Staaten sind nicht statisch. Als von Menschen gemachte, den jeweiligen Umständen unterworfene, mit anderen Mächten interagierende Gebilde verändern sie sich fortwährend. Oft ist es nur im Nachhinein möglich, ihren Charakter genau zu bestimmen. Und selbst dann differieren die Einschätzungen, je nachdem, welche Eigenschaften man als besonders charakteristisch wahrnimmt. Insofern steht eine Betrachtung des gegenwärtigen Russlands unter dem Vorbehalt, dass sie zu fixieren versucht, was doch im Fluss ist. Freilich rechtfertigt sich eine solche Momentaufnahme dann, wenn sie die Entwicklung mit in den Blick nimmt, die der Gegenwart vorausging. Lässt sich darin nämlich eine Tendenz ausmachen, die folgerichtig in den gegenwärtigen Zustand mündet, ist die Momentaufnahme mehr als ein Zufallsbefund.
Das Regiment Putins
Wenn die Entwicklung eines Staates sich anhand der seines führenden Mannes nachzeichnen lässt, ist dies ein deutliches Indiz, dass es um die Institutionen in diesem Staat nicht gut bestellt ist. Denn starke Institutionen, die durch eine Verfassung abgesichert sind und durch Gesetzgebung und Rechtsprechung mit Leben erfüllt werden, reduzieren den Einfluss von Personen – ein gewollter Effekt, der der Machtkontrolle dient. In demokratischen Staaten muss sich deshalb die gesamte politische Praxis an der Verfassung orientieren und sich an ihr messen lassen. Um die Verfassung zu ändern, bedarf es der Überwindung hoher Hürden. In autoritär regierten Staaten hingegen kann der jeweils Herrschende die Verfassung, sofern vorhanden, ignorieren oder sie seinen Bedürfnissen anpassen. Letzteres geschah in der Regierungszeit Putins mehrfach.
Als der ehemalige KGB-Agent Wladimir Putin im März 2000 russischer Präsident wurde, verdankte er das Boris Jelzin. Jelzin, der erste gewählte russische Präsident nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, war politisch gescheitert. Eine plötzliche und weitgehend unregulierte Liberalisierung der Wirtschaft ermöglichte es in den wilden neunziger Jahren kriminellen Banden, die rechtsfreien Räume, die der in sich implodierte Kommunismus hinterlassen hatte, brutal auszunutzen. Oligarchen konnten sich ungehindert bereichern, die Bevölkerung verarmte immer weiter, eine Modernisierung der Wirtschaft wurde versäumt. 1998 war Russland zahlungsunfähig. Ende 1999 trat Jelzin von seinem Amt zurück und bestimmte Putin zu seinem Nachfolger. Dass seine Wahl auf Putin fiel, der seit August 1999 russischer Ministerpräsident war, hing wohl damit zusammen, dass er ihn für unnachgiebig und durchsetzungsstark hielt.
Seit er das Präsidentenamt innehatte, sorgte Putin für einen ständigen Ausbau seiner Macht. Zunächst wurde er von der Verfassung noch ausgebremst, weil diese die (damals noch vierjährige) Amtszeit des Präsidenten auf zwei Amtsperioden beschränkte. Diese Klippe umschiffte Putin durch eine Art Ringtausch: 2008 schlug er Dmitri Medwedew als Präsidenten vor, der nach seiner Wahl wiederum Putin als Kandidaten für das Amt des Ministerpräsidenten nominierte. Nach vier Jahren als Ministerpräsident konnte Putin 2012 dann erneut als Präsident kandidieren; inzwischen war dessen Amtszeit auf sechs Jahre erhöht worden. Eigentlich müsste Putin sein Amt also 2024 wieder abgeben. Allerdings wurde von der Duma, dem russischen Parlament, 2021 ein Gesetz erlassen, mit dem Putins bisherige Amtszeit als nicht anzurechnen festgesetzt wurde. Von daher könnte er bis 2036 weiterregieren, sollte er 2024 erneut antreten. Da eine 2020 durchgesetzte Verfassungsreform die Befugnisse des Präsidenten noch weiter ausgebaut hatte, hätte er so zeitlich wie in puncto Kompetenzen nahezu unbegrenzte Macht.
Korruption, Repression und Propaganda
Dieses trickreiche Spiel mit Verfassung und Gesetzgebung ist kennzeichnend für ein Politikverständnis, das offenbar von Putins KGB-Erfahrung geprägt ist: Wenn das Ziel feststeht, ist der Einsatz schlechthin aller Mittel erlaubt. So hatte Putin, schon bevor er das höchste Staatsamt erreichte, ein Netzwerk aus ihm treu ergebenen Weggenossen geknüpft, die er mittels Korruption an seiner Seite hielt. Sie durften sich durch den unangemessen preiswerten Erwerb von ehemaligen Staatsbetrieben bzw. die Ausbeutung der landeseigenen Rohstoffe hemmungslos bereichern und bilden so eine Schicht von Oligarchen, die Putin wie ein Cordon sanitaire umgibt. Neben der Korruption ist ein weiteres Machtmittel die Repression. Herrschte in den ersten beiden Amtsperioden seiner Regentschaft noch ein relativ hohes Maß an Meinungsfreiheit und Medienvielfalt, so wurde es Putins Kritikern in den folgenden Jahren zunehmend erschwert, sich öffentlich zu äußern. Die Medienmacht wurde immer weiter auf Staatssender und staatliche Printmedien konzentriert, kritische Journalisten und Oppositionelle wurden bedroht, ins Gefängnis geworfen, einige sogar ermordet. Putins bekanntester Kritiker, Alexei Nawalny, wurde nach einem Anschlag mit einem Nervengift, den er nur knapp überlebte, unter immer neuen Vorwänden zu Lagerhaft mit expandierender Haftdauer verurteilt.
Eine alte KGB-Taktik ist auch die Desinformation. Im In- und Ausland sorgt ein Heer von Mitarbeitern über alle verfügbaren Medien, vor allem auch die sozialen Netzwerke, für die Verbreitung von Lügen über die politische Lage, politische Gegner und die Situation in Russland. Durch die ständig weiter vorangetriebene Monopolisierung des Zugangs zur Öffentlichkeit ist die Propaganda innerhalb Russlands besonders wirkungsvoll. Aber auch im Ausland bleibt die ständige Wiederholung falscher Darstellungen, etwa mittels des Senders Russia Today, nicht ohne Wirkung. Hinzu kommt die Taktik der Spaltung des Gegners. Die klandestine Unterstützung radikaler Parteien in Europa, speziell solche der extremen Rechten, oder die Anheizung innerer Konflikte in der EU, beispielsweise durch Bevorzugung Putin nahestehender osteuropäischer Staaten bei der Rohstoffversorgung, sollen den Gegner schwächen und die eigene Position stärken. Spionage und Unterwanderung tun ein Übriges.
Innenpolitisch hat Putin während seiner Regierungszeit den Kreis der Macht also immer enger um sich herumgezogen. Außenpolitisch ist er hingegen auf Expansionskurs. Dass er den Zusammenbruch der Sowjetunion als „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ bezeichnet, ist ein Indiz dafür, in welchen Kategorien er denkt – in denen eines Großreichs. Dazu gehört die Einflussnahme auf ehemalige Sowjetrepubliken wie Belarus, Usbekistan, Kasachstan etc., deren diktatorische Regime er direkt unterstützt beziehungsweise in Abhängigkeit von Russland hält. Dazu gehört ebenfalls, als abtrünnig empfundene, auf eigenständige Nationalstaatlichkeit pochende Staaten wie Georgien oder die Ukraine mit Krieg zum Einlenken zu zwingen beziehungsweise sich Teile ihres Staatsgebiets (die Krim, der Donbass etc.) einzuverleiben. Frühere Teile des Sowjetimperiums wie zum Beispiel die baltischen Staaten fürchten nicht ohne Grund ein weiteres Ausgreifen des russischen Imperialismus. Sich darüber hinausgehend geostrategische Einflusssphären zu sichern wie etwa im Nahen Osten, gehört ebenfalls zu Putins Großmachtdenken, wie sich an seiner blutigen Unterstützung des Assad-Regimes in Syrien zeigt.
Diktatur, Autokratie, totalitärer Staat
Wenn man Staaten wie das gegenwärtige Russland hinsichtlich ihrer Herrschaftsform kategorisieren will, stehen diverse Begriffe zur Verfügung, deren Inhalte aber ihrerseits umstritten sind. Es gibt zwar jeweils eine Art Begriffskern, doch jenseits dessen fangen die Deutungsdifferenzen an. Auf jeden Fall stellen Diktatur, Autokratie und totalitärer Staat Gegenmodelle zum demokratischen Rechtsstaat dar. Selbst wenn sie demokratisch legitimiert sein sollten, sind sie aufgrund der in ihnen stattfinden Konzentration der Macht keine Rechtsstaaten. Denn der Rechtsstaat fordert die Unabhängigkeit des Rechts, die an Gewaltenteilung und -kontrolle gebunden ist.
Die Diktatur war im römischen Reich eine von der Verfassung vorgesehene und mit weitreichenden Kompetenzen ausgestattete Notstandsregierung, die vom Senat eingesetzt wurde und zeitlich begrenzt war. Zweck der Diktatur war die Wiederherstellung der in Gefahr geratenen politischen Ordnung. Als Cäsar vom Senat zum Diktator auf Lebenszeit ernannt wurde, bedeutete das einen Bruch mit der Verfassung und eine Entgrenzung der Herrschaft, die in der Folgezeit immer öfter mit dem Begriff verbunden wurde. Bei der „Diktatur des Proletariats“ zum Beispiel ist an die unbegrenzte Herrschaft einer Klasse gedacht, die das Recht hat, alle anderen zu unterdrücken. Allerdings ist hier, zumindest theoretisch, noch eine Zweckbindung im Spiel, nämlich mittels der Diktatur den Übergang von der Klassengesellschaft zur klassenlosen Gesellschaft zu schaffen. Nach heutigem Begriffsgebrauch wird unter „Diktatur“ hingegen eine Monopolisierung der Macht durch eine Person oder Gruppe verstanden, die außer ihren eigenen Interessen keine weiteren Ziele verfolgt und das von ihr Gewollte mit repressiven Maßnahmen durchsetzt.
Noch unschärfer erscheint der Autokratiebegriff. Darunter wird eine Herrschaft rein aus eigener Ermächtigung und ohne rechtliche oder sonstige Beschränkung verstanden. Da unter dem Etikett „Autokratie“ aber die absolutistische Monarchie genauso wie das Despotentum verbucht werden können, obwohl erstere nicht unbedingt ein Unrechtsregime sein muss, ist der Begriff wahrscheinlich eher geeignet, die Legitimationsquelle zu benennen als die Qualität der Herrschaft. Zwar ist es historisch eher selten, dass die Selbstermächtigung der Herrschenden zu einem benevolenten Regiment führt, auszuschließen ist es aber nicht.
Der totalitäre Staat wird gemeinhin als modernes Phänomen betrachtet, als eine Staatsform des 20. Jahrhunderts. Das Besondere ist hier die Durchdringung von Staat und Gesellschaft; die Politik bezeichnet keinen gesonderten Raum des Wirklichen, sondern erfasst schlechterdings alles. Das macht den Staat „total“. Auch beim Totalitarismus gibt es verschiedene Erklärungsmodelle. Das von den beiden Politikwissenschaftlern C. F. Friedrich und Z. Brzezinski entwickelte ist zwar statisch und eher deskriptiv, liefert aber einen brauchbaren Kriterienkatalog. Mit vier der von Friedrich und Brzezinski genannten Kennzeichen des totalitären Staates könnte man auch Diktaturen und ähnliches beschreiben: die Existenz eines Terrorsystems, eines Monopols der Massenmedien, einer staatlich gelenkten Wirtschaft und eines Monopols der Kampfwaffen. Die beiden weiteren Kriterien, die Herrschaft einer Ideologie und einer von ihr getragenen Massenpartei, kennzeichnen aber das spezifisch totalitäre Ausgreifen der Politik auf den einzelnen Menschen beziehungsweise auf sein Inneres. Auch sein Denken will der Staat kontrollieren, der äußere Gehorsam genügt ihm nicht. Von daher ist China mit seiner umfassenden Indoktrination und lückenlosen Kontrolle der Menschen inzwischen wieder ganz eindeutig ein totalitärer Staat. Aber trifft das auch auf Russland zu?
Russland – Diktatur oder totalitärer Staat?
Wenn man das gegenwärtige Russland unter dem Aspekt der vier erstgenannten Kriterien betrachtet, so sind zumindest starke Tendenzen feststellbar, die für eine Anwendbarkeit dieser Kriterien sprechen. Mit dem Nachfolger des KGB, dem FSB, hat Putin einen wirkungsvollen Inlandsgeheimdienst an der Hand, den er zur Terrorisierung der eigenen Bevölkerung einsetzen kann. Direkt ihm unterstellt ist die Sonderpolizei OMON, die gegen Kriminalität und Terrorismus eingesetzt werden soll, wobei die Definition beider Bereiche von politischer Seite erfolgt. Da auch die Justiz politisiert ist und Urteile gegen Dissidenten zum Teil schon vor dem Prozess festgelegt werden, sind rechtsstaatliche Mechanismen zur Abwehr staatlicher Maßnahmen so gut wie nicht verfügbar. Was die Massenmedien angeht, wurde nicht zuletzt seit dem Überfall auf die Ukraine eine immer weitergehende Monopolisierung der Meinungsbildung betrieben. Regimekritische Sender, Printmedien und Social-Media-Kanäle gibt es fast nicht mehr. So weitreichend ist der Einfluss auf die öffentliche Meinung, dass die Verwendung des Wortes „Krieg“ in Bezug auf das militärische Vorgehen in der Ukraine unter Strafe gestellt werden konnte. Die Lenkung der Wirtschaft ist sicher nicht total, aber da keine Rechtssicherheit besteht, können jederzeit politisch motivierte Eingriffe in die Wirtschaft vorgenommen werden. Die Zerschlagung des Yukos-Konzerns und Inhaftierung seines Putin-kritischen Vorstandsvorsitzenden Chodorkowski ist das beste Beispiel. Außerdem gibt es eine hohe Quote von Staatskonzernen, und viele andere Konzerne befinden sich in der Hand von Oligarchen, die von der Gunst Putins abhängig sind. Das Monopol an Kampfwaffen gilt zweifellos in Bezug auf militärische Waffen. Jenseits dessen werden die relativ strengen Waffengesetze aber oft unterlaufen – eine Konsequenz fehlender Rechtsstaatlichkeit und einer weitverbreiteten, auch seitens des Staates betriebenen Korruption.
Wie aber steht es mit den für ein totalitäres System entscheidenden Kriterien von Ideologie und ideologisch gesteuerter Massenpartei? Eine ausgearbeitete Weltanschauung wie der Marxismus oder die NS-Ideologie Hitler’scher Prägung gibt es in Russland zweifellos nicht. Allerdings hat Putin in den letzten Jahren zunehmend den Gedanken einer russischen Mission propagiert, die er mit einer verzerrten Geschichtssicht begründet und mit der er das imperiale Ausgreifen Russlands legitimiert. So sieht er sich in der Tradition eines tausendjährigen Abwehrkampfes des russischen Reichs gegen den Westen. Die gemeinsame Wurzel von Russen, Belarussen und Ukrainern verortet er in der Kiewer Rus, Grund genug, den Ukrainern eine eigenständige nationale Identität abzusprechen. In Putins Augen sind die nationale Einheit und Stärke Russlands essenziell, um sich gegen den dekadenten, hedonistischen Westen durchsetzen zu können, der via NATO seinerseits auf das russische Einflussgebiet ausgreift. Der eigene Imperialismus ist also rein reaktiv, wobei nicht klar ist, ob Putin auch von der Doktrin des Eurasismus beeinflusst ist: Russland als Zentrum eines eigenen eurasischen Imperiums, dessen Kultur sich fundamental von der romano-germanischen unterscheidet – womit auch der Gegensatz zwischen Orthodoxie und Katholizismus gemeint ist. Im Neo-Eurasismus, der z. B. von Alexander Dugin vertreten wird, werden die Grenzen dieses Imperiums ungemein ausgeweitet: Es soll von Wladiwostok bis Dublin reichen, wobei der Kampf sich nun auf den zwischen Russland und den Vereinigten Staaten zuspitzt, die Europa zu ihrem Vasallen gemacht haben.
Ein bipolares Weltbild, also die Unterteilung der Welt in Freund und Feind, eine durch eine mythisch überhöhte Vergangenheit begründete Mission, eine als krisenhaft wahrgenommene, das eigene Eingreifen erfordernde Gegenwart, eine durch andere verursachte Notlage, die den Einsatz aller Mittel rechtfertigt – all das sind Kennzeichen ideologischen Denkens. Ob es solchem Denken gelingt, einen Staat totalitär auszurichten, hängt davon ab, wie weit sich die herrschende Partei dafür gewinnen beziehungsweise instrumentalisieren lässt und ob die Indoktrination der Gesellschaft erfolgreich ist. Letztere betreibt Putin intensiv durch den Kampf gegen abweichendes Denken, ein Informations- und Nachrichtenmonopol, das Umschreiben der Geschichtsbücher usw. Ersteres erscheint durchaus aussichtsreich, da die herrschende Partei „Einiges Russland“ Putins Führerschaft bedingungslos akzeptiert hat und die verbliebenen anderen Parteien entweder Kreml-nahe sind oder durch Repression eingeschränkt werden.
Noch, so scheint es, ist die totale Durchdringung von Staat und Gesellschaft nicht erreicht. Dass die Zustimmung der Bevölkerung zu Putin aber offenbar sehr hoch und noch im Ansteigen begriffen ist und dies angesichts des Plans, die Ukraine nicht nur politisch, sondern auch kulturell schlicht auszulöschen, lässt ein weiteres Abdriften in Richtung totalitäres System befürchten. Hinzu kommt das Bündnis Putins mit der in Russland sehr einflussreichen orthodoxen Kirche, deren Patriarch Kirill mit Putin die KGB-Vergangenheit teilt. Da Putin das gesamte System auf seine Person zugeschnitten hat, könnte es nach seinem Weggang allerdings auch kollabieren. Die Zukunft erscheint offen. Aufgrund des in Russland verbreiteten anti-westlichen Ressentiments wäre der Weg zu einer liberalen Demokratie westlicher Prägung jedoch weit.
Prof. Dr. Barbara Zehnpfennig ist Inhaberin des Lehrstuhls für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Universität Passau.