Es war ein Beginn einer neuen politischen Epoche. Vor drei Jahrzehnten wurde am 17. Juni 1991 in Bonn der Nachbarschaftsvertrag zwischen dem vereinigten Deutschland und der jungen polnischen Demokratie unterzeichnet. Genau zwei Jahre zuvor, im Juni 1989, hatte die antikommunistische Freiheitsbewegung Solidarność bei den halbfreien Wahlen in Polen triumphiert. An den Wahlurnen hatten Polinnen und Polen ihren Willen zum Systemwechsel demonstriert. Die Demokratisierung Polens im Frühjahr 1989 hatte in der DDR eine Revolution ausgelöst, die innerhalb eines Jahres zur unerwarteten Vereinigung der beiden deutschen Staaten geführt hatte. Als der Nachbarschaftsvertrag unterzeichnet wurde, existierte noch die Sowjetunion, hunderttausende Sowjettruppen waren in Zentraleuropa stationiert. Der Wind der Freiheit wehte zwar über den Kontinent, doch es war noch nicht abzusehen, wohin der Epochenumbruch führen würde.
Die Neugestaltung der Beziehungen zu den Nachbarn wurde damals zu einer entscheidenden Herausforderung für Polen und Deutschland. Das vereinigte Deutschland war an einem erfolgreichen Systemwechsel bei seinen östlichen Nachbarn interessiert. Es hatte wenige Wochen nach der Vereinigung im November 1990 endgültig die Oder-Neiße-Grenze anerkannt. Ein zentraler europäischer Streitpunkt war damit beigelegt. Polens Solidarność-Politiker engagierten sich für den Aufbau friedlicher Beziehungen zu allen Nachbarn, im Westen und Osten. Die östlichen Grenzen Polens, ein Ergebnis der stalinistischen Besatzung, wurden von Polens Demokraten akzeptiert. Damit wurde die Voraussetzung für die Aussöhnung der Polen mit Litauern, Belarussen, Ukrainern und Russen gelegt.
Vor dreißig Jahren war es das zentrale außenpolitische Ziel Polens, das Land aus der Pufferzone zwischen der UdSSR und der Europäischen Gemeinschaft, der Vorgängerorganisation der EU, herauszuführen. Polen wollte Teil des politischen Westens werden. Die Bundesrepublik versprach im Nachbarschaftsvertrag, den Nachbarn auf diesem Weg zu unterstützen. Der Nachbarschaftsvertrag wurde somit zu einem Baustein der neuen europäischen Friedensordnung nach dem Ende des Kalten Krieges.
Eine Allianz ungleicher Nachbarn
Vor dreißig Jahren schmiedeten zwei extrem ungleiche Nachbarn eine Allianz. Auf der einen Seite das vereinigte Deutschland, eine neue politische und ökonomische Macht in Europa. Viele Polen beneideten 1990 die Ostdeutschen dafür, dass sie schnell, ohne lange Transformation, durch den Beitritt der neuen Länder in die Bundesrepublik Bürgerinnen und Bürger des Westens wurden, Mitglied der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der NATO. Polen sollte noch viele Jahre auf dieses Privileg warten. Nach Jahrzehnten der kommunistischen Misswirtschaft lag Polens Volkswirtschaft vor dreißig Jahren am Boden. Die ökonomische Krise förderte die Hyperinflation, die zu einer sozialen Katastrophe führte. Das Land zählte zu den Armenhäusern in Europa.
Die Revolution von 1989 weckte zwar Hoffnungen auf den Neuanfang, doch viele Wege blieben dem Land Anfang der 1990-er Jahre noch versperrt. Der reglementierte Wirtschaftsraum des Ostblocks brach damals zusammen und auf den westlichen Märkten waren die Produkte der postkommunistischen Unternehmen noch nicht konkurrenzfähig. Polens Bürger hatten einen äußerst schwierigen Weg aus der Diktatur und beneideten ihre Nachbarn aus der ehemaligen DDR für das Privileg des schnellen Zugangs zur D-Mark und der EWG-Mitgliedschaft. Deutsche interessierten sich damals kaum für den armen, östlichen Nachbarn. Sie waren mit der eigenen Transformation befasst, die sich östlich der Elbe als viel schwieriger als erwartet erwies. An der Oder-Neiße-Grenze standen zwar vor drei Jahrzehnten keine DDR-Grenzschützer mehr, der Verlauf der Grenze war nicht mehr strittig, doch die Oder und Neiße markierten nach 1990 eine neue Grenze, die zur NATO und EWG. Polen blieb vor den Toren des Westens draußen. Es sollten noch viele Jahre vergehen, bis diese Mauer verschwand.
Erst 2004 wurde Polen EU-Mitglied, der deutsche Arbeitsmarkt blieb aber für Polen noch lange verschlossen, so groß war die Angst vor der marktwirtschaftlichen Konkurrenz aus Ostmitteleuropa. Und erst 2007 verschwanden die Schlagbäume an der deutsch-polnischen Grenze, als Polen dem Schengen-Raum beitrat. Deutsch-polnische Zusammenarbeit bedeutete noch lange Zeit nach dem Zusammenbruch des Eisernen Vorhangs die Überbrückung neuer Grenzen.
Ökonomische Realität und politische Kultur
Es ist mir wichtig, an diese vergessenen Bedingungen für die Nachbarschaft zu erinnern, denn sie zeigen, welch weiten Weg Polen und Deutsche in den letzten Jahrzehnten gegangen sind. Der ökonomische, soziale und rechtliche Rahmen für die Zusammenarbeit sind heute viel günstiger als vor dreißig Jahren. Deutschland hat ökonomisch und politisch enorm von den Folgen der Revolutionen von 1989 profitiert, seinen Wohlstand und sein politisches Gewicht vermehrt. Polen wiederum hat sich vom Armenhaus Europas zu einem der ökonomisch erfolgreichsten Transformationsländer entwickelt. Polen ist in den letzten Jahren – weitgehend von der deutschen Öffentlichkeit unbemerkt – zum fünftwichtigsten Handelspartner Deutschlands aufgestiegen, hat Länder wie Italien und Großbritannien in der deutschen Handelsstatistik abgelöst. Deutschland ist wiederum Polens wichtigster Markt. Der deutsche Handel mit den vier Visegrád-Staaten übertrifft in seinem Volumen sogar den mit China oder den USA.
Alle politischen Akteure in Deutschland konzentrieren sich auf die Bedeutung des chinesischen Marktes. Seit Jahrzehnten engagieren sich viele deutsche Politiker und Wirtschaftsbosse in die Vertiefung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit Russland. Einige von ihnen blenden dabei sogar die Verbrechen des Putin-Regimes aus. Dagegen wird in Deutschland nur am Rande die herausragende wirtschaftliche Entwicklung Mitteleuropas zur Kenntnis genommen. Ich habe den Eindruck, dass die politische Kultur sich von der ökonomischen Realität entfernt. Alte Stereotypen und ein altes grundlegendes Desinteresse an Polen bestehen in Deutschland leider weiterhin. Der Blick Deutschlands geht nach Westen oder über Mitteleuropa hinweg nach Russland und China.
Das ist besorgniserregend, denn die jüngsten deutsch-polnischen Handelsstatistiken dokumentieren einen grundlegenden politischen Wandel der letzten Jahre: Das vereinigte Deutschland hat sich nach dem Zusammenbruch des Eisernen Vorhangs fest in Mitteleuropa verwurzelt. Mit dieser Region ist die Bundesrepublik stark ökonomisch zusammengewachsen. Das gleiche gilt für die Länder Ostmitteleuropas, die den langen Weg aus dem Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe und Warschauer Pakt Richtung westliche Märkte und politische Bündnisse gegangen sind. Hinter den Zahlen der Handelsstatistiken verbergen sich die täglichen Kooperationen von Menschen, Joint-Ventures, Partnerschaften und Freundschaften. Die Wirtschaftsdaten dokumentieren ein dichtes Netz der Zusammenarbeit und Abhängigkeiten. Es ist nicht nur eine deutsche Dynamik Richtung Westen, die sich in den Statistiken widerspiegelt. Länder wie Polen, Tschechien oder die Slowakei sind keine reinen Billiglohnländer mehr und auch keine verlängerten Werkbänke deutscher Unternehmen. Dank ihres hohen Bildungsniveaus und der erfolgreichen Modernisierung der Wirtschaft sind die ostmitteleuropäischen Nachbarn zu modernen Industrie- und Dienstleistungsnationen gewachsen, die wettbewerbsfähige Akteure auf dem Weltmarkt sind.
Der in Deutschland und Polen oft schlechtgeredete heutige Wohlstand beider Nationen ist das Ergebnis eines gemeinsamen politischen Bündnisses, das vor dreißig Jahren etabliert wurde. Dieses politische Bündnis musste natürlich auf die ökonomischen Bedürfnisse der Zeit eingehen, doch es fußte vor allem auf der Idee des gemeinsamen Engagements für Freiheit und Menschenrechte sowie der Idee solidarischer Nachbarschaft. Auf diesen Idealen sollte die ökonomische Wiederbelebung durch den Kommunismus zerstörter Volkswirtschaften gründen. Diese Ideale haben den Deutschen und den Polen mehr Wohlstand und mehr Sicherheit gebracht.
Berliner Republik – ein Kind europäischer Revolutionen
Das vereinigte Deutschland ist ein Kind der mitteleuropäischen Revolutionen von 1989, nicht nur der ostdeutschen Wende. Die Deutschen verdanken die schnelle Vereinigung beider deutscher Staaten gleichermaßen ihrem Willen zur Einheit, der Zustimmung der Alliierten, aber auch dem Vertrauen der unmittelbaren Nachbarn. Die Opfer der deutschen NS-Politik, vor allem die Nachbarstaaten Polen, Niederlande, Dänemark und Tschechoslowakei, tolerierten 1990 den Verzicht der Alliierten auf eine langwierige Friedenskonferenz, um den Weg zur Einheit Deutschlands zu ebnen. Statt lange Entschädigungsdiskussionen zu führen, sollte die politische Energie in die Neubegründung Europas investiert werden. Dies war eine weise politische Entscheidung. Polen vor allem erhoffte sich von dieser Politik der Unterstützung der Einigung Deutschlands einen schnellen Rückzug der Sowjettruppen aus Mitteleuropa und damit eine geopolitische Verschiebung des Landes in Richtung Westen. Mit der Einheit versprach das demokratische Deutschland, Verantwortung für Europa zu übernehmen. Es unterstützte die Vertiefung der europäischen Integration. 1993 ersetzte die Europäische Union (EU) die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG). Deutschland verzichtete auf eine nationale Währung und setzte sich für eine europäische ein. Verantwortung und Hoffnung auf ökonomischen Nutzen für die eigene Nation gingen damals Hand in Hand.
Die Neubegründung der deutsch-polnischen Beziehungen war ein wichtiger Baustein der deutschen Einigung. Der deutsch-polnische Grenzvertrag vom November 1990 sicherte den Frieden in Europa und festigte das Vertrauen in den Nachbarn. Große Mitverantwortung für Polen bekundete die Bundesrepublik im deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrag, der am 17. Juni 1991 von Bundeskanzler Helmut Kohl, Premierminister Jan Krzysztof Bielecki und den Außenministern Hans-Dietrich Genscher und Krzysztof Skubiszewski in Bonn unterzeichnet wurde. Deutschland verpflichtete sich in dem Dokument, Polen auf dem Weg in die westliche Gemeinschaft zu unterstützen. Das war kein selbstverständliches Versprechen zu einer Zeit, als die UdSSR noch existierte und militärisch noch halb Europa kontrollierte.
Freiheit und Vertrauen zu mehren, das war das Ziel der Nachbarschaftspolitik der Deutschen und Polen in den ersten Jahren nach der Revolution. Um dies zu erreichen, konzentrierten sich Politiker einerseits auf die Frage, was die Beziehungen belastete, andererseits auf die Formulierung gemeinsamer Ziele und auf die geistige Annäherung zwischen den Nationen. Polens damaliger Außenminister Krzysztof Skubiszewski prägte damals den Begriff der „deutsch-polnischen Werte- und Interessengemeinschaft“. Diese Vision der Beziehungen formulierte Skubiszewski bereits im Februar 1990, also noch vor der deutschen Wiedervereinigung.
Deutsche und Polen versprachen vor 30 Jahren, sowohl Verantwortung für die friedliche Partnerschaft zwischen Ihren Nationen als auch für Europa zu übernehmen. So entstand in Folge dieser Haltung im August 1991 das trilaterale deutsch-französisch-polnische Weimarer Dreieck, ein europäischer Konsultationsrahmen, der dazu beitragen sollte, die Gräben zwischen Ost und West zuzuschütten. Polen engagierte sich 1991 in die Schaffung einer engen Kooperation mit Tschechen, Slowaken und Ungarn. Ein politisches Bündnis der aufstrebenden Mitteleuropäer, die Visegrád-Gruppe, entstand. Das demokratische Polen unter Staatspräsident Lech Wałęsa, dem Solidarność-Gründer und Friedensnobelpreisträger, suchte zudem die Versöhnung und den Dialog mit den östlichen Nachbarn. Symbolisch war die schnelle Anerkennung der Unabhängigkeit der Ukraine durch Polen im Dezember 1991. Aus historischen Konkurrenten wurden Partner.
Die deutsch-polnische Werte- und Interessengemeinschaft in Europa war nicht immer frei von Gleichgültigkeit, Misstrauen und Distanz. In der langen Zeit der Transformation und schrittweisen Öffnung EU-Europas in Richtung Osten hat sich in Mittel- und Osteuropa Ernüchterung eingeschlichen. Die europäische Vision von Freiheit und Verantwortung hat an Ausstrahlung eingebüßt.
Zwar hat die verstärkte Zusammenarbeit die kulturellen und politischen Kompetenzen in beiden Ländern in Bezug auf den Nachbarn in den letzten drei Jahrzehnten erhöht, trotzdem fehlt auf deutscher Seite ein breiteres Bewusstsein für die Bedeutung Polens und der gesamten mitteleuropäischen Region für die Bundesrepublik. Kulturelle deutsch-polnische Kompetenzen und ein Wissen um die Dimensionen der Beziehungen sind in der bundesdeutschen Gesellschaft weiterhin stark unterentwickelt. Symbole für den mangelnden europäischen Geist und die Ignoranz gegenüber dem östlichen Nachbarn sind die beiden Stränge der deutsch-russischen Erdgaspipeline North-Stream und eine staatliche Erinnerungskultur, in der der Nachbar kaum eine Rolle spielt. Abnehmendes Wissen über deutsche NS-Verbrechen in Polen sowie die Nichtpräsenz der polnischen Solidarność-Bewegung in der modernen deutschen Freiheitserzählung über 1989 frustrieren Polen aller politischen Strömungen und befördern kulturelle Entfremdungen.
Diese Distanz der Deutschen zum polnischen Nachbarn schafft einen Nährboden für Nationalisten in Polen. Diese pflegen ein negatives Deutschland-Bild und politisches sowie kulturelles Mistrauen zum Nachbarn, um sich auf diese Weise propagandistisch als Verteidiger „polnischer Interessen“, „polnischer kultureller Eigenheiten“ zu etablieren. Die damit einhergehenden nationalistischen Reflexe führen immer wieder zu Krisen in den bilateralen Beziehungen, die wiederum in der Bundesrepublik antiosteuropäische und europakritische Haltungen nähren.
Die nationalistische Politik der PiS besteht leider nicht nur aus Wahlkampf-Rhetorik. Sie ist Programm und dient der Infragestellung der Grundlagen der nach 1989 entstandenen Dritten Polnischen Republik, darunter ihrer außenpolitischen Ideale. Zwar hat die PiS-Regierung nach 2015 die „deutsch-polnische Werte- und Interessengemeinschaft“ nicht aufgekündigt, doch die Infragestellung der polnischen Deutschland-Politik der Premierminister Mazowiecki, Bielecki, Buzek oder Tusk führt zur Lähmung des deutsch-polnischen Tandems. Es ist die EU-Mitgliedschaft, die diese bilateralen Beziehungen noch zusammenhält. Denn weder die Bundesregierung noch die polnische PiS-Regierung sind an einer Blockade des jeweils anderen im europäischen Rat interessiert. Die Morawiecki-Regierung braucht die EU-Fördermittel, um mit diesen Geldern den Umbau des polnischen Staates nach ihren ideologischen Vorstellungen fortzuführen. Das Regierungsbündnis ist sich auch der Popularität der EU unter polnischen Bürgerinnen und Bürgern bewusst und kann die EU-Mitgliedschaft nicht direkt in Frage stellen. Doch die PiS arbeitet an der Schwächung der EU, indem sie Allianzen mit denjenigen populistischen Kräften in Europa sucht, die die Kompetenzen Brüssels zurückfahren wollen. Die EU wird als Bastion des Liberalismus verteufelt, denn in den Kompetenzen der europäischen Institutionen sehen Polens Nationalisten Hemmschwellen für ihre Politik der Abwicklung der liberalen Demokratie. Die Rechtsstaatlichkeit wird eingeschränkt, ein staatliches Medienmonopol aufgebaut, um einen katholisch-nationalistischen Staat in Polen zu begründen. Das liberale, multikulturelle und konfessionell pluralistische Deutschland ist kein Partner bei der Realisierung dieses politischen Ziels. Auch Polens Nationalisten übersehen allzu oft die engen ökonomischen deutsch-polnischen Verflechtungen und investieren gegen Polens Wirtschaftsinteressen in antieuropäische und antideutsche Bündnisse, ob mit Trump, Orbán, Salvini oder Farage.
Krise der Werte- und Interessengemeinschaft
Auf der Regierungsebene ist die vor drei Jahrzehnten begründete „deutsch-polnische Werte- und Interessengemeinschaft“ heute nur noch ein Slogan, ein Versprechen aus vergangenen Zeiten. Ideenlosigkeit und Ziellosigkeit prägen heute das offizielle Verhältnis zwischen Berlin und Warschau. Der gegenwärtige Stillstand der deutsch-polnischen Zusammenarbeit auf der Ebene der Regierungen und nationalen Parlamente stellt eine Belastung für Europa dar. Deutsch-polnische Spannungen und Sprachlosigkeiten haben heute negativen Einfluss auf ganz Europa. Als europäisches Tandem hatten Deutschland und Polen jahrelang das Potenzial, demokratische Dynamiken in Europa zu fördern, vor allem im Osten. Deutsche und polnische Alleingänge hingegen belasten die Autorität westlicher Demokratien und schwächen die Einheit der Europäischen Union.
Auf diese Krise der deutsch-polnischen Beziehungen reagieren politische Akteure in beiden Ländern unterschiedlich. Der Bundestag hat im Herbst vergangenen Jahres die Errichtung eines Polens-Denkmals beschlossen. Der neue Berliner Gedenkort soll durch ein Dokumentationszentrum zu den deutsch-polnischen Beziehungen ergänzt werden. Mit diesem Projekt will die Bundestagsmehrheit Lücken im historischen Bewusstsein der Deutschen schließen und stärkere Bindungen zum Nachbarn schaffen. Die Stadt Leipzig plant ein Freiheitsforum, das die Traditionen der ostmitteleuropäischen Revolutionen von 1989 ins 21. Jahrhundert übertragen soll. Die Bundesregierung erwägt die Gründung eines Europäischen Transformationszentrums, in dessen Mittelpunkt nicht nur die Erfahrungen des Aufbau Osts, sondern auch die der östlichen Nachbarn im Mittelpunkt stehen. All dies sind gute Investitionen in die Zukunft, die die kulturellen Polen-Kompetenzen der Deutschen stärken können.
Von polnischer Seite sind in den letzten Jahren kaum Impulse für die Weiterentwicklung der deutsch-polnischen Partnerschaft gekommen. Polens Opposition ist weitgehend mich sich selbst befasst, hat sich provinzialisiert und glaubt mit bilateralen Initiativen die Wähler zu ermüden. Manchmal habe ich den Eindruck, dass manche Demokraten in Polen ihr Engagement für die deutsch-polnische Partnerschaft nicht allzu offen herausstellen, um nicht von der PiS-Propaganda als „deutsche Interessenvertreter“ angegriffen zu werden. Ein Aktivposten sind einige der direkt gewählten Oberbürgermeister der Städte, die souverän ihre kulturellen oder ökonomischen Beziehungen zu deutschen Partnern pflegen. Von bundespolitischen Akteuren wird dieses demokratische Potenzial der polnischen Kommunalpolitik oft übersehen oder unterschätzt.
Enttäuschend ist die Einseitigkeit der deutschen Polenpolitik der Bundesregierung und des Bundespräsidenten. Viele deutsche Politiker haben Polen abgeschrieben, in die Schublade der antieuropäischen Nationen gesteckt, damit eigenen Berührungsängsten und vielleicht gar Stereotypen folgend. Berlin setzt alleine auf den Dialog mit der PiS-Regierung und Präsident Andrzej Duda, glaubt damit die negativen Folgen der schwierigen Beziehungen auf Regierungsebene einzuschränken. Damit unterschätzt die politische Bundeselite die positive Dynamik der polnischen Gesellschaft, nutzt sie nicht für ambitionierte Ideen für eine neue deutsch-polnische und europäische Politik.
Neubegründung der Gemeinschaft mit Hilfe der Zivilgesellschaft
Wir sollten heute die vielen Ebenen der Politik und beide Gesellschaften für eine deutsch-polnische Zusammenarbeit nutzen, um Europa zu stärken, um ein Gegengewicht zu den populistischen Stimmen zu setzen. Doch leider zeigen sich sowohl die Groβe Koalition in Berlin und auch das Bundespräsidialamt sehr reserviert gegenüber solchen Visionen. Zurückhaltung und kühle Professionalität dominieren in der deutschen Polenpolitik. Damit macht man nichts falsch, schafft keine neuen Spannungen. Aber diese vorsichtige Politik konsolidiert die unter der PiS entstandene Distanz, das neue Misstrauen zwischen den Nationen. Das ist eine gefährliche Entwicklung für Europa, die hervorragend ins Kalkül der PiS passt. Denn die populistischen Politiker und ihre Verbündeten in der Gesellschaft gefallen sich darin, die Distanz zwischen den Nationen zu betonen, aus ihr heraus ihre Haltungen zu legitimieren. Die defensive Polenpolitik der Bundesregierung, die Berührungsangst zur polnischen Gesellschaft, zu ihren antipopulistischen Eliten schwächt den europäischen Zusammenhalt.
Auf den Stillstand in den bilateralen staatlichen Beziehungen sollten wir mit einer neuen, kühnen Vision der „deutsch-polnischen Werte- und Interessengemeinschaft“ reagieren. Wenn ein solches Bündnis auf der Regierungsebene heute nicht möglich sein sollte, so sollte diese neue Allianz zwischen deutschen und polnischen Demokraten aus allen Bereichen des öffentlichen Lebens geschmiedet werden. Vor allem die deutsche Politik könnte eine solche Vision heute wagen und stärker in eine neue, mehrdimensionale Polen-Politik, unabhängig von den Befindlichkeiten und Interessen der PiS, investieren.
Vor drei Jahrzehnten kam das neue deutsch-polnische Friedensbündnis für ein freies Europa aus den Zivilgesellschaften, es war vor allem eine geistige Erfindung der mutigen Frauen und Männer der Solidarność, die die kommunistische Diktatur niederrangen. Kurze Zeit später sollten sie Verantwortung für den neuen Staat übernehmen, als Regierungschefs, Minister, Diplomaten oder Parlamentarier.
Geschichte wiederholt sich zwar nicht, aber sie ist ein Reservoir wichtiger Lektionen, ein Reichtum von kollektiven Erfahrungen. Das deutsch-polnische Tandem für Europa kann nur wiederbelebt werden, wenn wir die Politik mutig für die Visionen der zivilgesellschaftlichen Aktivisten, Kulturschaffenden, Wissenschaftler, Unternehmer, freien Journalisten, unabhängigen Juristen oder Bürgerrechtler öffnen. Haben wir mehr Mut aus regierungspolitischen Konventionen herauszutreten, um wirksam ein Europa der Rechtsstaatlichkeit und Demokratie zu schützen.
Basil Kerski ist Direktor der Europäischen Solidarność-Zentrums in Danzig und Chefredakteur des zweisprachigen „Deutsch-Polnischen Magazins DIALOG“, er lebt in Berlin und Danzig.