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Essay

Völkische Weltanschauung

von Prof. Dr. Uwe Puschner

Eine Wegbereiterin des Totalitarismus

Völkisches Denken und humanistische Überzeugungen sind unvereinbar. Der völkische Nationalismus, der sich in den letzten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts herauszubilden begann und seit Beginn des Ersten Weltkriegs ein enormes Aggressionspotential entwickelte, bereitete den Boden für den Aufstieg des Nationalsozialismus und den Massenmord an den europäischen Juden. Antisemitismus und Rassismus stehen im Zentrum der völkischen Weltanschauung und prägen das Gedankengut völkischer Gruppierungen bis in die Gegenwart.

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Mit der Formierung des Rechtspopulismus und der Etablierung von dessen parlamentarischen Arm im zurückliegenden Jahrzehnt, ist das ideologisch kontaminierte Adjektiv „völkisch“ in die Öffentlichkeit zurückgekehrt. Zu Recht wird der Rechtspopulismus in Teilen als „völkisch“ etikettiert. Zuvor wurde „völkisch“ weitgehend nur in Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus verwendet. Diese Zuschreibung reicht in die 1920er Jahre zurück und verfestigte sich seit 1933, als ‚völkisch‘ zum „meistgebrauchte[n] Begriff zur Bezeichnung der nationalsozialistischen Weltanschauung“ wurde (Martin Broszat). Diese Perspektivierung blendet jedoch zum einen aus, dass ‚völkisch’ bereits in der Weimarer Republik zum „programmatische[n] Schlagwort zahlloser politischer Kräfte, kulturkritischer Theorien und literarischer Richtungen“ (Martin Broszat) geworden war und Hitler deswegen den Begriff „infolge seiner begrifflichen Unbegrenztheit“ – wiewohl erfolglos – ablehnte. Hitler warnte in Mein Kampf zugleich vor den „deutschvölkischen Wanderscholaren“, die in ihrer „vierzigjährige[n] Tätigkeit“ lediglich den „Wahrheitsbeweis für die eigene Unfähigkeit“ erbracht hätten. In einem anschließenden Kapitel proklamierte er gleichwohl: „So sehr die Grundgedanken der nationalsozialistischen Bewegung völkische sind, so sehr sind zugleich die völkischen Gedanken nationalsozialistisch“. Damit wird deutlich, dass der Nationalsozialismus in einer über den Ersten Weltkrieg in das ausgehende 19. Jahrhundert zurückreichenden ideologischen Tradition steht.

 

Krisenhafte Fin-de-Siècle-Stimmung

Die Karriere des Weltanschauungsadjektivs ‚völkisch‘ begann in der alldeutschen Bewegung der Habsburgermonarchie in den 1880er Jahren. Die Anfänge sind eng mit dem Darmstädter Hochschullehrer Hermann von Pfister-Schwaighusen verbunden, einem nationalistischen Agitator, dilettierenden Etymologen und Kämpfer gegen Fremdwörter, die die deutsche Kultur und deutsche Eigenart angeblich gefährdeten. Ihm wird der Vorschlag zugeschrieben, das lateinische ‚national‘ durch ‚völkisch‘ zu ersetzen, um in der Folge umtriebig dazu beizutragen, das Adjektiv im alldeutschen, insbesondere burschenschaftlichen Milieu Böhmens und Österreichs als Signalwort einer rechtsradikalen Gesinnung zu popularisieren. Im Folgejahrzehnt wurde der Kampfbegriff im Verbund mit ihm zwischenzeitlich eingeschriebenen ideologischen Versatzstücken in das Deutsche Reich importiert, wo er sich binnen weniger Jahre als Selbstbezeichnung einer radikalnationalistischen Bewegung und Weltanschauung etablierte.

Die Entstehung und Formierung der völkischen Bewegung im Übergang zum 20. Jahrhundert ging einher mit der Dynamisierung des Nationalismus, der in ihm fortan verankerten imperialen Agenda, gepaart mit der von Selbstbewusstsein strotzenden Überzeugung eigener Überlegenheit oder gar – (säkular)religiös begründeten – Auserwähltheit und dem daraus resultierenden Konkurrieren der Großmächte und Nationalstaaten. Sie waren zugleich Folgen der fundamentalen wirtschaftlichen, sozialen, gesellschaftlichen und nicht zuletzt auch mentalen Umbrüche im Ausgang des 19. Jahrhunderts, als sich das Deutsche Reich zu einer führenden Industrienation entwickelte. Viele Zeitgenossen, vor allem des Bürgertums, erlebten diesen Transformationsprozess als eine krisenhafte Zeit multipler individueller wie kollektiver Bedrohungen. Sie äußerten sich in der namentlich im gehobenen Bürgertum und vor allem unter Männern epidemisch grassierenden Neurasthenie ebenso wie in der Verunsicherung signalisierenden Fin-de-Siècle-Stimmung, zumal im Aufleben von Irrationalismus, in Verschwörungserzählungen, in der Artikulation von existentiellen Ängsten und in pessimistischen Zukunftsprognosen. Völkische „Gefühlsingenieure“ (Ute Frevert) befeuerten dieses Unbehagen mit in düsteren Szenarien ausgemalten Nieder- bis hin zu Untergangsprophezeiungen. Sie boten zugleich gleichermaßen verfangende fragwürdige Lösungen an, wie vermeintliche Bedrohungen und existentielle Gefahren vom Einzelnen sowie von Volk und Reich abgewendet und das verheißene völkische Elysium geschaffen werden könnten.

 

Diffuse Verschmelzung ideologischer Inhalte

Die völkische Bewegung war eine männlich dominierte Sammelbewegung. In ihr fanden sich Vertreter unterschiedlicher, hinsichtlich ihrer Anliegen divergierender zeitgenössischer Bewegungen. Dies verweist auf unterschiedliche sowohl institutionelle als auch ideelle und ideologische Einflüsse auf völkische Bewegung und Weltanschauung. Neben dem organisierten Antisemitismus und der alldeutschen Bewegung des Deutschen Reichs und insbesondere der Habsburgermonarchie erfuhr die völkische Bewegung in ihrer Formierungs- und Aufbauphase vor dem Ersten Weltkrieg maßgebliche Impulse vor allem von der nationalen Sprach- sowie Kulturbewegung, ferner von den verschiedenen Ausformungen der Lebensreform- bzw. der allgemeinen Reformbewegung, des Weiteren von der Eugenik und ihrer deutschen Ausprägung, der Rassenhygiene, deren Annahmen und Forderungen mit ihrem Institutionalisierungsprozess seit Beginn des 20. Jahrhunderts in Verbindung mit dem populären Sozialdarwinismus gesellschaftlich einflussreich wurden. Daraus resultierten verschiedene, bisweilen konkurrierende – in ihrem jeweiligen Schwerpunkt antisemitisch, kulturell, lebensreformerisch, rassenanthropologisch und -hygienisch, (deutschchristlich oder neopagan) religiös, esoterisch (insbesondere ariosophisch) ausgerichtete – völkische Teilbewegungen.

Die Fragmentierung und die lose Struktur der völkischen Bewegung hatten nachhaltige Auswirkungen auf die Weltanschauung: Es gelang Zeit ihres Bestehens bis zur Auflösung der meisten Organisationen und Institutionen im Zuge der nationalsozialistischen Machtkonsolidierung nicht, in der Bewegung zu einem weltanschaulichen Konsens zu gelangen, geschweige denn ein gemeinsames Weltanschauungsmanifest zu formulieren.

Völkische Weltanschauungsproduzenten beklagten dieses Unvermögen wiederholt, ebenso die divergenten Ansichten über die konstitutiven bzw. peripheren Elemente völkischer Gesinnung. Kaum anders ging es aufmerksamen Zeitgenossen. Sie vermochten nur ansatzweise die ideologischen Horizonte im Wirrwarr des schier unerschöpflichen Weltanschauungsangebots auszuleuchten, wie nicht zuletzt englische und französische Übersetzungen mit „racial“ bzw. „raciste“ belegen, die gleichwohl den Gesinnungskern erfassten. Vor diesem Hintergrund thematisierte die französische Historikerin Hélène Miard-Delacroix unlängst die longue durée der definitorischen Misere dieses Weltanschauungsadjektivs aus dem dictionnaire des intraduisibles, indem sie vom „dubiose[n] ‚völkisch‘“sprach. Diese Feststellung findet aktuell in den Medien und im gesellschaftspolitischen Diskurs Bestätigung, wo das Adjektiv im Wesentlichen unreflektiert und augenscheinlich selbsterklärend verwendet wird. Trotz dieser begrifflichen Unschärfe können jedoch signifikante Merkmale der synkretistischen, aus dem Ideenfundus der Epoche opulent schöpfenden und konsequent dualistisch angelegten Weltanschauung identifiziert werden.

 

„Rasse“ als ideologischer Kitt

Ihr ist mit dem Antihumanismus „ein System von Argumenten“ eingeschrieben, das „den Wert der Humanisierung im Prozess der Zivilisation bestreitet und bekämpft. Es betont die wesentliche, unüberwindliche Ungleichheit der Menschen, bestimmt Untermenschen, Unmenschen (oft im Vergleich mit unedlen Tieren: Ratten, Ungeziefer, Gewürm), spricht ihnen die Würde und Menschenrechte ab, legitimiert Gewalt und Herrschaft der ‚vornehmen Rasse‘, der Arier“ (Hubert Cancik). Dieser Antihumanismus, in dem die fundamentale Ablehnung des aufklärerisch-liberalen Wertekanons ebenso wie dessen fanatische Bekämpfung zum Ausdruck kommt, erfährt seine spezifische Ausprägung infolge des völkischen Rassenparadigmas, dem Fundament der Weltanschauung.

Der „Rassegedanke“ bildet, wie es ein zeitgenössischer Experte des völkischen Phänomens pointiert formulierte, zum einen den „Kitt, der alle V[ölkischen] zusammen hält“, zum anderen ist „[i]n der v[ölkischen] Literatur […] das Wort ‚Rasse‘ der Schlüssel für alles“ (Oskar Stillich). Das völkische Rassekonzept oszilliert „zwischen biologistischen und spiritualistischen Auffassungen“ (Stefan Breuer). Es integriert zudem im Zuge der irrationalen völkischen Disposition esoterische Elemente, etwa die auf die Mnemelehre von der „Existenz erblich gewordener kollektiver Erinnerung“ (Ingo Wiwjorra) zurückgehende sogenannte Erberinnerung, d.h. dem Erspüren, Dekodieren und Wiederbeleben von vermeintlich verlorengegangenem, im rassischen Unterbewusstsein, in der Rassenseele, schlummernden und in Mythen, Sagen, Märchen, in der Muttersprache, in Brauchtum oder materieller Kunst verschlüsselt überlieferten Wissen aus arischen Ur- bzw. zumindest vorchristlichen Zeiten.

Mit dem – dominant biologistischen – Rassendogma vermeinten die völkischen Weltanschauungsarchitekten, die Welt und die Menschheitsgeschichte ebenso wie die diagnostizierten Verwerfungen in der Gegenwart erklären und die Zukunft gestalten zu können. Alle Ideologeme der Weltanschauung unterliegen dem Rassendogma. Das Blut- und Boden-Ideologem behauptet die Verbindung von Rasse und Raum und eine bodenspezifische körperliche, geistige, seelische und mentale Prägung von Rasseindividuum und -kollektiv. Das nationale Denkfiguren des 19. Jahrhunderts fortschreibende Germanenideologem, das eine vorgeblich historisch-anthropologische und insbesondere biologische Abstammungsgemeinschaft zwischen (Indo-)Germanen und Deutschen postuliert, begründet das völkische Superioritäts- und Prädestinationsparadigma. Damit werden wiederum imperiale Herrschaftsansprüche wie auch die Eroberung neuen Lebensraums (insbesondere in Osteuropa) legitimiert. Rasse, Raum, Abstammung, untermauert von sozialdarwinistischen und rassenhygienischen Paradigmen, waren Richtschnur einerseits für das Inklusionsdenken und, dem dualistischen Denkstil folgend, zugleich für die vehementen Exklusionsforderungen, vor allem gegenüber Juden wie auch slawischen Bevölkerungsgruppen, insbesondere im Deutschen Reich ansässige Polen. Sie gaben im völkischen Denkkosmos andererseits die Strukturen, Normen und Werte für Staat, Gesellschaft, virile Geschlechterhierarchie und misogyne Geschlechterordnung, Wirtschaft, Recht, Erziehung, Kultur etc. bis hin zum rassenhygienisch genormten Kollektiv- bzw. Individualkörper („Neuer Mensch“) und zur Religion vor. Die Vorstellungen von der sogenannten arteigenen, d.h. in der Rasse angelegten Religion reichen vom ‚arisierten‘, von seinen jüdischen und paulinischen Grundlagen gelösten, folglich entchristlichten sogenannten Deutschchristentum bis hin zu Bestrebungen einer deutsch- oder germanengläubigen Minderheit, die vorchristlichen, ‚germanischen‘ Glaubensvorstellungen zu revitalisieren. Auf diesen Grundlagen imaginierten die völkischen Ideologen die Errichtung einer antiegalitären, (berufs-)ständisch organisierten, agrarisch geprägten Gesellschaft in Gestalt einer rassisch homogenen Volksgemeinschaft in einem das deutschsprachige Mitteleuropa umfassenden Reich mit einer von einem Neuen (Rasse-)Adel ebenso unterstützten wie kontrollierten, nicht zwingend monarchischen Spitze. Sie strebten darüber hinaus einen pangermanischen Staatenbund an, in dem neben den deutschsprachigen Regionen der Habsburgermonarchie und dem Deutschen Reich Luxemburg, der flämische Teil Belgiens, die Niederlande und die skandinavischen Länder zusammengeschlossen sein sollten, mitunter auch England.

Feindbilder

Dem dualistischen völkischen Denkstil folgend ist die Weltanschauung von Ressentiments, Feinbildern und Bedrohungen durchdrungen. Sie kommen in apokalyptischen Sprachbildern (etwa dem von der „Deutschendämmerung“) wie in einer denunziatorischen, aggressiven und antihumanen Hasssprache (gegen Angehörige anderer „Rassen“, gegen ideologische und politische Gegner, Andersdenkende, Anderslebende etc.) zum Ausdruck und sie sind nicht zuletzt verbunden mit Attacken gegen die bereits vor dem Ersten Weltkrieg wörtlich als „Lügenpresse“ diffamierten insbesondere liberalen und sozialistischen Printmedien. In Demokratie, Parlamentarismus, Liberalismus, Individualismus, Intellektualismus, Kapitalismus, Materialismus, Sozialismus, Kommunismus, Pazifismus, Kosmopolitismus etc., grundsätzlich in allem Internationalen (von der Katholischen Kirche und Freimaurerei über die Frauenbewegung bis zum Völkerbund) sahen die völkischen „Polarisierungsunternehmer“ (Steffen Mau) die Zeichen für gefährliche, in Bedrohungs- bis hin zu Untergangsszenarien grell ausgemalte Fehlentwicklungen der Gegenwart. Dafür wurden vornehmlich andere, in der völkischen Rassenhierarchie niedriger stehende und deswegen umso gefährlichere vermeintliche Rassen sowie auch von den völkischen Normen abweichende Deutsche als Urheber ausgemacht, von 1918 an nicht zuletzt für die Kriegsniederlage und deren Folgen. Im Zentrum von völkischer Agitation und Rhetorik standen die als Gegenrasse dämonisierten Juden.

 

Völkischer Antisemitismus

Antisemitismus ist ein Schlüsselideologem der völkischen Weltanschauung. Er ist zugleich das integrative Element in der völkischen Bewegung. Das Bekenntnis zum Antisemitismus war obligat, in einer Reihe von Organisationen etwa in Gestalt einer ehrenwörtlichen, zum Teil eidesstattlichen Erklärung „arischer Abstammung“ oder sogar eines formellen genealogischen „Ariernachweises“. Einen prominenten Platz hatte der Antisemitismus sowohl in der massenhaft publizierten völkischen Weltanschauungsliteratur als auch in den Programmen der meisten völkischen Organisationen inne, die – und in der Regel in Verbindung mit anderen Feindgruppen (prominent Liberale, Sozialisten, Vertreter der Finanzwirtschaft, Slawen) – „die“ Juden zum Hauptfeind und deren Bekämpfung zur Hauptaufgabe erklärten. Wenn Begriffe wie „Judentum“, „Hebräertum“, „Semitentum“ etc. verwandt wurden, ging es nicht nur um die einzelne jüdische Person oder das jüdische Kollektiv, sondern zugleich und vor allem um alle jene Kräfte und Symptome, die in der völkischen Überzeugung für die jüdische Emanzipation und generell für die Entwicklungen in die und in der verteufelten Moderne verantwortlich gemacht wurden. Dem völkischen Antisemitismus ist insofern eine fundamentale Zeit-, Gesellschafts- und Kulturkritik eingeschrieben, aus der heraus – gleich einer Negativfolie – die zukunftsorientierten Menschen-, Gesellschafts- und Staatsentwürfe bis hin zu den europäischen und globalen Ordnungskonzepten formuliert wurden.

Die Dominanz des Antisemitismus wie des anhängerstarken antisemitischen Flügels in der Gesamtbewegung und dessen von Beginn der Weimarer Epoche an nochmals forcierte Agitation dokumentiert die zeitgenössische Wahrnehmung, in der ‚völkisch‘ und ‚antisemitisch‘ zwei Seiten derselben Medaille sind. Das (nicht nur) antisemitische Aggressionspotential in der Bewegung nahm mit dem und infolge des Ersten Weltkriegs deutlich zu, wie die Morde an Politikern – Gustav Landauer, Kurt Eisner, Matthias Erzberger und Walther Rathenau – des als „Judenrepublik“ diffamierten demokratischen Deutschen Reichs dokumentieren. Verschwörungserzählungen auf der Grundlage der seit Beginn des 20. Jahrhunderts in Europa kursierenden sogenannten Protokolle der Weisen von Zion eskalierten fortan die völkische Paranoia einer existentiellen jüdischen Gefahr. Der Diskriminierungskatalog ging nun deutlich über die seit den 1880er Jahren in den Programmen des organisierten Antisemitismus formulierten Forderungen hinaus, die rechtliche Gleichstellung der jüdischen Deutschen rückgängig zu machen und sie unter Fremdenrecht zu stellen. Das anfangs begrüßte zionistische Ziel einer jüdischen Staatlichkeit zur, wie es im antisemitischen und völkischen Jargon hieß, „Lösung der Judenfrage“ stieß nun ebenso und mit der antisemitischen Begründung auf vehemente Ablehnung, es entstünde auf diesem Weg ein Machtzentrum zur Verwirklichung der – in den antisemitischen Verschwörungsprotokollen ausgeschriebenen – jüdischen Weltherrschaft. Der bis in die Gegenwart fortlebende völkische Antizionismus entstand bereits Jahrzehnte vor der Gründung Israels.

Eine „Deutsche Judenordnung“, die der ersten, unter dem Titel Die Geheimnisse der Weisen von Zion (Berlin-Charlottenburg, 1. Aufl. 1919) erschienenen deutschen Ausgabe der Protokolle angefügt ist, die auch die Einreise ausländischer Juden verbietet und Juden ohne deutsche Staatsangehörigkeit binnen Monatsfrist zum Verlassen des Deutschen Reiches unter Konfiszierung ihres Vermögens verpflichtet, formulierte die völkischen Vorstellungen der gegen jüdische Deutsche zu ergreifenden Maßnahmen. Die 65 Paragraphen lesen sich wie eine Blaupause der nationalsozialistischen Entrechtungspolitik vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs: mit dem Entzug des aktiven und passiven Wahlrechts, mit Eheschließungs- und umfangreichen Berufsverboten, mit dem Ausschluss von öffentlichen und staatlichen Ämtern, von Schulen und Universitäten wie auch von Freibädern, mit dem Verbot von Grundbesitz, mit der Kennzeichnungspflicht von Geschäften mit dem Davidstern, mit dem Verbot des Jiddischen und Hebräischen auch in der Synagoge, mit der Auflösung sämtlicher jüdischer Organisationen sowie harter Geld- und Freiheitsstrafen bis hin zur Ausweisung bei Verstößen gegen diese und weitere Verbote.

Im Gegensatz zu dem Radikalantisemiten Eugen Dühring und der antisemitischen Deutschsozialen Reformpartei, die um 1900 unzweideutig von „Vernichtung des Judenvolkes“ sprachen, gingen die meinungsführenden Ideologen in ihren Äußerungen auch nach dem Ersten Weltkrieg zwar nicht über die Forderungen nach Entrechtung, Segregation und Ausweisung – vornehmlich der infolge von Pogromen aus Osteuropa zugewanderten Jüdinnen und Juden – hinaus. Sie begründeten mit dem „völkischen Antisemitismus“ jedoch, wie der Philosoph Julius Goldstein 1928 klarsichtig analysierte, „eine eigene Ideologie […], die den Ausschluss der Juden aus der deutschen Volksgemeinschaft begründen soll“, und sie lieferten mit ihrer inhumanen Rhetorik „die immateriellen Waffen zum Totschlag“ (Carl von Ossietzky).

Die Völkischen trugen mit ihrer massenhaft verlegten und verbreiteten Publizistik und mit ihrer aggressiven, Ressentiments schürenden und polarisierenden Agitation vom ausgehenden 19. Jahrhundert an wesentlich zu den politischen und gesellschaftlichen Radikalisierungsprozessen und zur Implementierung rassistischen (und insbesondere antisemitischen) Gedankenguts in der deutschen Gesellschaft und namentlich in den jüngeren Generationen bei. Dieser „Totalitarismus der Rasse“, wie Ernst Cassirer in seiner Auseinandersetzung mit Arthur de Gobineaus Essai sur l’inégalité des races humaines anmerkt, war es, „der den Weg absteckte zu den […] Auffassungen vom totalitären Staat.“ Völkischer Rassismus und Antisemitismus weisen auf die NS-Herrschaft voraus wie auf den völkisch-nationalsozialistischen Ideologietransfer hin. Neben nationalsozialistischen Weltanschauungsproduzenten und Akteuren (etwa Richard Walther Darré, Hans F.K. Günther, Heinrich Himmler und Alfred Rosenberg), die in der völkischen Bewegung ideologisch sozialisiert wurden, nahm auch Hitler „Topoi“ auf, „die schon lange vor ihm und ohne ihn im völkischen Milieu existierten und gleichsam Allgemeingut geworden waren. […] Hitler sog geradezu alle ihm erreichbaren völkisch-rassistischen Denkfiguren auf, um sie seinem Gedankengebäude dienstbar zu machen“ (Andreas Wirsching). Das vielköpfige völkische Denkkollektiv stellt insofern das „unmittelbare Vorspiel des Hitlertums“ (Friedrich Meinecke) dar. Es ist ein ideologischer und kommunikationsstrategischer Wegbereiter des über den Nationalsozialismus hinaus bis in die Gegenwart fort- und in einer neuerlichen Umbruchs- und Krisenzeit eruptiv wiederauflebenden metapolitischen und antihumanistischen Denkstils.

Uwe Puschner ist Professor für Neuere Geschichte am Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin. 

 

Literatur:

  • Stefan Breuer: Ordnung der Ungleichheit. Die deutsche Rechte im Widerstreit ihrer Ideen 1871-1945. Darmstadt 2001.
  • Ders.: Die Völkischen in Deutschland. Kaiserreich und Weimarer Republik. Darmstadt 2008.
  • Dictionnaire historique et critique du racisme. Hrsg. v. Pierre-André Taguieff. Paris 2013.
  • Handbuch zur „völkischen Bewegung“ 1871–1918. Hrsg. v. Uwe Puschner, Walter Schmitz, Justus H. Ulbricht. München u.a. 1996.
  • Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart. Hrsg. v. Wolfgang Benz. 8 Bde., Berlin, Boston 2008–2015.
  • Handbuch der völkischen Wissenschaften. Hrsg. v. Michael Fahlbusch, Ingo Haar, Alexander Pinwinkler. 2 Bde., Berlin, Boston 2., grundlegend erw. u. überarb. Aufl. 2017.
  • Le dictionnaire des populismes. Hrsg. v. Olivier Dard, Christophe Boutin, Frédéric Rouvillois. Paris 2019.
  • Uwe Puschner: Die völkische Bewegung im wilhelminischen Kaiserreich. Sprache, Rasse, Religion. Darmstadt 2001.
  • Völkisch und national. Zur Aktualität alter Denkmuster im 21. Jahrhundert. Hrsg. v. G. Ulrich Großmann, Uwe Puschner. Darmstadt 2009.

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