„Sehr verehrter Herr Bischof!
Es wird mir nicht leicht, eine Beschwerde loszuwerden, zu der ich mich als Protestantin und Witwe vom 20. Juli 1944 verpflichtet fühle. Meine Kinder und ich kommen eben aus Berlin zurück. Es handelt sich um die Rede von Superintendent Professor Harder in Plötzensee.“
Mit diesen Worten leitete Ilse-Lotte von Hofacker Ende Juli 1954 einen Brief an Bischof Otto Dibelius ein. Sie hatte an der Gedenkstunde zum zehnten Jahrestag des versuchten Staatsstreichs vom 20. Juli 1944 teilgenommen und mit Bestürzung die Worte des evangelischen Würdenträgers aufgenommen. Schlimmer noch, sie schämte sich als Protestantin vor den katholischen Widerstands-Angehörigen für diese Rede. Wieder einmal, wie schon nach der Befreiung der Sippenhäftlinge im Südtirol neun Jahre zuvor, schienen Worte und Gesten des katholischen Geistlichen sehr viel mehr die Herzen zu erreichen als die geschliffene Rede des evangelischen Pfarrers.
Frühes Gedenken: Zögerliche Anerkennung und unterschwellige Ausgrenzung der Angehörigen
Dabei ließ der Theologe Günther Harder, selbst einst aktives Mitglied der Bekennenden Kirche, in seiner Ansprache keinen Zweifel an der moralischen Größe des Handelns der Widerstandskämpfer. Doch er wollte keinen billigen Trost spenden, keine pathetische Idealisierung vornehmen, keinem Bedürfnis nach politischer Auslegung entsprechen. Nicht nur, dass die Tat misslungen, das Opfer vergebens gewesen sei und „unendlich viel wertvolle Männer“ heute fehlten, auch an der Tat selbst könne man sich nicht trösten, denn sie enthalte neben „beispiellosem Mut und seltener Tapferkeit auch ein Teil Unentschlossenheit in sich“. Und er fuhr fort mit der Frage, ob überhaupt durch eine solche Tat die Möglichkeit bestehe, „der Strafe zu entgehen, die auf uns alle, auf das ganze Volk wartete“.
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Solche Worte wirkten eher wie Salz und nicht wie Balsam, den die Angehörigen sich von der Gedenkfeier erhofften und den sie auch brauchten. Das Trauma des gewaltsamen Todes ihrer Männer und Väter war längst noch nicht bewältigt. Seit kurzem erst würdigten hochrangige Politiker in öffentlicher Rede das „Vermächtnis“ des Widerstands. Dieser zögerlich einsetzenden offiziellen Anerkennung stand eine Mehrheit der Bevölkerung gegenüber, die auch zehn Jahre nach dem Attentat von Verrat sprach – und das nicht nur hinter vorgehaltener Hand. Auch wenn meine Großmutter Ilse-Lotte von Hofacker keine offene Anfeindung erdulden musste, so empfand sie doch eine unterschwellige Ausgrenzung. Die wenigsten Deutschen wollten sich in Erinnerung rufen lassen, dass es während des Nationalsozialismus eine Alternative zu Gefolgschaft und Wegschauen hätte geben können. Genauso wenig waren sie bereit, das Handeln einiger weniger als Opfer für sich und die vielen anderen anzuerkennen - im Sinne Henning von Tresckows, der nach dem Scheitern des Staatsstreichs gesagt haben soll: „Wenn einst Gott Abraham verheißen hat, er werde Sodom nicht verderben, wenn auch nur zehn Gerechte darin seien, so hoffe ich, daß Gott auch Deutschland um unserer willen nicht vernichten wird.“
Das Stauffenberg-Attentat auf Hitler und der Widerstand gegen das NS-Regime
Prof. Dr. Johannes Tuchel, der Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, spricht im Video über Motivation und Ziele der Beteiligten sowie den Ablauf und die Folgen des Umsturzversuchs.
Aufarbeitung in der Nachkriegszeit: Entwicklung einer antitotalitären Widerstandstradition und breitere Anerkennung des Widerstands
Das Verhalten der Nachkriegsdeutschen aus heutiger Sicht zu verdammen, hieße allzu leichtfertig über Lebensrealitäten hinwegzugehen. Die Folgen von Krieg, Flucht, Zerstörung und Verlust mussten – egal welche deutsche Schuld und kollektive Mitverantwortung sie verursacht hatten – zunächst einmal individuell bewältigt werden. Das ist eine Erklärung, keine Rechtfertigung für Verdrängen, Aus- und Schönreden und schon gar nicht für den braunen Filz, der lange Zeit viele Institutionen der Bundesrepublik durchsetzt hatte. Nicht zuletzt dank der Prozesse von Fritz Bauer gewann allmählich – sehr langsam – die Erkenntnis in der westdeutschen Öffentlichkeit an Gewicht, dass das nationalsozialistische Unrechtsregime ein monströses System war, dessen Rechtsauffassung kein Maßstab für das Gewissen und Handeln des einzelnen sein konnte. Das Erinnern an den deutschen Widerstand ist von der allmählich einsetzenden Auseinandersetzung mit der Vergangenheit nicht loszulösen. Dabei darf man sich diesen Prozess nicht als stetig voranschreitende kritische Selbstreflektion vorstellen, sondern eher als eine Folge unterschiedlicher Geschichten und Interpretationen aus dem Blickwinkel der jeweiligen Gegenwart. So wirkte nach dem Aufstand vom 17. Juni 1953 in der DDR das Attentat vom 20. Juli 1944 im Westen zunehmend identitätsstiftend: Die Bundesrepublik berief sich auf eine antitotalitäre Widerstandstradition. Aus Verrätern wurden nach und nach Märtyrer und Helden. Sie konnten zwar die Last der jüngsten deutschen Geschichte nicht nehmen, aber sie erleichterten das Auftreten gegenüber dem Ausland und dienten in der neugegründeten Bundeswehr als Bezugspunkt für die Vorstellung vom Soldaten als „Bürger in Uniform“.
Am 19. Juli 1954 zollte Bundespräsident Theodor Heuss den Widerstandskämpfern erstmals offiziell Dank „für das Opfer als Geschenk an die deutsche Zukunft“. Die von da an regelmäßig erfolgenden, oft pathetischen Ansprachen zu den Jahrestagen reduzierten den Widerstand zunächst weitgehend auf den 20. Juli und erhöhten seine Protagonisten zu Helden und Vorkämpfern der Demokratie. Sie wurden damit nicht nur gewürdigt, sondern unweigerlich auch politisch vereinnahmt. Gleichzeitig verhalf diese klare öffentliche Positionierung zu einer breiteren Anerkennung des Widerstands gegen den Nationalsozialismus. Es waren zwei Seiten einer Medaille. Genauso bedeutete Anerkennung nicht zwingend Aufarbeitung.
Wie sich die Wahrnehmung des Widerstands in den 60ern änderte
In den sechziger Jahren ging eine neue Generation dann deutlich härter gegen die unterlassene oder halbherzige Auseinandersetzung mit der Vergangenheit vor. Sie forderte öffentlich Rechenschaft von ihren Eltern, kritisch, vielleicht auch selbstgefällig, auf jeden Fall entschlossen, alte Verkrustungen aufzubrechen. Es gab für diese Jugend keine Gerechten – um mit Tresckows Worten zu reden – und schon gar keine Entlastung der vielen anderen. Die Wahrnehmung vom Widerstand gegen das NS-System veränderte sich. Historiker beschäftigten sich zunehmend mit dem im Westen bisher unterbelichteten Widerstand aus der Arbeiterschaft, der Sozialdemokratie und aus den Gewerkschaften, also von Menschen, die schon vor 1933 gegen den Aufstieg des Nationalsozialismus gekämpft hatten. Gleichzeitig wiesen sie auf eine anfängliche Regimenähe vieler konservativer und militärischer Oppositionskreise hin und stellten deren Politikverständnis als undemokratisch in Frage. Als Antwort auf eine Idealisierung des 20. Juli 1944 entstand das Gegenbild einer reaktionären Verschwörung, die erst gehandelt habe, als der Krieg verloren war. Der langjährige Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand Peter Steinbach hat die Rezeption des Widerstands als Folge der jeweiligen politischen Zeitgeschichte in mehreren Veröffentlichungen sehr umfassend beleuchtet. Auch Ruth Hoffmann hat sich in ihrem jüngst erschienenen Werk „das deutsche Alibi“ mit einem eher journalistischen Ansatz dieses Themas angenommen.
Unterschiedliche Bewertungen des Umsturzversuchs in Bundesrepublik und DDR
Lange Zeit bestimmte der Kalte Krieg in Ost und West die politische Erinnerung an den deutschen Widerstand gegen das nationalsozialistische Unrechtsregime. In der Bundesrepublik wurde Widerstand antitotalitär definiert - in der DDR antifaschistisch. Das bedeutete in beiden Fällen die Ausgrenzung bestimmter Gruppen im staatstragenden Verständnis. Daneben gab es aber durchaus eine sehr viel differenzierte Betrachtung. Während sich in der Bundesrepublik der Blick auf den linken Widerstand weitete, sich nicht mehr allein auf politische Überzeugungen, sondern auf den Kampf für Recht und Menschlichkeit richtete, würdigten auch DDR-Historiker ab Mitte der sechziger Jahre den 20. Juli 1944 als Abkehr vom Faschismus und Aufstand gegen Verbrechen und Unmenschlichkeit. Als hilfreiche Brücke diente oft eine unterstellte, historisch nicht nachweisbare späte Annäherung des Stauffenberg-Kreises an das Nationalkomitee Freies Deutschland (NKFD). Die Einordnung des von Stalin 1943 initiierten NKFD als Widerstandsgruppe führte unterdessen westlich des Eisernen Vorhangs zu heftigem Disput, hatten doch nicht nur Wehrmachtssoldaten in sowjetischer Kriegsgefangenschaft, sondern auch Exilkommunisten wie Walter Ulbricht und Wilhelm Pieck dazugehört. Nach erbitterter Kontroverse nahm die Gedenkstätte Deutscher Widerstand in der Berliner Stauffenbergstraße das Nationalkomitee in ihre ständige Ausstellung auf – kurz danach fiel die Mauer. Der Weg für ein deutsch-deutsches Erinnern an die so unterschiedlichen Gruppen und Persönlichkeiten, die sich dem NS-Unrechtsstaat widersetzt hatten, war geebnet – aber er fand nur wenig Beachtung.
Nach dem Ende des Kalten Kriegs: Barrieren auf dem Weg zu einem positiven Bezug zu den Widerstandskämpfern
Als gemeinsamer positiv besetzter historischer Bezugspunkt konnte sich der Widerstand nicht durchsetzen – schon gar nicht, nachdem Mitte der neunziger Jahre die Verstrickung des Militärs in Hitlers Vernichtungsfeldzug im Osten in den Fokus geriet. Die Ausstellung Verbrechen der Wehrmacht widerlegte die in weiten Teilen der Gesellschaft bislang sorgsam gepflegte Behauptung einer „sauberen“ Wehrmacht, die nichts mit den unbeschreiblichen Gräueln der SS und ihrer Einsatzkommandos zu tun gehabt habe. Die Debatte berührte auch den militärischen Widerstand: Wer von den Offizieren war Zeuge von Erschießungen geworden und hatte geschwiegen, welcher Kommandeur hatte Befehle weitergegeben oder gar veranlasst? Wer hatte Kriegsverbrechen begangen oder sich am Holocaust beteiligt? Wer hatte sich schuldig gemacht und wer gerade aufgrund solcher Erfahrungen den Weg in den Widerstand gefunden? Wie ist ein solches Verhalten einzuordnen?
Diese Fragen sind längst noch nicht erschöpfend gestellt, geschweige denn beantwortet, doch das Thema scheint kaum noch zu interessieren. Es wird nur noch wenig zum Widerstand geforscht und an den Schulen höchstens oberflächlich vermittelt. Allenfalls die Namen Stauffenberg und Sophie Scholl sind dank Hollywood und Instagram noch Jüngeren vertraut. Doch im Gegensatz zu Rechtsradikalen und Populisten, die skrupellos Symbole des Widerstands gegen unsere rechtsstaatliche Ordnung in Stellung bringen, tun wir uns schwer, einen positiven Bezug zu den Widerstandskämpfern herzustellen: Entweder wir stoßen uns an ihren Unzulänglichkeiten oder wir befürchten, sie als Feigenblatt eines besseren Deutschlands zu missbrauchen. Dürfen wir uns angesichts der Ungeheuerlichkeit der NS-Verbrechen auf sie berufen? Wäre das nicht zu billig?
Wertvolle Anerkennung des Widerstands heute: Bedingungsloses Einstehen für Freiheit, Menschlichkeit und Rechtsstaatlichkeit
Superintendent Günther Harder hatte in seiner Rede 1954 diese Frage gestellt. Meine Großmutter empfand sie als verletzend, nahm sie doch dem Opfer ihres Mannes und seiner Mitstreiter seinen letzten verzweifelten Sinn. Dabei hatte Harder selbst wenige Sätze später eine klare Antwort gegeben. Lange bevor die Debatte um eine ideologische Vereinnahmung des Widerstands begonnen hatte, bevor verschiedene Interpretationen ihn überhöhten oder ihm seine moralische Dimension absprachen, forderte Harder gerade den Verzicht auf eine Sinngebung:
„Wenn wir in der Freiheit, die wir uns schenken lassen müssen und können auf eigene Sinngebung verzichten, dann erst wird uns tröstliche Erkenntnis zuteil, Erkenntnis, deren lebendige Zeugen wir selbst in dieser Stunde sind. Dann wird uns nämlich jene Tat zu einem Geschenk an uns, an unser ganzes Volk, und wir können unser ganzes Volk nur bitten, auch von dieser Stätte [dem Hinrichtungsschuppen in Plötzensee] nur bitten, dies Geschenk nicht auszuschlagen.“
Den Widerstand auf diese Weise zu würdigen, bedeutet nicht, auf weitere Aufarbeitung zu verzichten. Die nach wie vor wichtige kritische Auseinandersetzung mit Lebenswegen und politischen Zielen der Widerstandskämpfer hindert nicht daran, mit höchster Wertschätzung, ja mit Dankbarkeit anzuerkennen, dass sie mit ihrem bedingungslosen Einstehen für Freiheit, Menschlichkeit und Rechtsstaatlichkeit einen Kontrapunkt zu Verbrechen und kollektivem Mitlaufen setzten. Im Gegenteil, es hilft, die wissenschaftliche Analyse unvoreingenommener, unbelastet von moralisierender Verurteilung oder Rechtfertigung vorzunehmen, wenn die Bedeutung des widerständigen Handelns in der NS-Diktatur in all seinen unterschiedlichen Facetten als Wert für unsere Gegenwart und Zukunft verinnerlicht wird. Der jungen Generation geht es heute nicht mehr um ein vermeintliches Relativieren von Schuld. Es geht um Vorbilder, um Mut, um die Fähigkeit gesellschaftliche und politische Gräben zu überwinden, miteinander für eine bessere Zukunft zu streiten, um einen persönlichen Einsatz für das Gemeinwohl. Deshalb ist die Erinnerung an den Widerstand gerade heute so wichtig: um zu zeigen, was es bedeutet, wenn wir eigene Handelsspielräume aufgeben und uns von Versprechen verführen lassen, dass autoritäre Machtstrukturen eine Lösung für globale Probleme seien; als Aufforderung, den Wert unserer Demokratie zu erkennen und sich dafür zu engagieren.
Genau diesen Bezug zu ihrer eigenen Lebenswirklichkeit stellt die Generation Z her, wenn sie sich mit dem Nationalsozialismus beschäftigt. Fake News, Rassismus, Ausgrenzung und Radikalisierung – die Parallelen liegen für sie auf der Hand. Laut einer Studie im Auftrag der Arolsen Archives ist das Interesse (nicht das spezifische Fachwissen) der jungen Menschen im Alter zwischen 16 und 25 Jahren an der NS-Geschichte deutlich höher als bei ihren Eltern. Die zeitliche Distanz ermögliche einen unbefangenen Zugang zu dem Thema und erlaube die Frage, wie sie sich selbst in einem solchen System verhalten hätten. Dabei zeige sich bei einigen eine Faszination für Führerkult, bedingungslosen Gehorsam und völkisches Denken. Das ging Männern wie Schulenburg, Hofacker oder auch Stauffenberg zunächst auch so. Widerstandsbiografien können vieles anschaulicher vermitteln als nüchterne Fakten.
Zurück zu 1954: Bischof Otto Dibelius ging damals in seiner Antwort an meine Großmutter – aus welchen Gründen auch immer – mit keinem Wort auf den Inhalt der Rede Harders ein. Vielmehr entschuldigte er sich sehr höflich. Er sei leider nicht vom Veranstalter gebeten worden, den Geistlichen zu bestimmen. „Es hätte sich sonst der Anstoß gewiss vermeiden lassen.“
Valerie Riedesel Freifrau zu Eisenbach ist die Enkelin des Widerstandskämpfers Cäsar von Hofacker. Nach dem Studium der Geschichtswissenschaften in Strasbourg und Paris war sie Redakteurin der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Sie arbeitet heute als freie Autorin und ist Kuratoriumsvorsitzende der Stiftung 20. Juli 1944.
Literatur
Peter Steinbach, Widerstand im Widerstreit. Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus in der Erinnerung der Deutschen, Paderborn 2001
Ruth Hoffmann, Das deutsche Alibi. Mythos „Stauffenberg-Attentat“ – wie der 20. Juli 1944 verklärt und politisch instrumentalisiert wird, München 2024
Die Studie: Wie steht die Gen Z zur NS-Zeit? http://arolsen-archives.org