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Essay

Frei und konservativ

Die politische Mitte in der deutschen Geschichte

Wo ist der Platz der politischen Mitte im Parteienspektrum der Bundesrepublik Deutschland? Liegt er dort, wo heute SPD und Grüne die von ihnen definierte „demokratische Mitte“ verorten? Historisch gesehen ist das fragwürdig, denn „Mittelparteien“ waren in Deutschland, und nicht nur dort, meistens gemäßigt konservativ und liberal und integrierten nach rechts. Angesichts der Wahlerfolge der AfD ist es der Union heute kaum noch möglich, diese Aufgabe zu erfüllen. Gerade deshalb muss sie aber an dem Anspruch festhalten, die Mitte zu sein, um von dort aus ihre Anziehungskraft zu vergrößern.

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Übersicht vom 37. Bundesparteitag in der Bremer Stadthalle, der unter dem Motto stand: "Für Deutschland. Starke Mitte - gute Zukunft". Aufgenommen am 11. September 1989. picture-alliance / dpa | dpa
Übersicht vom 37. Bundesparteitag in der Bremer Stadthalle, der unter dem Motto stand: "Für Deutschland. Starke Mitte - gute Zukunft". Aufgenommen am 11. September 1989.

Die politische Mitte hat es nicht leicht – begrifflich gesehen. Je beliebter sie wird, desto schwerer hat sie es, denn eine Projektionsfläche, die jeder füllen möchte, bedeutet am Ende gar nichts mehr. Die Deutschen waren immer fasziniert von der Mitte, wie Herfried Münkler in seinem Buch Macht in der Mitte gezeigt hat, aber in der Politik war sie lange Zeit kein Sehnsuchtsort. Das hat sich seit dem Ende der 1950er Jahre geändert. Die SPD wollte seit dem Godesberger Programm von 1959 auch ein wenig in der Mitte sein, weil es für den Wahlerfolg notwendig war. Und tatsächlich rückte sie mit dem Verzicht auf den Marxismus in die Mitte – freilich wirklich nur ein wenig, denn „links und frei“, wie Willy Brandt später seine Memoiren nannte, wollte man trotzdem sein. Im Bundestagswahlkampf von 1998 erfand Gerhard Schröder dann das Schlagwort der „Neuen Mitte“, und damit nahm das terminologische Unglück seinen Lauf. Schröder erklärte die Mitte zu dem Ort, an dem man sein musste. Da sich aber CDU und CSU dort sahen und nicht weichen wollten, war es einfacher, angelehnt an Tony Blairs „New Labour“ eine „Neue Mitte“ zu erfinden, als die alte zu erobern. Die weitere Entwicklung der SPD zeigt, dass Schröders Mitte vielleicht neu, aber nicht nachhaltig war.

 

Fragwürdige Selbstbezeichnungen

Seit einigen Jahren gibt es wieder eine neue Mitte, eine ganz neue Mitte, die „demokratische Mitte“. Zu ihr gehören nach dem Willen ihrer Verfechter alle Parteien, die die deutsche Demokratie tragen, die für sie eintreten und sie verteidigen. Wesentlich dabei ist, dass die Definitionshoheit über die „Mitte“ in ihr selbst liegt, genauer gesagt: bei einigen innerhalb dieser „Mitte“, nämlich bei Grünen und SPD und ihren Verbündeten im Öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Denn Union und FDP sind nur Mitglieder auf Probe oder, angesichts der Abstimmung über Friedrich Merz’ Fünf-Punkte-Plan zur Migrationspolitik, Mitglieder auf Bewährung. Alle parlamentarischen Entscheidungen dürfen nur innerhalb dieses Lagers getroffen werden, wobei eine Zustimmung der AfD zu Gesetzentwürfen diese delegitimiert, während Zustimmung von Linken und BSW toleriert wird.

Es liegt auf der Hand, dass diese Vorstellung von „Mitte“ gefährlich ist – für das kritische Denken und die Funktionsfähigkeit der liberalen Demokratie. Dass nur die Mitte prinzipiell demokratisch sein soll, widerspricht dem gesunden Menschenverstand. Sind Menschen, die nach links oder rechts von dieser Mitte abweichen in jedem Fall Feinde des Systems? Wollen sie – nicht alle, aber doch viele – ihre Positionen nicht auch im System der liberalen Demokratie durchsetzen, ohne seine Abschaffung anzustreben? Sind sie, obwohl radikal, nicht auch Teil des Systems? Früher jedenfalls war das so. Die SPD scheute sich nicht nur nicht, sich als links zu bezeichnen, sie war auch stolz auf eine lange Geschichte des Kampfes für die Rechte und Lebensbedingungen der Arbeiter, ein Kampf der im Allgemeinen als politisch links verstanden wurde. Das scheint die SPD zurzeit vergessen zu haben. Vergessen hat sie auch, und nicht nur sie, warum wir in politischer Hinsicht von links und rechts und folglich auch von der Mitte sprechen.

Die Mitte ist jünger als die Linke und die Rechte, denn eine Mitte gibt es nicht ohne zwei extreme Punkte, es sei denn, es handelte sich um die Mitte eines Kreises. Nun kann man daran zweifeln, dass es sinnvoll ist ein Parteienspektrum als Kreis darzustellen. Wichtiger ist aber noch, dass es sich in der Praxis kaum jemand jemals so vorgestellt hat. Die einzige mir bekannte Ausnahme ist Edmund Burke, der einmal – aber wirklich nur einmal – davon sprach, dass er seinen Gegnern politisch extrem erscheine, weil er, in der Mitte eines Kreises stehend, von den Rändern so wirken müsse. Die Extremisten waren somit die anderen. Das war rhetorisch geschickt, ist aber schwierig aufrechtzuerhalten, wenn verschiedene Positionen markiert und voneinander abgegrenzt werden sollen.

 

Herkunft des Links-Rechts-Schemas

Halten wir uns also nicht an den Kreis, sondern an das lineare beziehungsweise antagonistische Modell, das wir der Französischen Revolution verdanken. Am 28. August 1789 begann in der Verfassungsgebenden Nationalversammlung im Hôtel des Menus-Plaisirs in Versailles die Diskussion darüber, ob die zukünftige Verfassung dem König ein absolutes oder ein aufschiebendes Veto zugestehen solle. Als die Versammlung am 11. September über diese Frage abstimmte, begab sich die Minderheit, die ein absolutes Veto wollte, auf die rechte Seite und die Mehrheit, die ein aufschiebendes Veto befürwortete, auf die linke Seite des Saales. Die Begriffe „Linke“ oder „Rechte“ lassen sich allerdings nicht vor 1799 nachweisen. Was sie in der Sache bedeuten oder wie ausgeprägt dabei die Mitte ist, hängt von der politischen Kultur eines Landes und den zeitlichen Umständen ab. In Frankreich etwa ist die Zweiteilung der politischen Landschaft traditionell besonders scharf.

Emmanuel Macron hat daran mit seiner Bewegung nur scheinbar etwas geändert, wie man mittlerweile sehen kann. Es gehört zu den Besonderheiten der französischen Geschichte, dass es den Kräften der Mitte fast nie gelang, sich einen sicheren Ort zu schaffen, und wenn dann nur im Zustand der Belagerung von links und rechts. Aber nicht nur mit Blick auf Frankreich ist nach dem Ort der Mitte zu fragen. Auf einer Linie ist sie der Punkt, der exakt zwischen den Extremen liegt, aber die politische Mitte kann nicht nur ein Punkt sein. Zudem ist es fraglich, ob sie immer genau zwischen zwei Polen liegt. Wenn das so wäre, könnte man die Vorstellungen der Flügelparteien eines Systems einfach miteinander verrechnen und hätte die Mitte. Aristoteles unterscheidet in seiner Nikomachischen Ethik das „Mittlere der Sache“, das „gleich weit von beiden Extremen entfernt“ und „für alle ein und dasselbe“ ist, von dem „Mittleren in Bezug auf uns“, das „weder zu viel noch zu wenig“ und „auch nicht für alle Dasselbe“ ist.

 

Repräsentation der Mitte durch SPD und Grüne?

In der Politik ist nur das „Mittlere in Bezug auf uns“ von Bedeutung. Insofern ist die Vorstellung einer „demokratischen Mitte“, die näher am linken als am rechten Pol des Systems liegt, nicht einmal abwegig. Es ist theoretisch möglich, dass das „Mittlere in Bezug auf uns“, also die politische Mitte, links des „Mittleren der Sache“ liegt. Die Frage, wo das „Mittlere in Bezug auf uns“ liegt, hängt zum einen vom politischen Angebot ab, davon, was in einem System vorhanden ist und von einem Teil der Bürger für möglich gehalten wird, zum anderen aber von den herrschenden Mehrheiten. Wenn eine absolute Mehrheit der Bürger die von der Union vertretene strengere Migrationspolitik befürwortet und SPD und Grüne sie ablehnen, dann können Letztere nur die Mitte repräsentieren, wenn die Mehrheit der Deutschen dort nicht steht. Das ist durchaus denkbar. Da aber aus Sicht von Grünen und SPD nur die Insassen der Wagenburg, die sie „demokratische Mitte“ nennen, demokratisch sind, folgt aus ihrer Argumentation, dass nicht nur die Union, sondern auch die Mehrheit der Deutschen nicht demokratisch ist.

Es ist schwer zu glauben, dass das zutrifft. So sehr liegen die Weimarer Verhältnisse dann doch noch nicht in der Luft. Das aristotelische „Mittlere für uns“ befindet sich in der derzeitigen politischen Landschaft in Deutschland zumindest in der Migrationsfrage offensichtlich nicht links der geometrisch zu bestimmenden Mitte. Als Robert Habeck seinen Parteifreunden im Januar 2025 auf der „Bundesdelegiertenkonferenz“ zurief, die Grünen hätten den von der CDU freigemachten Platz in der Mitte besetzt, schwang zumindest eine Ahnung davon mit, dass man selbst wohl nicht immer in der Mitte gewesen war. Aber das sind Tempi passati, Zeiten, die so fern liegen, dass sich kaum jemand bei den Grünen oder der SPD an sie erinnert. Woher kommt die selbstbewusste Überzeugung, zu wissen, was die Mitte ist, und der Anspruch, über sie wachen zu dürfen? Neben dem politischen Kalkül dürfte die Unkenntnis der deutschen Parteiengeschichte eine wichtige Rolle spielen, der Glaube, SPD und Grüne seien tatsächlich die idealtypischen Parteien der Mitte, die Union nur der linke Flügel eines unangenehmen rechten Randes. Historische Amnesie der besonderen Art.

Weimarer Republik, Kabinett des Reichskanzlers Hermann Müller vom 28. Juni 1928 bis 27. März 1930 aus SPD, DDP, Zentrum, BVP und DVP (Große Koalition). – Sitzend von links Julius Curtius, Gustav Stresemann, Hermann Müller, Wilhelm Groener, Joseph Wirth; stehend von links Georg Schätzel, Theodor von Guérard, Adam Stegerwald, Carl Severing, Hermann Dietrich, Rudolf Hilferding. Foto vom 16. April 1929. picture alliance / akg-images | akg-images
Weimarer Republik, Kabinett des Reichskanzlers Hermann Müller vom 28. Juni 1928 bis 27. März 1930 aus SPD, DDP, Zentrum, BVP und DVP (Große Koalition). – Sitzend von links Julius Curtius, Gustav Stresemann, Hermann Müller, Wilhelm Groener, Joseph Wirth; stehend von links Georg Schätzel, Theodor von Guérard, Adam Stegerwald, Carl Severing, Hermann Dietrich, Rudolf Hilferding. Foto vom 16. April 1929.

Linke und rechte Parteien im Kaiserreich

Darauf, dass die SPD früher stolz darauf war, eine Arbeiterpartei zu sein, dass sie es nicht als Defizit, sondern als Ehrentitel verstand, links zu sein, haben wir schon hingewiesen. Im Deutschen Kaiserreich war sie eine der Flügelparteien und bildete mit der rechts von ihr stehenden linksliberalen Deutschen Fortschrittspartei, die nach verschiedenen Fusionen, Spaltungen und Namenswechseln von 1910 an Fortschrittliche Volkspartei hieß, die Linke. Auf der anderen Seite, am rechten Ende des politischen Spektrums, stand seit 1876 die Deutschkonservative Partei, mit deren Gründung sich die preußischen Altkonservativen mit dem ursprünglich von ihnen abgelehnten neuen Reich aussöhnten. Bei der Aussöhnung blieben sie nicht stehen, denn sie machten sich den neuen Staat auf eine spezifische Weise zu eigen, indem sie den von links, aus dem Lager des Liberalismus kommenden Nationalismus aufnahmen und radikalisierten, indem sie sich dem Antisemitismus und der Völkischen Bewegung öffneten und auf diese Weise alles in allem zu einer radikalen Rechtspartei wurden. Einige im Laufe der Zeit auftretende, unbedeutende Rechtsparteien beiseitegelassen, repräsentierten die Deutschkonservativen die Hauptströmung des Konservatismus.

Zwischen dem linken und dem rechten Pol des Parteiensystems standen die beiden „Mittelparteien“, wie es zeitgenössisch hieß, die Nationalliberale Partei und die Deutsche Reichspartei, die besser als Freikonservative Partei bekannt ist, unter dem Namen, den sie in Preußen trug. Die Nationalliberalen bildeten den rechten Flügel des Liberalismus, die Freikonservativen den linken Flügel des Konservatismus, und beide Parteien verband eine große Schnittmenge.

So erklärte etwa der Politiker Karl Baumbach in seinem 1882 erschienenen Staats-Lexikon „freikonservativ“ zum Synonym von „liberalkonservativ“ und stellte fest, damit bezeichne „man diejenige Parteirichtung, welche zwischen konservativ und liberal einen Mittelweg sucht und freisinniger Entwicklung auf Grund des Bestehenden nicht abhold ist.“ Für die Nationalliberale Partei galt, von der anderen Seite kommend, ungefähr dasselbe. Zwar fanden sich auf ihrem linken Flügel auch entschiedene Liberale, die Distanz zum Konservatismus wahrten. Von den Fortschrittlern unterschieden sie sich mehr durch die Herangehensweise an die Politik als durch ihre Prinzipien. Aber Bismarcks Wende zur Sozial- und Schutzzollpolitik am Ende der 1870er Jahre führte zur Abspaltung dieser Linksliberalen, die den Kurswechsel im Gegensatz zu den Vertretern des rechten Flügels nicht mitmachen wollten. Die nationalliberale Partei wurde auf diese Weise endgültig, wie der Staatsrechtler Erich Kaufmann gesagt hat, zu einer „rechtsgerichteten Mittelpartei“.

Die beiden Gruppierungen galten aus zwei Gründen als „Mittelparteien“, zum einen, weil sie innerhalb des vorhandenen Ideologieangebots tatsächlich so etwas wie die Mitte bildeten; zum anderen, weil sie nach der Reichsgründung den neuen Nationalstaat am entschiedensten stützten, die Nationalliberalen, weil sie ihn lange ersehnt hatten und sich zunächst mit dem vorhandenen Maß an Freiheit zufriedengaben, und die Freikonservativen, weil sie die „Partei Bismarck sans phrase“ waren, wie es hieß. Diese funktionale Stellung der Freikonservativen und Nationalliberalen brachte das Paradoxon mit sich, dass die beiden „Mittelparteien“ gleichzeitig als Teil der Rechten verstanden wurden, was sich in dem Begriff der „rechtsgerichteten Mittelpartei“ schon andeutet. Die Linie zwischen Linker und Rechter verlief, je nach den Zeitumständen, entweder direkt durch die Nationalliberale Partei oder zwischen den Nationalliberalen und dem Fortschritt. Doch handelt es sich nur um ein scheinbares Paradoxon, da für andere Länder ähnliches festzustellen ist. In Frankreich zum Beispiel wird die Mitte seit der Restaurationszeit als ein Teil der Rechten gesehen, und in Großbritannien hat sich der gemäßigte Teil der Konservativen Partei seit ihrer Entstehung in den 1830er Jahren immer als die Mitte par excellence gesehen. Dort, wo die Mitte glaubte, sich gleichzeitig von beiden Flügeln des Parteiensystems unabhängig machen zu können, erlebte sie in der Regel Schiffbruch.

 

Schwäche der „Mittelparteien“

Wie in Frankreich und Großbritannien war die Mitte im Kaiserreich also liberalkonservativ, frei und konservativ, könnte man sagen, aber auch aufgeschlossen gegenüber der Sozialpolitik. Gleichzeitig war sie schwach. Vor allem die Freikonservative Partei – eine Honoratiorenpartei ohne Struktur, die eigentlich nur in Preußen nennenswerten Zuspruch hatte – verlor im Laufe der Zeit den größten Teil ihrer Wähler und Mandate. Die Schwäche der Mitte des Kaiserreichs ist auch darauf zurückzuführen, dass sich aufgrund der Radikalisierung der Deutschkonservativen keine große Mitte-Rechts-Partei, wie es die britischen Konservativen waren, bilden ließ, die nach rechts integrierte, aber in der Mitte regierte. Die Existenz der Deutschen Zentrumspartei verschärfte dieses Problem noch, denn obwohl sie im Grunde auch eine Mittelpartei war, stellte sie, wie Thomas Nipperdey erklärt hat, als Vertreterin der deutschen Katholiken eine „permanente Minderheit“ dar, die „zugleich Rechte wie Linke in Deutschland Minderheit bleiben ließ.“ Die Integration der Katholiken in andere Parteien hätte das Parteiensystem entlastet, aber Bismarcks Kulturkampfpolitik führte – im Gegensatz zu dem, was er beabsichtigt hatte – zu einer Festigung des Zentrums.

Nach dem Übergang von der Monarchie zur Republik wurde die Lage nicht einfacher. Auf den ersten Blick könnte man denken, die Weimarer Koalition aus SPD, Zentrum und der linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei (DDP) könnte Vorbild für das sein, was sich rot-grüne Kreise heute als „demokratische Mitte“ vorstellen. Immerhin waren diese drei Parteien die einzigen, die von Anfang an die Republik stützten. Links der Koalition standen zunächst die Kommunisten und rechts die nationalliberale Deutsche Volkspartei (DVP) und die Deutschnationale Volkspartei (DNVP), später auch die NSDAP. Ist das nicht genau die Konstellation, mit der wir es heute zu tun haben? Sollten Union und FDP sich nicht das Zentrum und die DDP zum Vorbild nehmen und sich gemeinsam mit Grünen und SPD zur „demokratischen Mitte“ bekennen? Der Vergleich scheitert gleich in zweifacher Hinsicht an der historischen Realität.

Erstens hat die Weimarer Koalition im Reich noch nicht einmal zwei Jahre lang regiert, weil die ideologischen Gemeinsamkeiten der drei Parteien kleiner waren als ihre Gegensätze. Zweitens ist es fraglich, ob in dieser Koalition wirklich die Mitte zusammenkam. Die SPD hielt trotz ihrer Verdienste in der Revolution und ihrer grundsätzlichen Bereitschaft, in der bürgerlichen Demokratie mitzuarbeiten, am Marxismus und damit am Ziel der Überwindung der liberalen Demokratie fest. Das brachte sie in eine unhaltbare Lage, denn auf der einen Seite war sie weniger kompromissfähig als nötig, auf der anderen Seite war sie dem ständigen Vorwurf der Kommunisten ausgesetzt, mit der Rechten gemeinsame Sache zu machen. Eine Partei der Mitte war sie nicht. Sie tat sich insgesamt schwer, mit den bürgerlichen Parteien zusammenzuwirken.

Die eigentliche Regierung der Mitte war die in der Geschichte der Republik am häufigsten vorkommende „bürgerliche Koalition“ aus Zentrum, DDP und DVP, die mal durch die SPD, mal durch die DNVP ergänzt oder toleriert wurde. Die kleine DVP stand in dieser Konstellation sowohl für den rechten Liberalismus als auch den liberalen Konservatismus, denn gemäßigte Konservative gab es in der DNVP so gut wie gar nicht. Der DVP-Vorsitzende Gustav Stresemann rühmte seine Partei dafür, die einzige zu sein, die sich nicht vom Parteigeist beherrschen lasse und anschlussfähig nach links und rechts sei. Tatsächlich war aber die Unvereinbarkeit der Vorstellungen von DVP und SPD oft ein wesentliches Problem bei der Bildung einer stabilen Mehrheitsregierung.

 

Historische Aufgabe der Union

Nach der Gründung der Bundesrepublik ließen sich die Strukturprobleme der deutschen Parteienlandschaft erstmals überwinden. Auf der einen Seite nahm die SPD trotz ihrer marxistischen Programmatik sofort die Rolle einer konstruktiven Mitte-Links-Partei ein. Gleichzeitig blieb sie zunächst eine Arbeiterpartei und verstand sich als linke Kraft. Zum eigentlichen Umbruch kam es auf der anderen Seite, in der rechten Mitte und rechts davon, mit der Gründung von CDU und CSU. In dem Maße, in dem es möglich war, überwand die Union die konfessionellen und parteipolitischen Spaltungen des untergangenen Reiches und wurde als Sammlungsbewegung zu der großen Mittelpartei, die in der Weimarer Republik einige Politiker aus dem Zentrum und den bürgerlich-protestantischen Parteien angestrebt hatten, aber nicht verwirklichen konnten. Diese neue Mittelpartei war freilich eine Mitte-Rechts-Partei, die wie die britischen Konservativen weit nach rechts integrierte, um in der Mitte regieren zu können.

Durch ihre Prinzipien und ihre Wahlergebnisse wurde die Union zur Partei der Bundesrepublik „sans phrase“ – eine Position, die sie heute nur noch mit Blick auf ihre Prinzipien verteidigt, oder besser: auf die sie mittlerweile wieder Anspruch erhebt. Die Rückverlagerung des politischen Schwerpunkts der CDU von der linken in die rechte Mitte, zu der es in jüngster Zeit gekommen ist, bedeutet das Gegenteil von dem, was Habeck zu sehen glaubte – sie steht für den Versuch der Rückeroberung der alten Funktion einer Mitte-Rechts-Partei. Angesichts der Mehrheitsverhältnisse im Bund und in den Ländern ist es allerdings fraglich, ob die Union diese Funktion noch erfüllen kann. CDU und CSU können und dürfen nicht mit der AfD koalieren, weil deren völkischer Charakter mit einem gemäßigten Konservatismus unvereinbar ist. In der schwarz-roten Koalition, die der Union nach der Bundestagwahl als einzige Option bleibt, müsste sie die SPD auf eine Politik der Mitte verpflichten. Niemand kann sagen, ob das gelingen wird, zumal die Mehrheit schmal ist. Die politische Mitte ist heute wieder, was sie im Kaiserreich war, sie ist frei und konservativ – aber auch schwach.

 

 

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