Seit jeher erhitzt der Begriff des politischen Extremismus die Gemüter. In der Demokratie- und Diktaturforschung, deren Wurzeln bis in die griechische Antike zurückreichen, werden im Allgemeinen Bestrebungen als extremistisch bezeichnet, die sich gegen die Prinzipien der freiheitlichen Demokratie richten. Doch während die Unterscheidung von Demokratien und Autokratien/Diktaturen weithin anerkannt ist – in der Außenpolitik spielt es gegenwärtig mehr denn je eine herausragende Rolle, wer zur demokratischen Wertegemeinschaft zählt und wer nicht – gilt dies nicht in gleichem Maße für die Feinde innerhalb der Demokratie. Dabei ist die Definition des Extremismusbegriffs weder abstrakt noch theoretisch überfrachtet. Trotz unterschiedlicher Demokratieverständnisse im Detail (Ist eine solche Ordnung lediglich an freien Wahlen festzumachen oder bedarf es eines breiten Kriterienkataloges?), wird man sich auf die Anerkennung folgender vier Eckpfeiler des demokratischen Verfassungsstaates einigen können: 1) Volkssouveränität, 2) Gewaltenteilung, 3) Pluralismus und 4) Grund- bzw. Menschenrechte. Wer sich gegen mindestens eines dieser Prinzipien richtet, hat als extremistisch zu gelten.
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Rechter, linker und religiöser Extremismus
Warum sich trotz der theoretischen Plausibilität in Politik, Sozialwissenschaft und Öffentlichkeit viele mit dem Extremismusbegriff schwertun, hat unterschiedliche Gründe. Wesentlich dürfte sein, dass ein solches Verständnis von der Existenz unterschiedlicher Extremismen ausgeht. Während der Rechtsextremismus die fundamentale Gleichheit aller Menschen in Frage stellt („Ideologie der Ungleichheit“), überhöht der Linksextremismus das Ethos universeller Gleichheit und verneint dadurch Grundrechte wie Eigentum, Besitz und Selbstverwirklichung. Religiöse Fundamentalisten wiederum lehnen die Demokratie mit Verweis auf ein höherstehendes göttliches Ordnungsprinzip ab und trachten nach einem Gottesstaat auf der Grundlage klerikaler Gesetze. Was alle Extremismen eint, ist die Inakzeptanz unterschiedlicher Interessen und Meinungen in einem Gemeinwesen. Sie sind antipluralistisch. Ihrer Auffassung nach gibt es nur einen geeinten „wahren“ Volkswillen, woraus das Privileg abgeleitet wird, die eigenen Gesellschaftsvorstellungen um jeden Preis durchzusetzen. Wer anderer Auffassung ist, wird des Verrates bezichtigt und als Volks-, Klassen- oder Gottesfeind diffamiert. Die Ablehnung von Pluralismus läuft letztlich auf eine autoritäre Ordnung hinaus, denn nur in einer solchen lassen sich anderslautende Auffassungen weitgehend eliminieren.
Ein Teil der Kritik am Extremismuskonzept macht sich folglich an der vermeintlichen Gleichsetzung rechter, linker und religiöser Extremismen fest. Vor allem der Vergleich von Rechts- und Linksextremismus wird mit dem Hinweis verworfen, nur die rechte Spielart sei per se antidemokratisch, während es sich bei dem linken Streben nach allumfassender Gleichheit zwar um ein radikales, aber im Kern grunddemokratisches Anliegen in der Tradition der französischen Revolution handeln würde. Wie deren Umsetzung angesichts von linksextremen Slogans wie „Weg mit dem Scheißsystem“ und ohne die Einschränkung des gesellschaftlichen Pluralismus funktionieren soll, bleibt freilich ungeklärt. Auch der damit einhergehende Vorwurf, die angeblich unzulässige Gleichsetzung verharmlose den Rechtsextremismus und dramatisiere den Linksextremismus, kann nicht nachvollzogen werden. Das Extremismus-Konzept misst ja gerade nicht mit zweierlei Maß, sondern analysiert antidemokratische Kräfte nach einheitlichen Kriterien, z. B. anhand der Ideologien, der Aktionsformen, des Organisationsgrads oder des Gewaltverständnisses. Gemeinsamkeiten und Unterschiede liegen auf der Hand – ein derart vergleichendes Vorgehen beabsichtigt das Gegenteil von Gleichsetzungen.
Ein Kampfbegriff zur Abwehr missliebiger Auffassungen?
Ein zweiter zentraler Kritikpunkt resultiert aus der wortwörtlichen Verwendung des Extremismus-Begriffs, wonach der Wortstamm aus dem Lateinischen übersetzt „das Äußere“ bezeichnet. Die „Mitte“ gelte demnach als demokratisch, die „Ränder“ als extremistisch. Somit verunglimpfe der Terminus Extremismus jene politischen Positionen, die nicht der gesellschaftlichen Mitte bzw. den Vorstellungen des Staates entsprächen – er sei ein Kampfbegriff zur Abwehr von kritischen Auffassungen, so der Vorwurf. Tatsächlich geht es beim Extremismus-Ansatz nicht um „Ränder“ und „Mitte“, sondern um das Verhältnis zum demokratischen Verfassungsstaat, also um die Frage, ob dessen Werte und Institutionen akzeptiert und respektiert oder abgelehnt werden. Denn wer die Demokratie und ihre Defizite berechtigterweise kritisiert, ist deswegen noch lange kein Extremist, im Gegenteil: Wer Missstände aufzeigt und (demokratische) Alternativen formuliert, trägt maßgeblich dazu bei, manche Fehlentwicklungen aufzuhalten. Jedoch dort, wo die demokratischen Grundprinzipien in Frage gestellt werden, endet legitime Kritik und beginnt die fundamentale Ablehnung der gesellschaftspolitischen Spielregeln. Was allerdings zutrifft: Der Begriff des Extremismus findet in der politischen Auseinandersetzung vielmals als Todschlagargument gegenüber missliebigen Positionen Verwendung – und das aus ganz unterschiedlichen Richtungen. So werden beispielsweise Zuwanderungskritik, Corona-Demonstrationen und Klimaproteste mitunter pauschal als extremistisch etikettiert, um nur die drei wesentlichen gesellschaftlichen Kontroversen der vergangenen Jahre zu nennen. In der Praxis sieht es jedoch komplizierter aus.
Denn die theoretische klare Einteilung in Demokratie und Extremismus hat eine wesentliche Schwachstelle: Sie stellt eine Dichotomie, ein Gegensatzpaar, ein Entweder-oder, dar. Doch in der Realität haben wir es vielfach mit Bestrebungen zu tun, die sich eben nicht einwandfrei dem demokratischen oder extremistischen Spektrum zuordnen lassen. Sie befinden sich quasi in einer Art Grauzone „zwischen“ Demokratie und Extremismus. Das gilt für Parteien (AfD), wie für Protestbewegungen („Querdenker“, „Letzte Generation“), ebenso wie für intellektuelle Zirkel („Neue Rechte und Linke“). Warum ist dies so? Erstens hat es mit dem Bedeutungsverlust der Großideologien des 20. Jahrhunderts zu tun. Selbst innerhalb der extremistischen Milieus orientieren sich heute nur noch wenige an den Vorbildern von Nationalsozialismus/Faschismus und Kommunismus – zu schmerzvoll waren die Verheerungen der Unterdrückungsapparate und zu wenig Attraktivität geht von den Weltanschauungen vor dem Hintergrund der unerfüllt gebliebenen Utopien von einem goldenen Zeitalter aus. Von den „klassischen“ Ideologien inspirierte Parteien wie die NPD (neuerdings „Die Heimat“) oder die Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands (MLPD), sind seit Jahren weitgehend bedeutungslos. Damit einhergeht zweitens, dass viele extremistische Kräfte heute kaum noch streng hierarchische Kaderorganisationen sind, die es in der NS- und SED-Diktatur brauchte, um mit Propaganda und Agitation die „wahre Lehre“ zu verbreiten und die Bevölkerung dauerhaft zu mobilisieren. Gegenwärtig handelt es sich zumeist um heterogene Zusammenschlüsse, die sich gleichermaßen aus extremistischen und demokratischen Milieus zusammensetzen, die „Hard- und Softliner“ in ihren Reihen versammeln. Solche Sammelbecken sind meist alles andere als konfliktfrei. Vielmehr wird intensiv um die programmatische Ausrichtung (immanente oder fundamentale Kritik am System), das Handlungsspektrum (legal oder illegal) und nicht zuletzt um den Umgang mit Extremisten in den eigenen Reihen (Einbinden oder Ausschließen) gerungen. Drittens verschleiern Extremisten nicht selten ihre wahren Absichten. Sie tun dies einerseits, um staatlichen Repressionen zu entgehen, andererseits um nicht mit zu viel Radikalität bestimmte Anhängerschaften über das eigene extremistische Milieu hinaus zu verprellen.
Ziele und Instrumente politischen Handelns
Die Frage nach der Legalität oder Illegalität des politischen Handelns hilft als Richtschnur zur Unterscheidung demokratischer und extremistischer Phänomene nur bedingt weiter. Natürlich gibt es eine große Schnittmenge – wer politisch motivierte Straftaten begeht, richtet sich damit in den meisten Fällen auch gegen demokratische Prinzipien und Institutionen, sei es gegen bestimmte Grundrechte wie Besitz, Meinungs- und Versammlungsfreiheit, sei es gegen Repräsentanten wie Politiker, Journalisten und Polizei.
Doch die Ablehnung der Demokratie setzt nicht zwingend strafbare oder gar gewalttätige Mittel voraus. Die Feinde der Freiheit können auch auf legalem Weg an die Macht gelangen und die Demokratie von innen heraus beseitigen, wie das Ende der Weimarer Republik gezeigt hat. Umgekehrt läuft nicht jede politisch motivierte Straftat auf die Abschaffung der Demokratie hinaus. Gegner der Corona-Maßnahmen oder Klimaaktivisten mögen sich radikaler, teilweise strafbewehrter Mittel bedienen, ohne dass deswegen die Grundsätze des demokratischen Verfassungsstaates in Frage gestellt werden. Der Extremismus stellt folglich ein Ziel dar – die Demokratie abzuschaffen. Straf- und Gewalttaten sind dagegen ein Instrument politischen Handelns. Deckungsgleich sind die beiden Dimensionen nicht. Darum führen auch staatsanwaltliche Ermittlungen als „kriminelle Vereinigung“ wie gegen Mitglieder der „Letzten Generation“ was den Extremismus angeht in die Irre. Kriminelle Gruppierungen wie Clans oder Angehörige der Organisierten Kriminalität begehen vielfältige und schwere Straftaten, richten sich dabei allerdings nicht gegen die demokratische Grundordnung – im Gegenteil: Unter den Bedingungen der liberalen Demokratie ist für sie illegales Handeln mitunter einfacher als in einem autoritären Überwachungsstaat.
Infragestellung des staatlichen Gewaltmonopols
Wie lassen sich nun abschließend gegenwärtige Erscheinungen des politischen Protests als demokratisch oder extremistisch klassifizieren? Zwei Bewegungen, um deren Einordnung und entsprechend um deren Behandlung öffentlich kontrovers gerungen wird, seien herausgegriffen, noch dazu, da sich beide klassischen Links-Rechts-Kategorien entziehen: „Querdenker“ und „Letzte Generation“. Trotz aller Unterschiede ihrer Ziele, der sozialen Milieus ihrer Anhänger und der Formen des Protests, gibt es eine Reihe von Parallelen: Was in beiden Fällen gegen die pauschale Einstufung als extremistisch spricht, ist die Heterogenität innerhalb der Bewegungen. Das Gros der jeweiligen Anhänger richtet sich nicht gegen die Demokratie, sondern gegen aus deren Sicht schwerwiegende Verfehlungen des politischen Systems – die Einschränkung von Grundrechten hier, die Zerstörung des Weltklimas da. Was für den Extremismus spricht: Innerhalb beider Bewegungen fehlt zur „Rettung“ von Staat und (Welt-)Gesellschaft eine klare Distanzierung von den offenen Feinden der Demokratie. Bei allem Verständnis für die Covid-Maßnahmengegner angesichts der vielfältigen wirtschaftlichen und sozialen Notlagen während der Krise – sie rechtfertigen nicht den Schulterschluss mit Rechtsextremisten und Reichsbürgern, ebenso nicht die Diffamierung der demokratischen Ordnung als Corona-Diktatur. Und auch das hehre Anliegen des Klimaschutzes bedarf der Anerkennung demokratischer Prinzipien und Verfahrensregeln.
Klimaaktivisten müssen sich jedoch den Vorwurf gefallen lassen, nicht ausreichend auf Abstand zu (links-)extremistischen Kräften in ihren Reihen zu gehen. Diese instrumentalisieren den Klimaprotest für ihre fundamentale Systemkritik – die freiheitliche Lebens- und markwirtschaftliche Produktionsweise werden als Ursachen des Klimawandels ausgemacht, weshalb nur ein grundlegender Systemwechsel die Katastrophe verhindern könne. Was beide Bewegungen in diesem Sinne eint: Sie wähnen sich in einer Art Notstandssituation, angesichts deren Ausmaßes der Zweck die Mittel heilige. Mit diesem moralischen Überlegenheitsgefühl ausgestattet sind „Querdenker“ wie „Letzte Generation“ nicht willens oder nicht in der Lage, den Pluralismus, die Verschiedenheit der gesellschaftlichen Interessen als Kernmerkmal der Demokratie, anzuerkennen. Dabei ist es offensichtlich: Nicht alle Bürger befürworteten während der Corona-Krise die Aufgabe staatlicher Schutzmaßnahmen – im Gegenteil: Vielen gingen die Vorkehrungen nicht weit genug. Und auch Umwelt-Aktivisten fehlt vielmals die Einsicht anzuerkennen, dass für große Teile der Bevölkerung die Klima-Rettung eben nicht prioritär ist – sei es aus materiellen Ängsten, sei es aus fehlender Überzeugung. Unabhängig von den Positionen im Einzelnen – sie rechtfertigen nicht, als eine Art Notwehrhandlung das Gewaltmonopol des Staates in Frage zu stellen.
Anerkennung unterschiedlicher Interessen als Kernmerkmal demokratischer Auffassungen
Wie sich gezeigt hat, fällt die Klassifikation als demokratisch oder extremistisch im Zweifelsfall nicht leicht. Neben den politischen Absichten spielen organisatorische Aspekte eine Rolle – ist der Extremismus eine akzeptierte Mehrheits- oder isolierte Minderheitenposition? Auch die Frage nach der Strategie, also danach, wie mit Extremisten in den eigenen Reihen umgegangen wird, ist in diesem Zusammenhang von Bedeutung. Doch sollte die objektive und valide Analyse solcher diffusen Phänomene nicht intensiviert werden, anstatt wegen der Abgrenzungsprobleme davon Abstand zu nehmen? Zumal: Die Frage, ob bestimmte Akteure und deren Ansichten vereinbar mit den Prinzipien der freiheitlichen Demokratie sind, ist kein akademisches Nischenthema. Vielmehr geht es um die Kernfrage des demokratischen Selbstverständnisses einer Gesellschaft – handelt es sich um eine möglicherweise unbequeme, aber von der Verfassungsordnung gedeckte Weltsicht, hat diese einen legitimen Platz innerhalb des Meinungsspektrums. Stellt eine Auffassung dagegen die zentralen Merkmale des demokratischen Verfassungsstaates in Frage, gilt es, sich entschieden davon abzugrenzen bzw. dagegen Stellung zu beziehen. Das verlangt aber auch, den Terminus Extremismus nicht als Kampfbegriff zu zweckentfremden, um missliebige, aber sich innerhalb des Verfassungsrahmens bewegende politische Vorstellungen zu diskreditieren. In der Praxis geschieht dies leider viel zu häufig. Doch auch ein solcher Missbrauch kann nicht dazu führen, die Deutungshoheit über das Phänomen „Extremismus“ aufzugeben. Es gehört zum Wesen normativer politischer Begriffe wie „Demokratie“, „Freiheit“ und „Frieden“, dass diese auch von Extremisten und Autokraten vereinnahmt, umgedeutet oder ins Gegenteil verkehrt werden. Auf solche Schlüsselvokabeln deswegen zu verzichten, wäre der Offenbarungseid einer offenen Debattenkultur, deren Förderung sich nicht zuletzt die politische Bildung als Demokratiebildung verschrieben hat.
Prof. Dr. Tom Thieme ist Professor für Gesellschaftspolitische Bildung an der Hochschule der Sächsischen Polizei in Rothenburg/Oberlausitz.
- Buchtipp: Gereon Flümann (Hrsg.): Umkämpfte Begriffe. Deutungen zwischen Demokratie und Extremismus, Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Band 10024. Bonn 2017.