ministerpräsident der DDR. Trotz der Teilung traf man sich regelmäßig zu gemeinsamen Familienfesten, zumeist in einem an der Spree gelegenen Lokal im Osten Berlins.
„Echte Vetternwirtschaft“
Thomas de Maizière, der am 21. Januar 1954 in Bonn geboren wurde, begann nach dem Studium der Rechtswissenschaften und Geschichte seine berufliche Laufbahn 1983 in Berlin als Mitarbeiter der Regierenden Bürgermeister Richard von Weizsäcker und Eberhard Diepgen. Von 1985 bis 1989 leitete er in der Senatskanzlei das Grundsatzreferat. Unmittelbar nach seiner Wahl zum Ministerpräsidenten der DDR holte Lothar de Maizière seinen Cousin Thomas als Berater im Range eines Staatssekretärs nach Ost-Berlin – „echte Vetternwirtschaft“, wie sie ironisch feststellten. Er gehörte zur Verhandlungsdelegation der ostdeutschen Seite für den deutsch-deutschen Einigungsvertrag. In dieser Zeit entstand auch das gute Verhältnis zu Angela Merkel, die damals als stellvertretende Sprecherin der letzten DDR-Regierung fungierte. Mit ihr teilt er die Überzeugung, dass Politik weniger aus visionären Entwürfen denn aus pragmatischen Lösungen konkreter Probleme zu bestehen habe.
Mitwirkung beim Aufbau Ost
Nach der Wiedervereinigung wurde Thomas de Maizière zunächst Staatssekretär im Kultusministerium von Mecklenburg-Vorpommern und übernahm nach der Bildung einer CDU/SPD-Regierung 1994 die Leitung der Staatskanzlei in Schwerin. Hier bewährte er sich als diskreter Vermittler in der großen Koalition. 1998 wechselte er nach Dresden, wo er zunächst als „Koordinator der ostdeutschen Ministerpräsidentenkonferenz“ maßgeblich am Zustandekommen des Solidarpakts II beteiligt war, der die Transferzahlungen an die östlichen Länder bis 2019 regelte. Nach Abschluss der Verhandlungen holte ihn Ministerpräsident Kurt Biedenkopf als Leiter in die Sächsische Staatskanzlei. Ins Rampenlicht einer breiteren Öffentlichkeit trat de Maizière erstmals im Dezember 2000, als ihn Biedenkopf beauftragte, im Landtag den Haushalt zu begründen. Kurz darauf wechselte er an die Spitze des Finanzministeriums und übernahm nach dem Amtsantritt von Georg Milbradt als Ministerpräsident zunächst das sächsische Justiz-, dann das Innenministerium.
„Sicherer Garant für effizientes Arbeiten“
2005 berief ihn die neugewählte Bundeskanzlerin Angela Merkel zum Leiter des Bundeskanzleramts. Er trat damit die Nachfolge von Persönlichkeiten wie Karl Carstens, Horst Ehmke, Wolfgang Schäuble, Rudolf Seiters oder Friedrich Bohl an. Wie schon in Mecklenburg-Vorpommern war es zu einem erheblichen Teil dem „Strippenzieher ohne Allüren“ (FAZ) zu verdanken, dass das Bündnis von CDU/CSU und SPD trotz aller Schwierigkeiten bis zum Ende der Legislaturperiode funktionierte. Nach den Worten des früheren Regierungssprechers Steg war de Maizière in seiner Funktion als Kanzleramtsminister ein „sicherer Garant für effizientes Arbeiten“ in der Großen Koalition.
Nach der Bundestagswahl 2009 und der Bildung einer Koalition aus CDU/CSU und FDP übernahm Thomas de Maizière das Amt des Bundesministers des Innern. Für die Zurückhaltung, Umsicht und Besonnenheit, die Markenzeichen seiner Amtsführung waren, erhielt er auch aus den Reihen der Opposition Lob.
Mit der Ernennung zum Bundesminister der Verteidigung als Nachfolger des zurückgetretenen Karl Theodor von und zu Guttenberg im März 2011 übernahm er Verantwortung für die Armee, die sein Vater in ihrer Aufbauphase maßgeblich mitgeprägt hatte. Dabei erhielt das Pflichtgefühl den Vorrang gegenüber der Neigung: Er wäre, so räumte de Maizière freimütig ein, gerne Innenminister geblieben, „aber wenn die Kanzlerin einen Minister fragt, ob er ein anderes Amt annimmt, dann weiß ich, was ich zu tun habe“. Die Bundeswehr befand sich seit der Aussetzung der Wehrpflicht in einer Umbruchs- und Umbauphase. De Maizière trieb die Neuausrichtung der Truppe, wozu auch die Schließung zahlreicher Standorte gehörte, voran. Für viel Aufsehen sorgte das Scheitern des von seinen Vorgängern im Amt initiierten Drohnenprojekts „Euro-Hawk“, zu dessen Aufklärung ein Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages eingesetzt wurde. Nach der Bundestagswahl 2013 kehrte er, diesmal wiederum im Rahmen einer Großen Koalition aus CDU/CSU und SPD, an die Spitze des Bundesministeriums des Innern zurück. Ein wichtigstes Thema bildete nach wie vor die Bedrohung durch den internationalen Terrorismus. Vehement und nicht unwidersprochen setzte sich de Maizière dafür ein, dem Staat die Instrumente für eine wirksame Abwehr in die Hand zu geben. Daneben forderte neben dem immer drängender werdenden Thema Cybersicherheit die 2015 eskalierende Flüchtlingskrise die Aufmerksamkeit des Ministers. De Maizière äußerte sich unter anderem kritisch zum Kirchenasyl, da keine Institution ihr Recht über das deutsche Gesetz stellen dürfe.
Im Ergebnis der langwierigen und komplizierten Verhandlungen nach der Bundestagswahl 2017 schied de Maizière aus dem Bundeskabinett aus. Er empfand nach einem Bekunden durchaus einen gewissen „Abschiedsschmerz“, schätzte aber den Zugewinn an „Freiheit, Bewegungsraum, Zustimmung“ nach 28 Jahren als Staatssekretär und Minister auf Bundes- wie Landesebene.
Christlicher Demokrat im Sinne eines aufgeklärten Konservatismus
Thomas de Maizière versteht sich als Verfechter eines aufgeklärten Konservatismus. Auf dem CDU-Bundesparteitag 2011 erklärte er, konservativ zu sein bedeute, an Werten festzuhalten, nicht an bestimmten Positionen und Instrumenten. So sei die Bereitschaft ein Wert, „einen Dienst für unser Land zu tun“.
Dem Deutschen Bundestag gehörte Thomas de Maizière von 2009 bis 2021 als direkt gewählter Abgeordneter des Wahlkreises Meißen an. Der überzeugte evangelische Christ, der in seiner Freizeit viel liest, Kunst liebt und gern klassische Musik hört, ist verheiratet und hat drei Kinder. Seit seinem Ausscheiden aus dem Bundestag widmet er sich vor allem seinen zahlreichen Ehrenämtern. 2023 amtierte er als Präsident des evangelischen Kirchentags in Nürnberg.
Lebenslauf
- 1972 Abitur
- 1972–1974 Wehrdienst
- 1974–1979 Studium der Rechtswissenschaften und Geschichte in Münster und Freiburg/Breisgau
- 1979 1. und 1982 2. juristisches Staatsexamen
- 1986 Promotion
- 1971 Eintritt in die CDU
- 1983–1985 Mitarbeiter des Regierenden Bürgermeisters von Berlin (1983 Richard von Weizsäcker, ab 1984 Eberhard Diepgen)
- 1985–1989 Leiter des Grundsatzreferats der Senatskanzlei Berlin
- 1990 Pressesprecher der CDU-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus
- 1990–1994 Staatssekretär im Kultusministerium Mecklenburg-Vorpommern
- 1994–1998 Leiter der Staatskanzlei Mecklenburg-Vorpommern
- 1999–2001 Staatsminister und Leiter der Sächsischen Staatskanzlei
- 2001–2002 Sächsischer Staatsminister der Finanzen
- 2002–2004 Sächsischer Staatsminister der Justiz
- 2004–2005 Sächsischer Staatsminister des Innern
- 2004–2005 MdL Sachsen
- 2005–2009 Bundesminister für besondere Aufgaben und Chef des Bundeskanzleramts
- 2009–2021 MdB
- 2009–2011 Bundesminister des Innern
- 2011–2013 Bundesminister der Verteidigung
- 2013–2018 Bundesminister des Innern
Ehrenämter
- seit 2001 Kammermusik Festival Schloss Moritzburg e.V., Dresden; Vorsitzender des Kuratorium
- seit 2003 Deutscher Evangelischer Kirchentag, Fulda; Mitglied des Präsidiums
- seit 2014 Stiftung Deutsche Sporthilfe, Frankfurt/Main; Mitglied des Kuratoriums
- seit 2018 Universität Leipzig, Honorarprofessor für Staatsrecht und Staatswissenschafte
- seit 2018 „Europäische Kulturhauptstadt Dresden 2025“, Dresden. Mitglied des Kuratorium
- seit 2018 Deutsche Telekom Stiftung, Bonn; Vorsitzender des Vorstands
- seit 2018 Deutscher Olympischer Sportbund, Frankfurt/Main; Vorsitzender der Ethik-Kommission
- seit 2018 ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius, Hamburg; Mitglied des Kuratoriums
- 2019-2022 Futurium GmbH, Berlin; Mitglied des Aufsichtsrates
- 2019 Kommission „30 Jahre Friedliche Revolution und Deutsche Einheit“, Berlin; Mitglied der Kommission
- 2020 Vorsitzender der NATO-Reflexionsgruppe NATO 2030 im Auftrag der Staats- und Regierungschefs der NATO
- 2021 Vorsitzender der Expertenkommission „Staatsreform“ der KAS
- seit 2021 Stiftung 20. Juli 1944, Berlin; Mitglied des Kuratoriums
- seit 2022 Präsident des Fördervereins Dresdner Philharmonie
- 2023 Präsident des Evangelischen Kirchentages
Literatur
- Ralf Schönfeld: Bundeskanzleramtschefs im vereinten Deutschland. Friedrich Bohl, Frank-Walter Steinmeier und Thomas de Maizière im Vergleich. Stuttgart 2011.