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Essay

Was uns „Silent Cal“ zu sagen hat

Calvin Coolidge und die Zukunft des Liberalkonservatismus

Calvin Coolidge, der von 1923 bis 1929 als 30. Präsident der Vereinigten Staaten amtierte, wurde von Historikern oft kritisiert. Tatsächlich war Coolidge nicht perfekt, aber doch ein viel besserer Politiker, als oft zu hören ist. Heute kann uns der liberalkonservative Überzeugungstäter als Vorbild dienen – zumindest allen, die am Fortbestehen einer freiheitlichen Ordnung und an einer gesunden wirtschaftlichen Entwicklung interessiert sind.

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Der Konservatismus ist in der Krise. Wieder einmal. In der gesamten westlichen Welt herrscht ein Konflikt zwischen liberalen Konservativen und illiberalen oder antiliberalen Konservativen. Wer sich in dem Konflikt durchsetzen wird, ist alles andere als sicher. Wenn die Liberalkonservativen die Oberhand behalten – oder zurückgewinnen wollen – müssen sich erst einmal klar darüber werden, wofür sie stehen. Statt sich von links diktieren zu lassen, was sie denken, sagen und tun dürfen, müssen sie nach Orientierung suchen, wo sie zu finden ist – zum Beispiel in der langen Tradition ihres politischen Denkens: von den britischen Liberalkonservativen des frühen 19. Jahrhunderts über François Guizot, Alexis de Tocqueville und Wilhelm Röpke bis zu Margaret Thatcher und Ronald Reagan.

 

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Vor 100 Jahren wurde einer dieser potenziellen Stichwortgeber unerwartet amerikanischer Präsident. Nachdem Präsident Warren G. Harding am 2. August 1923 einem Herzinfarkt erlegen war, wurde Vizepräsident Calvin Coolidge von seinem Vater, einem Friedensrichter, auf der Farm der Familie in Vermont zum Präsidenten vereidigt. So schlicht wie diese Zeremonie war auch der Mann, dem sie galt. „Silent Cal“ nannten ihn Zeitgenossen, die Zurückhaltung mit Sprachlosigkeit verwechselten.

Persönlich ein wortkarger Neuengländer, hatte Coolidge in Wirklichkeit viel zu sagen. Er erklärte den Amerikanern in zahlreichen, selbstgeschriebenen Reden seine Politik oder besser: seine politische Philosophie. Dabei hat er sich als erster Präsident des Radios bedient. Oberste Priorität seiner Regierungszeit war es, die immer noch spürbaren finanzpolitischen Folgen des Ersten Weltkriegs zu beseitigen und die Vereinigten Staaten in die „Normalität“ zurückzuführen. Als er 1929 aus dem Amt schied, hinterließ er das Land tatsächlich in einem besseren Zustand.

 

Erfolgreiche Fiskalpolitik

Seine Regierung reduzierte die Staatsverschuldung von 22,3 Milliarden auf 16,9 Milliarden Dollar. Der Staatshaushalt lag im Jahr 1929 nur noch bei 3,1 Milliarden Dollar im Vergleich zu 5,1 Milliarden im Jahr 1921. Die Einnahmen überstiegen dabei dauerhaft die Ausgaben. Dafür war die Arbeitslosigkeit bis 1929 auf weniger als vier Prozent gesunken. Auch die hohen Steuern, die im Krieg notwendig geworden waren, senkte er erheblich. So fiel der Spitzensteuersatz, der erst bei einem Einkommen von mehr als 500.000 Dollar griff, im Jahr 1924 auf 46 Prozent. 1929 lag er nur noch bei 24 Prozent. Da er nun aber schon bei Einkommen von mehr als 100.000 Dollar fällig wurde, trugen die Reichen am Ende von Coolidges Amtszeit einen höheren Anteil an der Einkommensteuer als zu dessen Beginn. 1922 zahlten die Reichen 77 Millionen Dollar, 1927 230 Millionen Dollar. Die Steuerlast von Menschen, die weniger als 10.000 Dollar im Jahr verdienten, fiel dagegen von 1923 bis 1929 von 130 Millionen auf 20 Millionen Dollar. Niedrige Steuern für alle bei einer gerechten Lastenverteilung, hieß das – die beste Art der Sozialpolitik. Das Ergebnis war ein starkes Wirtschaftswachstum, steigende Löhne und sinkende Zinsen, von denen breite Kreise der Amerikaner profitierten. Sie elektrifizierten ihre Häuser, kauften Autos und hatten samstags frei.

Diese Leistungen wurden später von Historikern mit dem Hinweis darauf in Frage gestellt, dass Coolidges Politik die Große Depression ausgelöst oder zumindest zu ihr beigetragen habe. Gegen diese Ansicht spricht, dass die Ursachen für die Weltwirtschaftskrise in Amerika nicht in der Fiskal-, sondern der Währungspolitik zu suchen sind, und zwar gerade in einer Abweichung von dem, was die Notenbank während Coolidges Präsidentschaft getan hatte. Statt die Banken zu retten, verringerte sie nach dem Börsencrash die Geldmenge und beförderte auf diese Weise die Krise. Viele Faktoren, die aus dem Crash eine langanhaltende Wirtschaftskrise mit Massenarbeitslosigkeit werden ließen, waren zur Zeit seiner Präsidentschaft noch gar nicht gegeben. Nur in einer Hinsicht trug Coolidge eine gewisse Verantwortung für die Depression. Die Verschärfung der Krise durch den Protektionismus war in seiner Präsidentschaft angelegt. Denn wie die meisten Republikaner in den 1920er Jahren war auch Coolidge Protektionist und verfolgte eine entschiedene Schutzzollpolitik. Das gebot aus seiner Sicht die Erfahrung, nicht die Ideologie.

 

Herkunft und Karriere

Am 4. Juli 1872 in Plymouth Notch, Vermont geboren, wuchs Calvin Coolidge in bescheidenen, aber wohlsituierten Verhältnissen auf. Nach dem Studium am Amherst College ging Coolidge nicht an die Harvard Law School, weil die Studiengebühren seinem Vater zu hoch erschienen. Stattdessen ließ er sich, wie es damals noch möglich war, in einer Anwaltskanzlei in Northampton, Massachusetts zum Anwalt ausbilden. 1898 eröffnete er dort eine Kanzlei und spezialisierte sich auf Wirtschaftsrecht. Parallel dazu begann er sein politisches Engagement als Mitglied der in Neuengland dominierenden Republikanischen Partei.

Nationale Berühmtheit erlangte Coolidge im Jahr 1919 im Amt des Gouverneurs von Massachusetts. Anlässlich eines Streiks der Polizei von Boston zeigte er sich unerbittlich: „Es gibt kein Recht gegen die öffentliche Sicherheit zu streiken, für niemanden, nirgendwo, zu keiner Zeit“, verkündete er, entließ die gesamte Polizeitruppe und veranlasste die Rekrutierung einer neuen. Wie sich zeigte, war die öffentliche Meinung auf seiner Seite. Im selben Jahr wurde er mit großer Mehrheit wiedergewählt. Bald schon brachten ihn Parteifreunde ins Gespräch für das Amt des Vizepräsidenten. 1921 wurde er gemeinsam mit Harding als dessen running mate gewählt, bevor er 1923 selbst Präsident wurde. Viele seiner politischen Überzeugungen und seiner Entscheidungen, die er in den Jahren 1923 bis 1929 traf, sind heute so aktuell wie damals, und zwar über den amerikanischen Kontext hinaus.

 

Sparsamkeit als politisches Ideal

So hat Coolidge vor den Folgen der Staatsverschuldung für die aktuelle und künftige Generationen gewarnt. Nach Ordnung und Freiheit sah er die Sparsamkeit als das wichtigste Ziel eines freiheitlichen Staates an. Sie war für ihn kein Selbstzweck, wie er 1925 in der Rede zu seinem zweiten Amtsantritt deutlich machte: „Die Männer und Frauen dieses Landes, die hart arbeiten, tragen die Kosten der Regierung. Jeder Dollar, den wir achtlos verschwenden bedeutet, dass ihr Leben kärglicher wird. Jeder Dollar, den wir achtsam sparen, spart Mittel, die ihr Leben reicher machen. Sparsamkeit ist Idealismus in seiner praktischsten Form.“ Das sagte er nicht nur. Er handelte auch danach. Jede Woche traf er sich mit dem Chef der Haushaltsabteilung, um mit ihm nach Positionen zu suchen, die im Regierungsapparat eingespart werden konnten, bis hin zur Beschränkung des Büromaterials. Im Privatleben hatte er solch eine Aversion gegen Schulden, dass er als Gouverneur noch immer zur Miete wohnte und sich erst ein Auto kaufte, nachdem er Präsident geworden war.

Die Bürger hatten aus seiner Sicht nicht nur ein Recht auf einen schlanken Staat, sondern auch auf niedrige Steuern. Zudem war es nicht im Interesse der Regierung, die Menschen durch hohe Steuern zu belasten: „Je höher sie werden, desto mehr müssen die Menschen für die Regierung arbeiten. Je geringer sie sind, desto mehr können die Menschen für sich selbst arbeiten.“ Coolidge war kein Vertreter einer angebotsorientierten Wirtschaftspolitik, aber seine Vorstellungen liefen darauf hinaus. Kein Wunder, dass Ronald Reagan gleich nach seiner Amtseinführung ein Bild von Coolidge im Cabinet Room des Weißen Hauses aufhängen ließ.

 

„Es ist viel wichtiger, schlechte Gesetze zu verhindern als gute zu verabschieden.“

Dieser energischen Steuer- und Haushaltspolitik stand Zurückhaltung auf den meisten anderen Politikfeldern gegenüber. Obgleich es keinen Hinweis darauf gibt, dass Coolidge Edmund Burke gelesen hat, hatte er ein burkeanisches politisches Temperament, wie der amerikanische Historiker Thomas Tacoma in seiner Dissertation zeigt. Wie der Whig des 18. Jahrhunderts hatte der Republikaner des frühen 20. Jahrhunderts das Ziel, ein freiheitliches System durch gelegentliche, notwendige Reformen zu bewahren. Gleichzeitig glaubten beide, dass dieses Ziel nur zu erreichen sei, wenn in Regierung und Parlament die Tugend der Mäßigung gepflegt werde. Statt ständig neue Gesetze zu machen, musste die Legislative aus Coolidges Sicht der Regierung die Gelegenheit geben, die Gesetze richtig anzuwenden: „Es ist viel wichtiger, schlechte Gesetze zu verhindern als gute zu verabschieden.“

Auf einem Gebiet legte Coolidge allerdings keine Zurückhaltung an den Tag, nämlich mit Blick auf die Bürgerrechte. 1924 gestand der Kongress den amerikanischen Ureinwohnern mit dem Indian Citizenship Act, für den sich Coolidge nachdrücklich eingesetzt hatte, die vollen Bürgerrechte zu. Auch darüber hinaus nutzte er jede Gelegenheit, sich mit Vertretern der Indianer zu treffen und sich für deren Belange zu einzusetzen. Ähnliches tat er für die Afroamerikaner. Er vertrat nicht nur in Reden ihre Interessen und würdigte ihren Beitrag im Ersten Weltkrieg, sondern tat auch mehr als jeder seiner Vorgänger dafür, schwarze Amerikaner in Ämter zu bringen. 1924 unterzeichnete er zudem nur zähneknirschend das Gesetz zur Begrenzung der Einwanderung, weil er die darin festgelegten Quoten und den Ausschluss von Japanern ablehnte. Zwar glaubte er wie die Mehrheit im Kongress, dass die Vereinigten Staaten die Zahl der Einwanderer im nationalen, das heißt in seinem Fall: wirtschaftlichen, Interesse begrenzen mussten. Aber jede Art von Begrenzung musste gerecht sein; sie durfte nicht nach ethnischer oder geographischer Herkunft unterscheiden. Über die Declaration of Independence sagte er 1926: „Wenn alle Menschen gleich geschaffen sind, dann ist das endgültig.“

 

Amerika als Vorbild

Auch in der Außenpolitik ließ sich Coolidge von Werten leiten, von dem Glauben, Amerika habe die Aufgabe, Menschlichkeit und Zivilisation zu befördern. Er neigte weder der isolationistischen Mehrheit seiner Partei zu, noch war er ein Anhänger des Wilson’schen Idealismus. Auch der robuste Interventionismus Theodore Roosevelts war nicht seine Sache. Er griff die aus der Debatte über den Völkerbund hervorgegangene Maxime des „America First“ auf, verstand darunter aber weder dasselbe wie die Isolationisten der 1930 und 40er Jahre noch wie später Donald Trump. „America First“ drückte für Coolidge keinen Rückzug von den Problemen der Welt aus, sondern die Überzeugung, dass Amerika seine „Verpflichtungen gegenüber der Menschheit“ am besten erfüllen könne, wenn es „offen und aufrichtig, ernsthaft und gewissenhaft amerikanisch“ sei. Amerika müsse zuerst seinen eigenen Wohlstand befördern, dürfe gleichzeitig aber nicht vergessen, dass er von dem  anderer Staaten abhänge. Nur dann könne Amerika, wie es seine Aufgabe sei, der Welt ein Vorbild an Selbstregierung und Rechtschaffenheit sein.

Deshalb schloss seine Vorstellung von „America First“ internationales Engagement durchaus nicht aus. So setzte er sich gegenüber dem Kongress vergeblich dafür ein, dass die Vereinigten Staaten dem Ständigen Internationalen Gerichtshof in Genf beitreten sollten. Grundsätzlich verfolgte er das Ziel, die Weltpolitik Regeln zu unterwerfen, und befürwortete deshalb auch den Briand-Kellogg-Pakt, der den Krieg als Mittel der Politik ächtete. Auch militärische Interventionen lehnte er nicht ab, wenn sie dazu dienten, das Leben und das Eigentum amerikanischer Staatsbürger zu schützen oder Regierungen zu unterstützen, die auf dem Weg zu Freiheit und Demokratie waren. Wäre Coolidge nicht schon 1933 gestorben, hätte er gegenüber Hitler-Deutschland und dem Krieg in Europa gewiss keine andere Haltung eingenommen als Franklin D. Roosevelt.

 

„Keep cool and keep Coolidge“

Anders als Roosevelt hielt Coolidge sich aber nicht für unverzichtbar. Schon ein Jahr nach seiner Amtseinführung musste er sich 1924 der Wiederwahl stellen. „Keep cool and keep Coolidge“ hieß es in dem dafür komponierten Wahlkampfsong, und die Amerikaner folgten dieser Aufforderung mit großer Mehrheit. 54 Prozent der Wähler glaubten anscheinend, dass der Präsident seine Sache gut gemacht habe, was ihm 382 von 531 Wahlmännern einbrachte. Vier Jahre später hätte Coolidge wahrscheinlich mit einem noch besseren Ergebnis gewonnen – wenn er kandidiert hätte. Doch er entschied sich dagegen, weil er glaubte, dass politische Ämter in der Demokratie auf Zeit vergeben würden und es für ihn genug sei.

Dahinter verbarg sich die Auffassung, dass sich Politiker nicht allzu wichtig nehmen sollten, dass jeder ersetzbar sei. Damit nahm er implizit gegen den Kult des großen Mannes, des starken Führers Stellung, der in Europa um sich griff und auch heute wieder im gesamten Westen Konjunktur hat. „Es ist ein großer Vorteil für einen Präsidenten“, schrieb er 1929 in seiner Autobiographie, „und eine wichtige Quelle für die Sicherheit des Landes, wenn er weiß, dass er kein großer Mann ist.“ Nicht, dass Coolidge, das Auftreten großer Männer oder schicksalhafter Staatmänner ausschloss. Er bewunderte die Gründerväter, vor allem aber Abraham Lincoln, den er als liberaler Protestant auf fast religiöse Weise verehrte. Aber diese Männer waren für ihn Ausnahmegestalten.

Obwohl Coolidge ein viel besserer Präsident war, als es die progressive Erzählung will, war er gewiss nicht perfekt. Seine Zurückhaltung ging zu weit, wo er sich weigerte bei Naturkatastrophen einzugreifen und für Linderung zu sorgen, weil er Angst hatte, die Kompetenzen der Bundesebene auszuweiten. In unseren komplexen westlichen Wohlfahrtsstaaten könnte heute niemand so regieren wie Coolidge. Aber er kann eine Inspiration für alle sein, die an geordneter Freiheit und an einer gesunden wirtschaftlichen Entwicklung interessiert sind. Zudem regierte er in Zeiten, in denen das gesellschaftliche Klima auf beiden Seiten des Atlantiks ähnlich aufgeheizt war wie heute. Wer antiliberalen Formen des Konservatismus den Wind aus den Segeln nehmen will, findet in „Silent Cal“ einen Ratgeber – nicht den einzigen oder den besten, aber sicher nicht den schlechtesten.

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Kontakt

Prof. Dr. Matthias Oppermann

Dr. Matthias Oppermann

Stv. Leiter Wissenschaftliche Dienste / Archiv für Christlich-Demokratische Politik, Leiter Zeitgeschichte

matthias.oppermann@kas.de +49 30 26996-3812

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