Länderberichte
Der Europäische Rat hat am 15. Dezember entschieden, dass es in den Artikel 50 Verhandlungen zwischen der Europäischen Union und dem Vereinten Königreich nunmehr ausreichend Fortschritt gab, um Verhandlungen über die zukünftigen Beziehungen aufnehmen zu können. Es sind jedoch Zweifel angebracht, ob die am 08. Dezember in Brüssel vorgestellte Vereinbarung wirklich diese „substantiellen Fortschritte“ beinhaltet.
Eine Vereinbarung voller Unklarheiten
Nachdem Premierministerin May noch im ersten Anlauf zu einer vorläufigen Einigung mit der EU-Kommission gescheitert war, weil ihr der nordirische Koalitionspartner DUP kurzfristig die Gefolgschaft verweigert hatte, war sie nach entsprechend hektischen und intensiven Verhandlungen in London dann im 2. Anlauf erfolgreich.
Die unterzeichnete Vereinbarung zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU war, so die Einschätzung der EU, substantiell genug, um den lang ersehnten „weißen Rauch“ vermelden zu können: „Sufficient progress has been made“.
Hardliner der Tories sehen allerdings in der weiterführenden Zuständigkeit des Europäischen Gerichtshofs eine rote Linie für die weiteren Verhandlungen. Der Vereinbarung der EU Kommission mit dem Vereinten Königreich zufolge könnte der Europäische Gerichtshof auch weiterhin eine tragende Säule bei der Auslegung der Rechte der jeweiligen Bürger im anderen Hoheitsgebiet spielen.
Auch hat die britische Regierung Brüssel angeboten, hinsichtlich zukünftiger finanzieller Verpflichtungen, wie beispielsweise Pensionszahlungen, so behandelt zu werden, als wäre Großbritannien weiterhin Mitglied der Union. Kaum fünf Stunden nach dessen Bekanntwerden meldeten sich dann entsprechend auch erste einflussreiche Stimmen aus der konservativen Partei, die diesen Deal unakzeptabel fanden.
Trotz der Vereinbarung ist weiterhin auch nicht geklärt, wie die Irlandfrage letztlich gelöst werden kann, sie steckt in dieser Hinsicht voller offener Widersprüche. Beispielsweise preist man die Integrität des Königreiches und versichert zu gleich, dass es zu keiner harten Grenze auf der irischen Insel kommen wird. Beide Punkte stehen im direkten Widerspruch zueinander und es ist weiterhin offen, wie damit umgegangen werden soll. Offensichtlich war aber die Kompromissformel, dass beide Seiten die Lösung dieses Problems nach hinten zu schieben bereit sind.
Sollte man sich aber dann im Endeffekt nicht einigen können, würde zumindest die wirtschaftliche Integrität Großbritanniens faktisch aufgehoben werden müssen.
Unter diesen Umständen ist die irische Regierung der eigentliche Gewinner dieses nächtlichen tête á tête. Irland unterhält intensive Handelsbeziehungen zu Großbritannien und kann sich kein Scheitern der Verhandlungen erlauben. Trotzdem musste die irische Regierung bei der Frage nach der Grenze hart bleiben. Nun hat sie eine schriftliche Zusicherung der britischen Seite erhalten, dass im Falle eines Scheiterns der Verhandlungen Nordirland faktisch in der Zollunion verbleiben und es somit keine Grenze geben würde.
Auf lange Sicht hat die Vereinbarung also hinsichtlich der Irlandfrage nur Zeit erkauft und es ist davon auszugehen, dass die DUP, auf die Premierministerin May in Westminster weiterhin angewiesen ist, ihr auch in Zukunft weiter Schwierigkeiten bereiten wird. Denn eine Lösung, die die Vorstellungen der DUP mit der Zusicherung an die irische Regierung vereinen könnte, ist bisher nicht erkennbar.
Konflikte in Parlament und Kabinett
Neben der DUP sind aber das britische Unterhaus und das eigene Kabinett derzeit Unruheherde, die Premierministerin May mehr als nur Kopfzerbrechen bereiten.
So traten innerhalb einer Woche sowohl Verteidigungsminister Michael Fallon (Vorwurf der sexuellen Belästigung) wie auch Staatssekretärin Priti Patel (Überschreitung der Amtsbefugnisse) zurück, Außenminister Boris Johnson kämpfte mit einem diplomatischen Faux Pas in Iran, das Schicksal von Damian Green, einer der engsten Vertrauten Mays und stellvertretender Premierminister, ist wegen eines polizeilichen Verfahrens (Vorwurf lautet auf pornographisches Material auf seinem Dienstcomputer) weiterhin ungewiss und Fallons Nachfolger Williamson im Verteidigungsministerium brachte sich unlängst mit unangemessenen Äußerungen über Briten, die sich dem sogenannten Islamischen Staat anschlossen, in Bedrängnis.
Im Parlament wurden zuletzt eine ganze Reihe Abgeordneter unterschiedlicher Parteien der sexuellen Belästigung bezichtigt, hier stehen sowohl parteiinterne wie juristische Aufarbeitungen an, in deren Folge weitere Rücktritte als Abgeordnete oder auf Regierungsebene nicht auszuschließen sind. Jeder weitere Rücktritt könnte aber für die momentan so empfindliche Machtbalance im Kabinett gravierende Auswirkungen haben – Neuwahlen nicht ausgeschlossen.
Ein nicht zu unterschätzendes Problem liegt unterdessen auch in der immer offenkundigeren internen Spaltung der konservativen Partei.
Auf der Seite der Remainer hat sich die Gruppe um den Abgeordneten und ehemaligen Generalstaatsanwalt Dominic Grieve, Vorsitzender der Conservative Group for Europe, die für eine möglichst enge Bindung an die Europäische Union eintritt, immer deutlicher und auch öffentlicher artikuliert. Grieve wird von namenhaften Politikern wie beispielsweise dem Tory-Veteran Ken Clark, den Abgeordneten Tom Tugendhat, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses oder Nicky Morgan, Vorsitzende des Finanzausschusses, unterstützt und stellt somit eine nicht mehr zu unterschätzende Größe dar.
Daneben spielt auf der Leave Seite aber auch die traditionell sehr einflussreiche Gruppe von Abgeordneten um den ehemaligen Vorsitzenden der konservativen Partei, Ian Duncan Smith, Bernhard Jenkins, Bill Cash und John Redwood eine bedeutende Rolle. Ihnen erscheint auch ein No-Deal-Brexit akzeptabel, wenn nicht gar wünschenswert. Theresa Mays Problem ist nun, dass sie im Parlament auf die Stimmen beider Gruppierungen ihrer eigener Fraktion angewiesen ist. Jede Abstimmung wird so zu einem riskanten Unterfangen, Fraktionsdisziplin ist da - wenn überhaupt - nur selten, insbesondere in der Brexit-Diskussion aber kaum zu erwarten.
Ein klares Beispiel dafür war der Abstimmungsprozess im Nachgang der „sufficient-progress-Verkündigung“ aus Brüssel.
Bei der Abstimmung über einen Änderungsantrag zur Great Repeal Bill, die den europäischen acquis communautaire in britisches Recht überführen soll, sollte dem Parlament ein meaningful vote über den schlussendlichen Brexit-Deal ermöglichen werden, was aber von der Regierung entschieden abgelehnt wurde. Am Ende stimmten elf Tory-Abgeordnete für diesen Antrag und somit gegen die eigene Regierung, so dass der Antrag zusammen mit den Stimmen der Opposition angenommen wurde.
Es bleibt dahingestellt, welche realpolitischen Konsequenzen dieser Änderungsantrag mit sich bringt. Es ist jedoch klar geworden, dass Theresa May nicht auf den bedingungslosen Rückhalt ihrer eigenen Partei zählen kann, wodurch ihre Position – auch in Brüssel – erneut geschwächt wurde.
Seit dem Referendum im Juni 2016 ist das Verhältnis von Regierung und Parlament auch strukturell angespannt. Zuerst musste sich Westminster das eigentlich selbstverständliche Recht juristisch erstreiten, über den Austritt aus der Europäischen Union abstimmen zu dürfen. Es darf nicht vergessen werden, dass das Referendum über die Mitgliedschaft in der EU lediglich konsultativen Charakter hatte und juristisch nicht bindend war. Daraufhin betitelte die Tageszeitung Daily Mail die Richter des Supreme Court als enemies of the people. Im Kontext dieser Great Repeal Bill, möchte die Regierung auf die sogenannte Henry VIII Klausel zurückgreifen, die es ihr erlauben würde, das verabschiedete Gesetz auch ohne parlamentarische Prüfung nachträglich zu verändern. Es ist erstaunlich, dass Politiker und Medien, die sich während der Leave-Kampagne auf die Fahne geschrieben hatten, dem britischen Parlament Souveränität zurückgeben zu wollen, nun alles daran setzen, Abstimmungen eben dieses Parlaments zu verhindern.
Dass Abgeordnete, die eben dieses Mitsprache- und Endscheidungsrecht des Parlaments einforderten dann als „Brexit-Meuterer“ bezeichnet wurden und im Nachgang zur Abstimmung sogar Morddrohungen erhielten, ist eine mehr als bedenkliche Verrohung des politischen Klimas und Umgangstons in Großbritannien. Wie weit diese verbale Eskalation dann gehen kann, hat die Ermordung der Labour Abgeordneten Jo Cox während der Brexit-Referendumskampagne leidvoll gezeigt.
Innerhalb des Regierungskabinetts ist die Lagerbildung ebenfalls offensichtlich. Das kabinettsinterne Leave-Lager rund um Außenminister Boris Johnson und Umweltminister Michael Gove scheint immer mehr an Selbstbewusstsein zu gewinnen. In einem Brief an die Premierministerin kritisieren beide recht unmissverständlich den aus ihrer Sicht mangelnden Erfolg ihrer eigenen Regierung in den Verhandlungen mit der Europäischen Kommission und versuchen, May ihre Vorstellung eines harten Brexits zu diktieren.
Nach Bekanntwerden der Vereinbarung mit der Europäischen Union hingegen ließen beide wissen, dass sie diesbezüglich hinter Theresa May stünden. Ein zweifelhafter Burgfrieden – mehr nicht.
Jedoch ist Theresa May auch mitverantwortlich für ihre politische Lage. Es war zumindest politisch unglücklich, einen harten Brexit anzustreben, obwohl die Leave-Kampagne das Brexit-Referendum nur mit dünner Mehrheit für sich entscheiden konnte. Durch die „Brexit means Brexit“-Strategie gewannen radikale Brexiteers immer mehr an Einfluss und bestimmen seitdem immer deutlicher die Agenda.
Als sie Anfang März 2017 das offizielle Austrittsgesuch in Brüssel einreichte, war die britische Regierung weder inhaltlich noch personell ausreichend auf die bevorstehenden Verhandlungen mit Brüssel vorbereitet. Erst jetzt im Nachhinein wurden neue Stellen im Wirtschafts- und Außenministerium geschaffen, um zukünftige Handelsabkommen überhaupt verhandeln zu können.
Die vorgezogene Neuwahl von Juni 2017 markiert einen weiteren Tiefpunkt in Theresa Mays Amtszeit. Die britische Regierung hatte Neuwahlen angesetzt, um eine größere Mehrheit im Parlament als die bisherigen fünfzehn Mandate zu gewinnen, und die damaligen Umfragen sprachen für dieses Unterfangen. Obwohl die Gründe hierfür zum Zeitpunkt der Entscheidung verständlich waren, war das Ergebnis mit dem Verlust der absoluten Mehrheit für Regierung und Premierministerin katastrophal.
Bevölkerung weiterhin nicht für Verbleib in der EU
Vor diesem Hintergrund scheint es auf den ersten Blick doch verwunderlich zu sein, dass die britische Bevölkerung den meisten Umfragen zufolge nach wie vor hinter der Entscheidung von Juni 2016 steht, die Europäische Union zu verlassen. Es scheint sich zwar hier und da eine Trendwende abzuzeichnen, konsistent ist das aber (noch) nicht.
Regelmäßig werden neue Studien und Prognosen über die Folgen des Austritts Großbritanniens aus der Europäischen Union für Wirtschaft und Gesellschaft veröffentlicht, alle mit demselben Grundtenor: der Brexit, egal ob hart oder weich, wird sich auf absehbare Zeit nicht zugunsten des britischen Wohlstandes auswirken. Da letztlich erst durch die Verhandlungen mit der EU wirklich deutlich wurde, welche Probleme durch das Votum aufgeworfen wurden und die britische Regierung bisher nicht durch besonders viele konkrete Lösungsansätze aufgefallen ist, wäre zu erwarten, dass es zu einem Umschwung in der Bevölkerung kommen sollte. In Umfragen (zumindest in den bis dato vorliegenden seriösen) gibt es zwar nach wie vor keine Mehrheit für einen Verbleib in der EU , jedoch ist man auch gleichzeitig mit der Arbeit der Regierung höchst unzufrieden – wie passt das zusammen?
Zum einen könnte dies daran liegen, dass Brexit auf der einen und Europa selbst auf der anderen Seite eine neue politische Identität stiften. Eigentlich handelt es sich hierbei sogar nicht nur um eine neue politische, sondern gar um diverse neue gesellschaftliche Identitäten. Dahinter könnte eine Form der nationalen Verunsicherung stehen, die durch den Brexit und die Europa-Frage nun ein Ventil gefunden zu haben scheint. Allgemein gilt Großbritannien als offene, tolerante und pluralistische Gesellschaft auf Grundlage des bekannten common sense, des gesunden Menschenverstandes. Jedoch hat ebendiese Offenheit möglicherweise zu einem Orientierungsverlust einhergehend mit einer Identitätskrise in Teilen der britischen Bevölkerung geführt.
Das Identitätsstiftende am Brexit lässt sich besonders daran erkennen, dass sich Remainer und Brexiteers gegenseitig und auch sich selbst Persönlichkeitsmerkmale zuschreiben: Remainers halten die Befürworter eines Austritts Großbritanniens aus der EU für heuchlerisch, selbstgefällig und engstirnig, während sie sich selbst für ehrlich, intelligent und aufgeschlossen halten. Bezeichnenderweise denken Brexiteers genau umgekehrt über sich und Remainers.
Durch die Ausweitung der politischen Dimension des EU-Referendums auf die gesellschaftliche und soziale Ebene lässt sich auch erklären, wieso die Umfragewerte so bemerkenswert stabil sind. Sobald Menschen etwas als Teil ihrer Identität angenommen haben, ist es für sie und für die Gesellschaft schwer, dies wieder in Frage zu stellen, unabhängig davon, welche Stimmungen und Kommentare auch oberflächlich an diesem Weltbild kratzen mögen. Zweifelsohne ist Großbritannien politisch wie auch gesellschaftlich zutiefst gespalten.
Brexit means Brexit – by name only?
Trotz aller Beteuerungen, dass die Briten sowohl den Binnenmarkt als auch die Zollunion verlassen werden, liest sich die Vereinbarung vom 08. Dezember als ein Indiz dafür, dass die Idee des harten Brexits Geschichte sein könnte.
Die schriftliche Zusicherung der britischen Regierung, es werde keine geschlossene Grenze zur Republik Irland geben, müsste zweifelsohne zu einer wie auch immer aussehenden Form von Zollunionsmitgliedschaft führen. Gleichzeitig wird der Europäische Gerichtshof weiterhin eine Rolle im britischen Rechtswesen spielen. All das scheint nicht recht zu „take back control“ passen zu wollen. Es bleibt abzuwarten, wie sich die innenpolitische Situation im Königreich entwickeln wird, wenn man zu fassen beginnt, was diese Vereinbarung vom 08. Dezember wirklich bedeutet.
Kurz nach Bekanntwerden des sufficient progress meldete der Präsident des Europäischen Rates, Donald Tusk, dass die größten Schwierigkeiten überhaupt noch bevorstünden. Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel und der französische Präsident Macron äußerten sich in diesem Sinne. Allzu viel Anlass für Optimismus geben diese Aussagen nicht, sie entsprechend aber wohl der Realität. Die Komplexität und der Umfang der nun zu kl ärenden Aspekte übersteigen die Fragen der ersten Verhandlungsrunde um ein Vielfaches. Zeit wird damit zum kostbaren und definitiv zu knappen Gut.
Ob die britische Regierung eine parlamentarische und gesellschaftliche Mehrheit für eine mögliche Übergangsfrist oder einer Verlängerung der Verhandlungen finden wird, bei der Großbritannien europäisches Recht vollständig umsetzen müsste, ohne in Brüssel mitentscheiden zu dürfen, ist mehr als fraglich.