Als mich Prof. Władysław Bartoszewski im Jahr 2000 um Unterstützung in den Angelegenheiten des Staatlichen Museums Auschwitz-Birkenau bat und mir vorschlug, Mitglied und Sekretär des Internationalen Auschwitz-Komitees zu werden, klangen mir zahlreiche Meinungen über das angebliche Ende der kollektiven Erinnerung an Auschwitz in den Ohren: „Wir beginnen ein neues Zeitalter, ein neues Jahrtausend […]. Die Überlebenden werden immer weniger, neue Generationen wachsen heran […]. Die Staaten Europas sind immer enger vereint […]. Es ist Zeit, ein neues Kapitel im europäischen Buch aufzuschlagen”. So oder ähnlich lauteten die elegant formulierten Botschaften der Propheten, die den „Topos“ Auschwitz in die Abstellkammer der Geschichte legen wollten. „Schon wieder Auschwitz? Wir werden doch nicht immer zu ein- und demselben zurückkehren?!” – entrüsteten sich andere Zeitgenossen in weniger elegantem Tonfall. Die einen und die anderen verkündeten einstimmig: „Sie werden sehen, noch heute kommen vielleicht fünfhunderttausend Menschen pro Jahr nach Auschwitz, aber das wird jetzt weniger werden. Die Zeiten haben sich geändert.“
Damals wusste ich noch nicht, welche Argumente ich dagegen vorbringen sollte, aber alles in mir sagte mir, dass diese Stimmen das genaue Gegenteil von dem vorhersagten, was jetzt passieren würde. Als ich nach sechs Jahren als Sekretär des Internationalen Auschwitz-Rates gebeten wurde, die Leitung der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau zu übernehmen und Direktor des Museums zu werden, war ich mir bereits sicher, dass ein tiefgreifendes Verständnis für das Wesen von Auschwitz und seinen vollen Platz auf der Achse der europäischen Geschichte und der Menschheit noch nicht erreicht war. Das war die Aufgabe, die es zu bewältigen galt. Aber ich war mir auch sicher, dass es sich bei diesen Stimmen um Stimmen handelte, deren unbewusstes Ziel es war, das Gespenst „Auschwitz” in seiner ganzen Bedeutung und die gesamte Erinnerung an die Shoah aus den Augen zu verlieren.
Bewahrung der authentischen Stimme des Ortes
Ich habe mich zunächst mit der Strategie der Wahrung der Authentizität befasst. Mir war klar, dass die unglaubliche Authentizität des historischen Ortes eine Ergänzung zu den Stimmen der Überlebenden darstellt. Denn viele der von weit her kommenden Menschen hatten zuvor sicherlich die verschiedenen Museen und Gedenkstätten besucht, die der Shoah und der Tragödie der KZ-Häftlinge gewidmet sind, und nun wollten sie sich dennoch mit Auschwitz auseinandersetzen. Doch derjenige, der zuvor die Memoiren eines Überlebenden gelesen hat, würde bei seiner Ankunft hier mehr erkennen. Und derjenige, der zuerst gesehen hat, wird nach seiner Rückkehr den Bericht eines Überlebenden in die Hand nehmen und mehr darin lesen. Aus dieser Überzeugung heraus wurde die Stiftung Auschwitz-Birkenau gegründet, um die wahrscheinlich größte Konservierungsarbeit im heutigen Europa zu ermöglichen. Neben den authentischen Stimmen der Opfer, die damals in zunehmender Zahl veröffentlicht wurden, sollte auch die authentische Stimme des Ortes bewahrt werden. Denn diese beiden Stimmen ergänzen sich gegenseitig.
Gleichzeitig haben wir die Bildungsarbeit ausgebaut, eine Präsenz in den Medien, einschließlich der sozialen Netzwerke, entwickelt, leichter zugängliche Bücher veröffentlicht, Ausstellungen an viele Orte in der Welt geschickt, Lehrer bei der Vorbereitung ihrer Klassen auf Besuche unterstützt und erklärt, warum es unmöglich ist, die heutige Welt ohne Bezug auf Auschwitz zu verstehen.
Eine Begegnung mit dem historischen Ort verändert die Menschen
Wir haben darauf hingewiesen, dass die Shoah nicht nur ein wichtiges Ereignis in der Geschichte Europas und der Welt ist. Sie ist ein entscheidender Wendepunkt. Die Shoa ist nicht ein weiterer Völkermord, nicht der erste und nicht der letzte, sondern ein konzeptionell und positivistisch geplanter und durchgeführter Mord, der in seiner Radikalität einzigartig ist. Es ist unmöglich, die Prinzipien der Nachkriegszeit, die Herausforderungen, die enormen zivilisatorischen, kulturellen, politischen, militärischen, sozialen und ökumenischen Anstrengungen zu verstehen, ohne die Shoah und die Entmenschlichung der Lager als einen Wendepunkt in der Geschichte Europas und des Menschen zu betrachten.
Deshalb ist ein Besuch in Auschwitz nicht dasselbe wie ein Besuch in einem anderen Museum, selbst wenn dieses ein ähnliches Thema behandelt. Das ist der Grund, warum diejenigen, die einmal in Auschwitz gewesen sind, noch einmal hierherkommen wollen. Und das ist auch der Grund, warum Lehrer, die Auschwitz gesehen haben, als sie noch in der Schule oder im Studium waren, ihre Schüler heute dorthin bringen wollen. Denn die Konfrontation mit dem, was hier geschehen ist, indem man zwischen den Blocks und Baracken, über die Rampe und zwischen den Ruinen der Gaskammern und Krematorien hindurchgeht, bewirkt eine Erfahrung, die die Religionssoziologie als Übergangsritus bezeichnet (franz. rite de passage). Damit ist eine Erfahrung gemeint, die die Menschen verändert und die es ihnen ermöglicht, eine andere Ebene des Verstehens zu erreichen. Die Menschen kommen an, sie gehen, sie schauen, sie denken, sie sind still. Und sie gehen schweigend und nachdenklich. Und sie erinnern sich jahrelang an diesen Besuch.
Die Zahl der Besucher der Gedenkstätte erreichte eine Million, dann anderthalb Millionen, zwei Millionen und – vor der Pandemie – sogar fast zweieinhalb Millionen Menschen. Sie wuchs stetig. Und die Stimmen aus der Zeit der Jahrhundertwende verstummten.
Die Erinnerung ist die Schwester der Verantwortung
Denn das ist die Macht der Erinnerung, etwas, das Schule und Geschichtsunterricht nicht bewirken können. Sie erfordert eine persönliche Erfahrung – eine persönliche Konfrontation mit der Vergangenheit. Die französischen Theoretiker des kollektiven Gedächtnisses mögen es mir verzeihen, aber so etwas wie eine „Weitergabe des kollektiven Gedächtnisses“ gibt es nicht. Diese Vorstellung geht nämlich von der falschen und ein wenig arroganten Annahme aus, dass sich eine bestimmte Generation an ein historisches Ereignis in der richtigen Weise erinnert und dass diese Erinnerung an die nachfolgende Generation weitergegeben werden sollte. Und die Pflicht der zweiten Generation bestehe darin, die übermittelte Erinnerung anzunehmen und vollständig zu übernehmen. Aber Erinnerung kann man nicht weitergeben wie ein Geschenk oder einen Nachlass. Man kann höchstens das Wachstum der Erinnerung in einer neuen Generation und in jedem einzelnen Menschen fördern und unterstützen. Aber dieses Gedächtnis der nächsten Generation wird sich in einer Sprache und in Symbolen ausdrücken, die für diese Generation spezifisch sind und nicht für die vorherige. Sie wird auch eine Waffe sein, wenn es darum geht, den neuen Bedrohungen zu begegnen, die für diese Generation spezifisch sind. Die Hippies, die 1969 nach Woodstock kamen, hatten keine gemeinsame Sprache der Erinnerung mit ihren Vätern, die 1944 in der Normandie gelandet waren. Beide suchten, auf ganz unterschiedliche Weise, angesichts des Vietnamkriegs nach Wegen des Friedens.
Im Geschichtsunterricht werden die Fakten der Vergangenheit vermittelt. Im besten Fall werden Zusammenhänge aufgezeigt, die Ursache und Wirkung haben. Erinnerung heißt aber nicht nur, dass man einfach zurückblickt, wie es früher gewesen ist. Erinnerung bedeutet, im Hier und Jetzt zu leben. Sich zu erinnern bedeutet außerdem, sich um die Zukunft zu sorgen. Wir alle wissen, dass Kaiser Nero Rom in Brand gelegt hat. Das war sicher ein furchtbares Ereignis, aber das Wissen davon löst heute kein Trauma mehr aus. Historisches Wissen allein verursacht keine Traumata. Die Erinnerung jedoch schon – sie hat diese Macht. Denn die Erinnerung stellt jeden von uns vor die Frage nach der eigenen Rolle, nach den eigenen Entscheidungen und der eigenen Verantwortung für unsere Zeit. Die Erinnerung ist die Schwester der Verantwortung. Sie ist die Quelle unserer eigenen moralischen Ängste.
Das Gedächtnis ist vielstimmig
Viele dachten, dass ein gemeinsames Gedächtnis geschaffen werden könnte und dass dieses als Brücke der Versöhnung dienen würde. Man hat dabei jedoch unterschätzt, wie vielstimmig das Gedächtnis ist. Es gibt das persönliche, das der Familie, das des Ortes und so weiter. Tatsächlich hat jede Generation ihr eigenes Gedächtnis. Denn jede Generation lebt in einer Welt mit ihren eigenen Herausforderungen, ihren eigenen Problemen, ihren eigenen Bedrohungen. Sie denkt und erinnert sich in ihrer eigenen Begriffswelt. Sie stellt diese Erinnerung den Symbolen ihrer Zeit gegenüber. Und sie hat das Recht dazu, wie ich bereits schrieb: Erinnerung ist kein Leben in der Vergangenheit. Die Erinnerung lebt im Hier und Jetzt.
Die Erinnerung kann zu einer Brücke der Versöhnung mit sich selbst werden. Diese Versöhnung geschieht dann, wenn ich unter dem Einfluss der Erinnerung die Last meiner eigenen Verantwortung auf mich nehme. Aus diesem Grund schweigen Menschen lange Zeit, wenn sie Auschwitz verlassen. Sie versuchen nicht, die Vergangenheit zu finden, sondern mehr oder weniger bewusst sich selbst.
Vielleicht ist dies auch der Grund dafür, dass die Schulen nicht in der Lage sind, das Gedenken im Lehrplan zu unterrichten, und so ist die Shoah nur im Geschichtsunterricht verankert. Dies ist im Übrigen größtenteils auf die Erfahrungen der 1980er Jahre zurückzuführen, als die Leugnung der Shoa sogar an einigen europäischen Universitäten Fuß fasste. Damals bestand der verständliche Wunsch, die Wahrheit darüber so vollständig wie möglich in den Geschichtsunterricht einzubringen, denn schließlich ist die Historiografie die strengste aller Geisteswissenschaften. Entweder es hat etwas stattgefunden oder es hat nicht stattgefunden. Doch zu leugnen, dass der Völkermord stattgefunden hat, ist eigentlich Wahnsinn. Darum ging es damals.
Heute sehen wir deutlich, dass die Behandlung der Shoa im Geschichtsunterricht nicht ausreicht, um junge Menschen beim Nachdenken über ihre eigene Verantwortung zu unterstützen. Ähnlich wie beim heutigen Phänomen des Gedenkens wäre es angebracht, Elemente des Unterrichts über die Shoah und die damit verbundenen fremdenfeindlichen und bewusst entmenschlichenden Bestrebungen in jene Bereiche der Programme einzubauen, in denen sie heute nicht unbedingt vorkommen. Ich denke dabei an alle Aspekte der Sozialwissenschaften und der Anthropologie, der Staatsbürgerkunde und der Politik, an den immer noch so unterentwickelten Unterricht über Massenmedien oder an den fast nicht vorhandenen Unterricht über kritische Ansätze zu politischen Erzählungen. Und natürlich in die Räume des Ethik- und Religionsunterrichts. Denn dies sind die Bereiche, die mehr als Geschichte, Mathematik oder Biologie die Entscheidungen der jungen Menschen von heute und morgen bestimmen.
Daher ist selbst das beste und vollständigste historische Wissen nicht mit dem Gedächtnis gleichzusetzen. Denn das Gedächtnis speist sich aus anderen Quellen als den Lehrplänen der Schulen. Da es lebendig, in seiner Form veränderlich und vielstimmig ist, lässt es sich sowohl im Bildungssystem als auch in der Politik nur sehr schwer steuern. Im Prinzip sollte es sich in einem Abstand zur Politik entwickeln, die als Summe der Auseinandersetzungen der Parteinarrative verstanden werden kann. Diese bestehen von einer Wahl bis zur nächsten und es geht nur vorübergehend darum, Möglichkeiten zu finden, um die eigene Wählerschaft zu vergrößern.
Gedenkstätten stärken das kollektive Erinnern
Die meisten europäischen Gedenkstätten zu Konzentrations- und Vernichtungslagern entstanden ungefähr 20 Jahre nach dem Krieg in den 1960er Jahren. Denn zu dieser Zeit wuchs die nach dem Krieg geborene Generation auf. Die Generation der Eltern war beunruhigt, ob ihre heranwachsenden Kinder noch irgendetwas von der im Krieg erlebten Tragödie der Eltern verstehen würden. Die Eltern wussten oftmals nicht, wie sie die eigenen Kriegserinnerungen auf lebendige Weise weitergeben sollten und befürchteten, dass diese unter ihren Kindern in Vergessenheit geraten würden. Aus dieser Angst heraus entstand eine Reihe von Gedenkstätten, die die Geschichte und das Trauma der Elterngeneration auf phänomenologische, aber anfangs noch nicht narrativ-edukative Weise zeigten. Diese Gedenkstätten gingen zumeist auf die Anstrengungen von Shoah-Überlebenden, lokalen Akteuren und Vereinigungen zurück, erst viel später stießen hierzu auch politische Entscheidungsträger auf kommunaler, regionaler und gesamtstaatlicher Ebene. Mir ist keine einzige Gedenkstätte in Europa bekannt, die auf Initiative eines Bildungsministeriums gegründet wurde. Die meisten Gedenkstätten sind wegen der Ängste der Kriegsgeneration um die Bewahrung der eigenen Erinnerung entstanden.
Die DNA von Gedenkstätten ist öffentlich, aber nicht parteipolitisch. Sie ist staatsbürgerlich, aber nicht an ein bestimmtes Regierungssystem gebunden. Sie ist phänomenologisch, aber unabhängig von ideologischen Narrativen. Daher bieten Gedenkstätten Raum für eine echte Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und stärken die kollektive Erinnerung. Und was am wichtigsten ist: Sie lösen unter den Besuchern eine moralische Reflexion über sich selbst und die die Verantwortung für die eigenen Entscheidungen aus.
Eben diesen Raum sollten Gedenkstätten auch in Zukunft bieten und so sollte die kollektive Erinnerung beschaffen sein. Denn Erinnerung ist nicht eine Frage der Kultur, sondern der Identität.
Schließlich leben wir in einer zunehmend unübersichtlichen Welt. Albträume von bekannten Gesichtern kehren zurück: Antisemitismus und Rassismus sowie fremdenfeindliche Äußerungen und Handlungen, die sich häufig gegen Flüchtlinge richten. Populismus und Demagogie destabilisieren unsere Gesellschaften. Die Entmenschlichung politischer oder ideeller Gegner und die Schaffung von Feindbildern polarisieren die Gesellschaften unserer Länder. Sie machen aus der Demokratie einen Schauplatz des Kampfes. Und all das geschieht in einer Welt, in der der – manchmal sogar auf Staatsebene zu beobachtende – Terrorismus an Brutalität weiter zunimmt. In normativer Hinsicht findet man inzwischen kaum noch gravierende Unterschiede zwischen dem Handeln der Hamas und der Politik Russlands. Entmenschlichung ist kennzeichnend für beide. Dabei sind die Inhalte diverser Memes oder anderer im Internet verbreiteter Parolen vom antisemitischen Hetzblatt Der Stürmer nicht mehr weit entfernt.
Auch aus diesem Grund brauchen die Menschen heute zunehmend sehr starke und absolute Bezugspunkte. Denn sie spüren mehr oder weniger bewusst, dass sie im Meer der relativen und subjektiven Einschätzungen, von denen es im Internet nur so wimmelt, etwas Unumstößliches brauchen. Etwas, dass ihnen dabei hilft, ein festes Normensystem für Bewertungen und eigene Lebensentscheidungen zu bewahren oder sogar wiederherzustellen.
Eben hierzu dient das Gedenken. Und dies ist auch die Aufgabe aller Gedenkstätten, unter denen Auschwitz-Birkenau pars pro toto als Weltsymbol herausragt. Jede Gedenkstätte sollte den Besuchern also die Vergangenheit vor Ort zeigen und ihnen so die Vollziehung der eigenen rites de passage ermöglichen: um das eigene moralische Unbehagen zu spüren und um sie dazu anzuregen, über die eigene Verantwortung – soweit sie dazu imstande sind – nachzudenken.
Dr. Piotr M. A. Cywiński ist Historiker und seit über 18 Jahren Direktor des Staatlichen Museums Auschwitz-Birkenau. Er ist Mitbegründer und Vorsitzender der Stiftung Auschwitz-Birkenau sowie international angesehener Experte auf vielen Feldern der Erinnerungsarbeit sowie Autor zahlreicher Monographien, insbesondere zur Shoah-Thematik.