„Die Haupthelden, die die Entwicklung der positiven Nachkriegsprozesse ermöglichten waren die Völker und nicht nur und nicht vor allem die Vertreter der Regierungen“. Dieser Satz von Michail Gorbatschow, den er am 31. Oktober 2009 in einer erinnerungswürdigen Veranstaltung der Konrad-Adenauer-Stiftung 20 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer im Friedrichstadtpalast in Berlin an der Seite seiner früheren Kollegen George H.W. Bush und Helmut Kohl sagte, ist fraglos zutreffend, aber sie kehrt seine eigene Rolle ein Stück weit unter den Teppich. Mit Michail Gorbatschow ist am 30. August 2022 ein Mann gestorben, der wie kaum eine andere Persönlichkeit in den 1980er Jahren und zu Beginn der 1990er Jahre das Weltgeschehen beeinflusst hat. Dass die Ostdeutschen 1989, auf die Michail Gorbatschow mit seinem Wort der „Haupthelden“ unter anderem angespielt hat, mit großem Mut, ohne Gewalt und mit viel Achtung für die Menschenwürde gegen ein diktatorisches Regime aufgestanden waren und es zum Einsturz brachten, ohne dass dabei nur ein einziger Schuss gefallen ist, das ist eine einzigartige und in der deutschen Geschichte beispiellose Leistung, die durch nichts zu schmälern ist. Und doch hat Michail Gorbatschow nicht erst bei den konkreten Verhandlungen über die deutsche Einheit einen Beitrag zu diesem einzigartigen „Glücksfall für alle Menschen in Deutschland“ (Arnold Vaatz) geleistet, sondern bereits viel früher entscheidende Weichen dafür gestellt, dass der sogenannte „Kalte Krieg“, die unerbittliche Konfrontation von Ost und West, die so lange die Zeitläufte dominiert hat, an ihr Ende gekommen ist.
Nach einer langen Phase, in der die Beziehungen zwischen den Weltmächten, zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und der Sowjetunion, äußerst frostig waren, half er eine neue Episode der Weltpolitik einzuleiten. An kaum einer Stelle wurde seine Reformagenda, sein Ansatz von Perestroika (Umbau) und Glasnost (Offenheit), zu dem er sich auch genötigt sah, weil die Sowjetunion mit ihrer schwerfälligen Planwirtschaft und ihren immensen Rüstungsausgaben gegenüber dem Westen längst den Anschluss verloren hatte und er sich durch diesen Entspannungskurs auch das Freiwerden von finanziellen Mitteln versprach, so sichtbar wie in der Außenpolitik. Dass er in Eduard Schewardnadse an der Stelle des „Mr. Njet“, des unbeweglichen jahrzehntelangen Außenministers Andrei Gromyko, einen pragmatischen und flexiblen Wegbegleiter fand, war ein sichtbares Zeichen für einen epochalen neuen Kurs. Dieser Kurs manifestierte sich nicht nur darin, dass er gemeinsam mit dem US-Präsidenten Ronald Reagan durch die Einigung auf die Vernichtung aller atomarer Mittelstreckenraketen einen beispiellosen Durchbruch in der Abrüstungspolitik erzielte.
Von ebenso großer Bedeutung war seine Entscheidung, die politischen Umwälzungen, die Freiheits- und Demokratiebewegungen in Ostmitteleuropa, nicht zuletzt in Polen und in Ungarn zu dulden. Das hatte Auswirkungen auch auf die Oppositionsbewegung, die sich im Verlaufe des Jahres 1989 immer stärker in der DDR positionierte. Allerspätestens beim Besuch des sowjetischen Staats- und Parteichefs im Oktober 1989 aus Anlass der aus heutiger Perspektive „gespenstischen“ Feierlichkeiten zum 40jährigen Bestehen der DDR wurde klar, dass die unbewegliche Riege um Erich Honecker herum auch das Tauwetter im Osten Deutschlands nicht mehr aufhalten und vor allem nicht auf moralische und schon gar nicht auf militärische Unterstützung aus der Sowjetunion zählen konnte. Neben die „Gorbi, Gorbi“-Rufe am Rande der Feierlichkeiten traten insbesondere bei den Demonstranten in Berlin auch die Aufforderungen auf Gewalt zu verzichten.
Anders als später kolportiert hat Gorbatschow am Rande eines Besuches der Neuen Wache am 6. Oktober in Berlin zwar gegenüber westlichen Medien nicht den prägnanten und legendären Satz „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“ gesagt, sondern die kompliziertere Formulierung gewählt; „Ich glaube, Gefahren lauern nur auf jene, die nicht auf das Leben reagieren“. In seinen Memoiren schreibt er später aber, er habe in einem Vier-Augen-Gespräch mit Erich Honecker klargemacht, dass es ohne Reformen nicht mehr gehe. Wie auch immer der Satz vor der Neuen Wache oder im Gespräch mit Honecker gelautet haben mag, die offensichtliche Distanz des sowjetischen Staatschefs trug zur Legitimitätskrise der SED massiv bei und beschleunigte den Sturz Honeckers.
Schon 1987 hatte der Chefideologe der SED, Kurt Hager, mit offensichtlich bangem Blick auf den Reformkurs in der Sowjetunion in einem Interview mit dem westdeutschen STERN gesagt: „Würden Sie, nebenbei gesagt, wenn Ihr Nachbar seine Wohnung neu tapeziert, sich verpflichtet fühlen, Ihre Wohnung ebenfalls neu zu tapezieren?“ Mit dem Besuch Gorbatschows in der DDR und in ganz Deutschland war offensichtlich geworden, dass die DDR auch in den Augen Moskaus renovierungsbedürftig war. Nur drei Tage nach dem Beginn des Besuches von Gorbatschow erzielte die Oppositionsbewegung in der DDR mit dem Marsch der 70.000 am 9. Oktober, der trotz allen Truppenaufgebotes der NVA am Ende friedlich blieb, den entscheidenden Durchbruch, der zum Fall der Mauer und zum Niedergang des SED-Regimes führte.
Für den Kanzler der deutschen Einheit, für Helmut Kohl wurde die Zusammenarbeit und das Vertrauen, das sich nach anfänglichen Schwierigkeiten nach dem Amtsantritt Gorbatschows dann doch sehr deutlich zwischen den beiden Staatsmännern entwickelt hat, auf dem Weg zur deutschen Wiedervereinigung außerordentlich wichtig. Schon vor dem Fall der Mauer, so schreibt der Osteuropa-Historiker Stefan Creuzberger, hatte Michael Gorbatschow jedenfalls in Kohl einen „westlichen Politiker gewonnen, der kaum mehr Zweifel an der Aufrichtigkeit des Kremlchefs hegte und deshalb auch im eigenen Bündnis für einen weiteren Verständigungskurs warb“. Das zahlte sich schnell aus. Hatte sich Gorbatschow zunächst noch für ein Fortbestehen zweier unabhängiger deutscher Staaten ausgesprochen, dann im Verlauf der Entwicklungen für eine Föderation zweier den bisherigen Militärblöcken angehöriger Staaten, so erteilte er – auch dank klugen vertrauensbildenden Agierens von Helmut Kohl – nach diesem anfänglichen Zögern mit der Unterzeichnung des 2 + 4-Vertrages der deutschen Wiedervereinigung seine Zustimmung. Für seine Politik, die den Ostmitteleuropäischen Staaten und letztlich auch den Deutschen im Osten unseres Landes den Weg in die Freiheit ebnete, erhielt er 1990 den Friedensnobelpreis.
Trotz dieser weltweiten Aufmerksamkeit formierte sich vor allem im sowjetischen Inland, nicht zuletzt auch angesichts der stagnierenden wirtschaftlichen Entwicklung das Bild eines hilflosen und im Land zunehmend isolierten Staatschefs, das in letzter Konsequenz dann im August zunächst zum Putschversuch reformfeindlicher Kräfte und dann zur Machtübernahme von Boris Jelzin und zum Untergang der Sowjetunion führte.
Auch nach seinem erzwungenen Rücktritt im August 1991 und dem Abstieg in die politische Bedeutungslosigkeit in Russland während der Amtszeit von Boris Jelzin als russischer Präsident, blieb Michail Gorbatschow politisch aktiv und hörbar. Bemerkenswert – und in diesem Falle auch wichtig für die internationale Arbeit der Politischen Stiftungen in Deutschland – ist sein Bekenntnis zum Multilateralismus und zur uneingeschränkten internationalen Zusammenarbeit. In seinem Buch „Mein Manifest für die Erde“ warnt er bereits 2003, fünf Jahre vor der weltweiten Finanzkrise nicht nur vor ungebremsten Finanzspekulationen, sondern fordert ein ambitionierteres Vorgehen bei der Entwicklungshilfe, eine Stärkung der Vereinten Nationen, sowie eine bessere Unterstützung und eine Reform der Arbeit des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Welthandelsorganisation (WTO). Bei besagter Veranstaltung der Konrad-Adenauer-Stiftung forderte er 2009 mehr Mut ein, mit Sätzen, die angesichts der gegenwärtigen Situation noch lange nachklingen: Man müsse jetzt weitergehen: „Es eröffnen sich Möglichkeiten, die uns nach Beendigung des „Kalten Krieges“ entstanden sind. Wir können heute sagen: Unsere Erfahrung besteht darin, dass wir alles gemeinsam tun müssen. Wir müssen einander vertrauen, daran glauben, dass niemand Gewalt anwenden wird, dass sich jeder auf die Vernunft und die Besonnenheit stützt.“
Dass er zuletzt als russischer Patriot die Annexion der Krim gerechtfertigt hat und damit auch die russische Politik gegenüber der Ukraine verteidigt hat sowie auch dem Westen eine Mitschuld an der Entwicklung zugewiesen hat, ist zwar eine klare Fehleinschätzung. Die kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich Gorbatschow immer wieder – nicht zuletzt über die von ihm mitfinanzierte regierungskritische Zeitung „Nowaja Gaseta“ – sehr kritisch und sehr deutlich über die autoritären Methoden und die repressive Haltung von Wladimir Putin gegenüber der Opposition und gegenüber den Verteidigern der Bürgerrechte geäußert hat. So forderte er Putin nicht nur bereits 2012 zum Machtverzicht auf, sondern stellte sich auch an die Seite des verfolgten Regimekritikers Alexei Nawalny.
Freilich bleibt auch Gorbatschows Rolle, wie das bei vielen Staatsfrauen und Staatsmännern der Fall ist, bis heute auch in der weltweiten Betrachtung nicht ohne Schatten. Nicht selten wurde ihm zögerliches und lavierendes Handeln vorgeworfen. Bei der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl am 26. April 1986 habe er eben nicht „Glasnost“ praktiziert, sondern die alte Taktik des Verzögerns uns Verschleierns angewandt, mit allen Folgen, die das nicht nur für die Sowjetunion, sondern auch ganz Europa hatte.
Vor allem das Nationalitätenproblem in der Sowjetunion, hatte er vollständig unterschätzt und die damit verbundenen Gefahren erst viel zu spät erkannt. Wie Goethes Zauberlehrling hatte er mit seiner Politik von Perestroika und Glasnost den Unabhängigkeitsbestrebungen in einigen der fünfzehn Sowjetrepubliken vielfach Auftrieb verschafft, den diese mit vollem Recht genutzt haben. Damit hatte er aber auch Geister gerufen, die er nun nicht mehr loswerden konnte. Für die Dynamik die insbesondere der Prozess im Baltikum gewann, fehlte ihm nicht nur jedes Gespür, sondern auch die Fähigkeit, die alten Reaktionsmuster der Sowjetunion und den Aufwind, den die konservativen Kräfte unter die Flügel bekamen, zu verhindern. Der „Blutsonntag“ in Litauen mit seinen 14 Todesopfern ist zum Symbol für dieses Scheitern geworden und ihm insbesondere im Baltikum immer wieder auch ganz persönlich zur Last gelegt worden; eine Verantwortung, die er stets von sich gewiesen hat.
Das alles kann nicht verdrängen, dass Michail Gorbatschow ein Visionär war, der sein Land und die Welt massiv verändert hat und der an die Stelle von Repressionen den Aufbruch in die Freiheit markiert hat. Besonders deutlich hat das der Kulturjournalist Andrei Archangelsk in der NZZ auf den Punkt gebracht. Für ihn habe Gorbatschow „mit seiner Reformpolitik die Menschen von der sowjetischen Propaganda, von der Notwendigkeit der Lüge, vom permanenten Zwang der Heuchelei und der Loyalität befreit.“ Er habe die totalitäre Gesellschaft aufgebrochen, den Menschen ihre Sprache zurückgegeben und die Weichen dazu gestellt, dass die Freiheit nicht mehr nur ein Gut von „zwei Dutzend in Küchen sitzenden Dissidenten“ sei, sondern von Millionen von Menschen. Dafür, dass dieser Satz uneingeschränkt auch auf die Umbruchssituation 1989/1990 in Deutschland anwendbar ist und er damit auch für uns das Tor zur Einheit in Freiheit aufgeschlossen hat, schulden wir Michail Gorbatschow in Deutschland tiefe Dankbarkeit und ein ehrendes Andenken.