Länderberichte
Guter Start für Brown
Auslöser der Idee sind die zustimmenden Umfrage-Ergebnisse der ersten Wochen von
Premierminister Brown. Nach sorgfältiger Vorbereitung ist ihm ein Start gelungen, der
Labour nach mehr als einem Jahr Vorsprung von David Cameron und seinen teilerneuerten
Konservativen in die Pole-Position zurückgebracht hat. Wer Blairs
Niedergang, seinen Verlust an Ansehen und Glaubwürdigkeit, die Kritik an Inhalt und Stil
seiner Amtsführung, beobachten konnte, musste von Brown ein Kontrastprogramm
erwarten, das dieser auch pflichtgemäss geliefert hat. Dass die Tories derart
aufgeregt und unprofessionell auf den Stimmungsumschwung reagiert und ihn
zum Anlass einer gelegentlich hämischen und bösartigen Selbstkritik nahmen, trug
zusätzlich zum Anfangserfolg von Gordon Brown bei.
Eine schwierige Entscheidung
Nun befindet sich der neue Premier in einer Zwickmühle, deren Auflösung nicht nur die
Briten interessieren und betreffen wird. Wartet er mit den vorgezogenen Wahlen,
werden mehr und mehr Menschen erkennen, dass die alten Probleme nicht
über Nacht verschwunden sind. Von Irak bis zur Bildungspolitik, vom Gesundheitswesen
bis zur Kriminalitätsentwicklung, vom Aussenhandelsdefizit bis zur Desintegration
der Gesellschaft – zu allen Themen gab es auch schon vom Schatzkanzler Brown
Lösungsvorschläge, Ankündigungen und Versprechungen, an die der Premier Brown
erinnert werden wird, wenn sie im Alltag wieder aufscheinen.
Lässt er aber schon im Spätherbst oder Frühjahr wählen, werden diese Themen
noch ergänzt um Europa und die Ergebnisse der Regierungskonferenz, die bis dahin
vorliegen sollen.
Stolperstein EU-Verfassung
Die Entscheidung von Blair und Brown, anders als 2004 zum damaligen EU-Verfassungsvertragsentwurf
über die neuerliche Vereinbarung nicht vom Volk entscheiden zu lassen, bringt Labour in
zunehmende Schwierigkeiten. Die Verweigerung eines Referendums ist
schlecht begründet und wird es bleiben. Eine Öffentlichkeit, die ihre Meinung
weitestgehend von einer europa-kritischen Presse erhält, ist weder emotional nach
argumentativ auf opt-out Klauseln oder redlines vorbereitet. Sie ist empfänglich für
Stimmungsmache, wie den Vorwurf, mit dem Kompromiss von Brüssel sei der
„schamlose Ausverkauf britischer Interessen an blutleere Bürokraten der EU“
beschlossen, er sei der „Nagel im Sarg unserer Demokratie“.
Kritik der Opposition
Über all dies sei bei Neuwahlen abzustimmen, wenn Brown ihnen eine
andere Möglichkeit verweigere. Dass die Tories auf diese Karte setzen
werden, wird man ihnen kaum verübeln können. Es entspricht ihrer Ideologie, steht
in Übereinstimmung mit allen Forderungen der Vergangenheit und ist im Machtkampf
mit Labour ein gut geschliffenes Schwert. Darüberhinaus ist Europa der Klebstoff, der
die Modernisierer um David Cameron noch mit der Mehrheit der traditionellen
konservativen Mitgliedschaft zusammenhält. Aber auch bei Labour und den LibDems gibt
es zunehmend mehr und kritische Fragen zur Verweigerung eines Referendums. Ist
der neue Vertragsentwurf wirklich so anders, als der alte von 2004, wie es die
Regierung nicht müde wird, zu behaupten, wenn doch von Ahern bis Zapatero alle die
Brüsseler Ergebnisse preisen, weil „die wichtigsten Elemente des
Verfassungsvertragsentwurfs gerettet“ oder gar „98%“ aus dem gescheiterten Text
übernommen wurden? Schon kursieren Textvergleiche, die das belegen sollen.
Ebenso verbreitet sind die Gutachten und Stellungnahmen, die die völlige oder
partielle Unwirksamkeit der red-lines zum Gegenstand haben. Sie sollen bei denen
Wirkung entfalten, die eine anspruchsvollere Begründung brauchen.
Forderungen der Gewerkschaften
Gefährlich für Labour wird nun aber ausgerechnet die Debatte um die
Grundrechtecharta. War Blair noch stolz darauf, sie mit einer opt-out Regelung für
Großbritannien erlegt zu haben, will die größte Gewerkschaft TUC nun auf ihrer
Jahrestagung genau deshalb von Brown ein Referendum fordern: Es müsse darüber
abgestimmt werden, ob dem britischen Arbeitnehmer das verweigert werden könne,
was Europa gemeinschaftlich seinem kontinentalen Arbeitskollegen an Rechten
gewähre. Bei so viel Kritik mag keiner fehlen oder etwas Positives dagegenhalten. Die britische
Arbeitgebervereinigung findet wettbewerbshemmende Elemente im
Vertragsentwurf, David Blunkett fordert eine völlig neue EU, „keine, die auf den Visionen
der 50iger Jahre beruht, sondern beschreibt, wie Europa im 21.Jahrhundert
sein solle“. Dritte wenden ein, das „starre Europa“ sei keine Antwort auf die
Herausforderungen der Globalisierung. So entsteht erneut ein Stimmungsbild, wie
es im April 2004 Tony Blair zu seinem historischen Satz hat verleiten lassen „then
let the people have the final say“. Auszuschliessen ist eine solche, erneute
Kehrtwende nicht. Sollte Brown sich dazu veranlasst sehen, kann man nur hoffen,
dass er sie für eine umfassende Debatte des Verhältnisses von Grossbritannien zu
Europa nutzt. Dies war von Blair immer wieder angekündigt, aber nie realisiert
worden.
Für eine solche Debatte wird der Brüsseler Vertrag nicht ausreichen. Dies wird nur ein
Referendum leisten können, bei dem es um die weitere Mitgliedschaft des Vereinigten
Königreichs in der EU unter Akzeptanz des Brüsseler Kompromisses geht – oder ein
Ausscheiden aus der EU. Die britischen Sonderwege werden ansonsten auch in
Zukunft nicht nur die europäischen Partner, sondern auch die Handlungsfähigkeit der
britischen Regierung selbst beeinträchtigen.