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Sasin Tipchai / Pixabay

Länderberichte

Eingezwängt zwischen Giganten

von Peter Rimmele, Elias Marini Schäfer

Bhutan ringt um seine territoriale Souveränität

Der folgende Länderbericht bildet den ersten Teil der dreiteiligen Länderberichtsreihe unter dem Titel: „Indien und seine Nachbarn.“. Vor dem Hintergrund der jüngsten Ereignisse wie dem EU-Indien-Gipfel, der den Weg für eine verstärkte strategische Partnerschaft zwischen Indien und den EU-Mitgliedsstaaten ebnete, zielt die Serie darauf ab, geopolitische Herausforderungen, Zusammenarbeit, Sicherheit und andere rechtsstaatliche Faktoren innerhalb der Asien- und Pazifikregion aus der Perspektive des indischen Subkontinents zu beleuchten.

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Die 2400 Kilometer lange Himalaya-Kette umfasst die weltweit höchsten Berggipfel, atemberaubende Landschaften und zugleich einige der am stärksten umkämpften Territorien dieser Erde. Die Gebirgsregion trennt die beiden asiatischen Großmächte – Indien und China –, die mehr als ein Drittel der Weltbevölkerung beheimaten. Eingebettet zwischen diesen beiden Kolossen leben die fast 750.000 Einwohner des recht überschaubaren Königreichs Bhutan, welches sich in der jüngsten Vergangenheit dem zunehmenden Druck seiner beiden Nachbarstaaten ausgesetzt sieht, die um Land und die Vormachtstellung innerhalb der weitläufigen Gebirgskette konkurrieren. Angesichts der stetig wachsenden Gebietsansprüche Chinas gegenüber dem „Land des Drachendonners“, die sich mittlerweile auf den beachtlichen Anteil von rund 12 Prozent des bhutanischen Territoriums belaufen, hegen zahlreiche Beobachter und Experten die Vermutung, dass Peking das mehrheitlich buddhistische Königreich in seinen Territorialstreit mit Neu-Delhi verwickeln will. Chinas Gebietsansprüche stellen zudem eine Zerreißprobe der Loyalität der beiden Alliierten Neu-Delhi und Thimphu dar, deren kulturelle und wirtschaftliche Beziehungen auf die Unterzeichnung eines Freundschaftsvertrags aus dem Jahr 1949 zurückreichen.

 

Einleitung

Bhutan, das für seine innovative Idee des „Gross National Happiness-Index“ – einem Index für das nationale Glück – als Maß für die Entwicklung des Landes anstelle des Bruttoinlandsprodukts internationale Aufmerksamkeit erlangt hat, ist vielen Deutschen landläufig als eine Oase der Ruhe und Gelassenheit ein Begriff. Zudem gilt Bhutan als Vorreiter im Bereich des Umweltschutzes und zählt zu jenen wenigen Ländern der Welt, die eine negative Bilanz bei CO2- Emissionen aufweisen können.  Erst im vergangenen Jahr nahm Deutschland diplomatische Beziehungen mit dem Königreich auf und reiht sich damit in eine illustre Liste von lediglich 53 Ländern ein, mit denen das „Land des Drachendonners“ diplomatische Beziehungen unterhält. Interessanterweise ist China in dieser Liste nicht vertreten. Somit ist Bhutan die einzige Nation, welche unmittelbar an China grenzt, jedoch keine offiziellen diplomatischen Beziehungen mit Peking pflegt.

Trotz des Mangels an offiziellen diplomatischen Beziehungen befassen sich Diplomaten beider Länder seit nunmehr fast vier Jahrzehnten mit der Beilegung verschiedener Grenzstreitigkeiten, die sich bis vor kurzem vor allem auf chinesische Ansprüche über Teile des zentralen und westlichen Sektors von Bhutan konzentrierten. Regierungsvertreter beider Länder treffen sich seit 1984 regelmäßig zu Grenzgesprächen, von denen bislang 24 abgehalten wurden, wobei die letzte Verhandlungsrunde, welche in Peking stattfand, bereits fünf Jahre zurückliegt. Eine 25te Runde der Verhandlungen liegt derzeit auf Eis.

Zudem tendiert die Wahrscheinlichkeit, dass diese in naher Zukunft stattfinden wird, mittlerweile in Richtung Null, nachdem die Führung der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) im vergangenen Jahr einen weiteren großen Teil des bhutanischen Staatsgebietes für sich reklamiert hat. China beansprucht nun das sogenannte „Sakteng Wildlife Sanctuary“, das 650 Quadratkilometer umfasst, als Teil seiner Landesgrenzen und zwar ergänzend zu den vorrangegangenen territorialen Gebietsansprüchen. Das Naturschutzgebiet liegt im Osten Bhutans und beheimatet eine reichhaltige Biodiversität sowie vereinzelter Nomadenstämme.

Pekings unerwarteter Schachzug erfolgte, als die Regierung in Thimphu bei der „Global Environmental Facility“, einer in den USA ansässigen Gruppe, die umweltfreundliche Programme finanziert, um monetäre Unterstützung für Projekte innerhalb des Nationalparks bat. Daraufhin erhoben chinesische Regierungsbeamte Einwände, erklärten das Gebiet für umstritten und pochten deshalb darauf, dass den bhutanischen Behörden keine Mittel gewährt werden dürften.

Die frappierende Ironie einer solchen Forderung liegt in der Tatsache, dass chinesische Diplomaten diese in keinem der bisherigen 24 Grenzgespräche je zur Sprache gebracht hatten. Tatsächlich existieren keinerlei kartographische Anhaltspunkte, die Chinas Anspruch auf „Sakteng“ stützen würden. Erst die Angliederung Tibets durch die chinesische Armee im Jahr 1951 machte China und Bhutan überhaupt erst zu direkten Nachbarstaaten. Im Gegensatz zum benachbarten Tibet unterstand Bhutan in seiner Vergangenheit weder der Oberherrschaft Chinas noch der des ehemaligen britischen Raj in Indien. Zudem erscheint das Gebiet nicht einmal auf den Karten, die die KPCh 2014 anfertigte, als Peking seinen bis dato ehrgeizigsten Gebietsanspruch erhob, indem es den nordöstlichen indischen Bundesstaat Arunachal Pradesh kurzerhand in „Südtibet“ umtaufte.

 

Hohe Einsätze auf hohem Terrain

Doch nicht nur für Bhutan steht nach den Forderungen der KPCh die eigene territoriale Souveränität auf Messers Schneide; auch für Indien steht deutlich mehr als der Verlust eines treuen Verbündeten in der Region auf dem Spiel. In diesem Zusammenhang bieten sich zwei Haupterklärungsansätze für Chinas jüngsten Gebietsanspruch, die allesamt ernstzunehmende Implikationen für Indiens Stabilität und Sicherheitslage mit sich bringen.

Zunächst einmal könnte Peking das „Sakteng-Schutzgebiet“ einzig und allein aufgrund seines hohen strategischen Wertes vis-à-vis Neu-Delhi ins Auge gefasst haben. Dabei ist die politische Geographie des in Frage stehenden Gebietes hervorzuheben: Die strategische Bedeutung des „Sakteng-Naturparks“ liegt in seiner Nähe zu Arunachal Pradesh, wo China etwa 90.000 Quadratkilometer indisches Territorium für sich reklamiert.

Die indische Stadt Tawang, der Hauptzankapfel zwischen Indien und China im östlichen Sektor ihres Grenzdisputes, liegt im Nordosten des Naturschutzgebietes. Tawang besitzt eine bedeutende Stellung in der Geschichte des tibetischen Buddhismus. Das Tawang-Kloster, der Geburtsort des Sechsten Dalai Lama, ist nach dem Potala-Palast in Lhasa das größte tibetisch-buddhistische Kloster der Welt und verfügt über den wohl umfangreichsten Fundus an tibetisch-buddhistischen Manuskripten. Die Vorherrschaft über dieses Kloster zu erlangen, ist von zentraler Wichtigkeit in Pekings Bestreben, die eigene Position über Tibet zu festigen.

Zudem ist die Kontrolle über Arunachal Pradesh im Allgemeinen und Tawang im Besonderen entscheidend für Indiens Verteidigung seiner sieben nordöstlichen Regionen, den so genannten sieben Schwesterstaaten. Da Indien Arunachal Pradesh vollständig verwaltet, würde der „Sakteng-Naturpark“, selbst wenn Bhutan es einseitig abträte, einer Enklave gleichkommen, die keine unmittelbare Grenze zu Chinas Autonomem Gebiet Tibet aufweisen würde. Es bedarf keiner großen Vorstellungskraft, um sich Chinas nächsten Schachzug auszumalen.

Ein alternatives Szenario sähe Chinas Intention bezüglich seines expansionistischen neuen Anspruchs vor allem darin, Thimphu zu Zugeständnissen in anderen umstrittenen Gebieten, wie dem Doklam-Plateau, zu für China vorteilhaften Modalitäten zu nötigen. Peking schielt seit Jahren auf das Plateau auf über 4000 Metern Höhe. Dies wurde insbesondere in dem 72 Tage andauernden Grenzkonflikt im Jahr 2017 deutlich, als indische Truppen ihre chinesischen Kontrahenten daran hinderten, eine Straße durch dieses bhutanische Gebiet zu bauen und die chinesischen Streitkräfte im Namen ihres kleinen Verbündeten zurückwiesen. Bhutan hatte dem indischen Militär den Zutritt ins eigene Land gestattet, um den Straßenbau zu unterbinden.

Über Monate hinweg standen sich die Truppen der beiden Großmächte gegenüber, wobei es keine Meldungen über Todesopfer zu beklagen gab. Obwohl sich beide Nationen nach bilateralen Gesprächen wieder aus der Region zurückzogen, zeigte sich, wie rasch Grenzstreitigkeiten im Himalaya zu eskalieren drohen. Nachfolgende Satellitenbilder belegten ferner, dass die chinesische Armee unweit des Brennpunkts in Doklam weiterhin ein ausgedehntes Netz von Militäranlagen, darunter auch Hubschrauberlandeplätze, errichtet, womit deutlich wird, dass Chinas Gebietsansprüche in der Region längst nicht erloschen sind.

Das Plateau ist von immenser strategischer Bedeutung für Delhi, da es den Siliguri-Korridor überblickt - einen schmalen Streifen Land, der nur 22 Kilometer breit ist und im Volksmund als „Hühnerhals“ betitelt wird. Dieser Streifen verbindet die nordöstlichen Bundesstaaten Indiens mit dem Rest des Landes. Das Alptraumszenario, das sich zahlreiche indische Analysten und Politiker für den Fall eines Großmachtkonflikts vorstellen, wäre die Einnahme Doklams durch Peking als Aufmarschgebiet, durch das die chinesische Volksbefreiungsarmee den Siliguri-Korridor erobern würde, womit Assam und die sechs umliegenden Schwesterstaaten und damit 55 Millionen Inder effektiv vom Rest Indiens abgeschnitten würden. Eine solche Katastrophe, die Indiens territoriale Integrität so fatal gefährdet, wäre ein Szenario, das kein Premierminister und keine Regierung Indiens politisch überleben würden.

Eingezwängt zwischen Giganten (Länderbericht, Karte) Ankur / Wikimedia Commons / CC BY-SA 3.0
„Chicken’s Neck“-Karte

Es steht also einiges auf dem Spiel, wobei der Umgang Indiens und Bhutans mit dieser Grenzkrise auf Jahre hinaus zum bedeutsamsten Parameter der Machtverhältnisse in der Himalaja-Region und wohl auch dem Indo-Pazifik avancieren dürfte.

 

Die Handfläche Chinas und ihre fünf Finger

Bereits in den 1930er Jahren erkannten sowohl chinesische Nationalisten als auch kommunistische Kräfte die Bedeutung von Bhutan, Ladakh, Nepal, Arunachal Pradesh und Sikkim für die Sicherung der strategischen Vorherrschaft Chinas über das gesamte Himalaya-Gebirge. Mao Zedong beschrieb Tibet einst als die Handfläche Chinas, von denen die oben skizzierten Gebiete die fünf Finger bilden. Diese fünf Himalaya-Regionen überblicken allesamt Indien. Gegenwärtig nimmt die militärische Aktivität der KPCh in all diesen Regionen stetig zu, wobei die Absicht besteht, entweder den indischen Einfluss oder das indische Territorium in der Region zu reduzieren. Darüber hinaus tragen die Präsenz chinesischer U-Boote im Indischen Ozean und der wachsende Einfluss Pekings durch die sogenannte „Belt and Road Initiative“ in Pakistan, Nepal, Sri Lanka und Myanmar zu einem zunehmend stärker werdenden Gefühl der Einkesselung durch den politischen Kontrahenten in Neu-Delhi bei.

Während der Subkontinent durch die COVID-19-Pandemie und eine Welle von Protesten gegen eine Reihe seiner innenpolitischen Maßnahmen abgelenkt ist, strebt Peking danach, seinen Zugriff auf Tibet zu verstärken und den Status quo in Bhutan und im Himalaya stufenweise zu modifizieren. China setzt hierbei auf eine Strategie, Indien taktische Verluste zuzufügen und es wegen kleiner irredentistischer Handlungen zu einer Reaktion herauszufordern, die, sofern diese ausbleiben, dazu dient, das Vertrauen Thimphus in Indien als Sicherheitsgarant zu untergraben. Dies drängt Neu-Delhi sowohl in seinen eigenen Hoheitsgebieten als auch in seiner unmittelbaren Nachbarschaft in die Defensive, während Peking die Kakophonie der eigenen Gebietsansprüche aufrechterhält, ohne sich jedoch auf einen offenen Krieg mit dem Subkontinent einzulassen.

Darüber hinaus hält die KPCh das Alptraumszenario vieler indischer Politikverantwortlicher am Leben - nämlich die Eroberung des „Hühnerhalses.“ In dieser Vorstellung würde China die Legitimität Neu-Delhis in den Augen der Nachbarstaaten schwächen, während Indien sich in Südasien stets in der Defensive wiederfindet und Berggipfel und Täler nach Anzeichen eines Volksbefreiungsarmee-Angriffs absucht. Schließlich würde Peking größere Teile der eigenen militärischen und politischen Anstrengungen auf den westlichen Pazifik und seinen Systemgegner, die Vereinigten Staaten, verlagern.

 

„Verteidiger des heiligen Landes und
​​​​​​​Erbauer glücklicher Häuser“

Zudem liefert China in Bhutan der Welt ein gutes Anschauungsbeispiel dafür, wie Landraub im 21. Jahrhundert konkret aussieht. Über mehrere Jahre hinweg hat Peking nun versucht, seine tibetische Grenze zu befestigen, indem es schleichend eine Reihe von Straßen, Dörfern und Sicherheitseinrichtungen auf Land errichtete, das Bhutan gehört. Die Bewohner dieser Dörfer, die die KPCh als „Verteidiger des heiligen Landes und Erbauer glücklicher Häuser“ bezeichnet, dienen der Volksbefreiungsarmee als zusätzliche Augen und Ohren in Gebieten, in denen sich Chinas Territorialansprüche mit denen Bhutans und Indiens überschneiden.

Das chinesische Eindringen in bhutanisches Territorium wird kontinuierlich fortgesetzt, ebenso wie der Bau von Straßen durch China in den strittigen Gebieten. Dies geschieht, obwohl sich beide Seiten unter Klausel 3 des Vertrags von 1998 zur „Aufrechterhaltung von Frieden und Ruhe in den bhutanisch-chinesischen Grenzgebieten“ darauf geeinigt haben, den Status quo in diesen Grenzregionen zu gewährleisten. In der politischen Arena zieht Peking die Demarkationsgespräche mit Bhutan geflissentlich in die Länge, während die KPCh ihre eigene Verhandlungslage vor Ort durch die stetige Inbesitznahme von Kleinstflächen bhutanischen Bodens optimiert.

Indem Peking seinem kleinen Nachbarn im Himalaya still und beharrlich kleine Landstücke abnimmt, demonstriert die KPCh zudem die bevorzugte Taktik vereinzelter Länder, die das internationale Ordnungssystem zu ihrer Gunst verändern wollen, aber nicht bereit sind, dieses frontal zu konfrontieren. Politische Experten haben solche Aktionen als sogenannte „Salami-Taktik“ beschrieben, bei der die KPCh seine territorialen Gegenspieler testet, indem es kleine Stücke ihres Landes einnimmt und sich immer dann zurückzieht, wenn dies auf erheblichen Widerstand stößt.

Durch solche konsequente und wiederholte Übergriffe ist China in der Lage, Rivalen in eine Art Geiselhaft Geiselhaft zu nehmen, während sich das internationale Vokabular in Bezug auf Grenzgebiete zu dem von umstrittenen Territorien verändert, so auch im Falle des „Sakteng-Nationalparks.“ Die Vereinten Nationen und andere interstaatliche Institutionen beginnen daraufhin häufig als selbstverständlich anzunehmen, dass China einen legitimen Gebietsanspruch erhebt, selbst in Fällen, in denen kein rechtlicher oder historischer Präzedenzfall dafür existiert - wie etwa in Bhutan.

Was genau Bhutans Regierung bereit ist zu ertragen, ist derzeit unklar. Allein diese Tatsache dient möglicherweise bereits jetzt als Indiz für den Erfolg von Chinas Strategie. Nachdem die bhutanische Regierung im Juni 2017 eine Presseerklärung zum Grenzkonflikt abgegeben hatte, hüllte sie sich meist in eisiges Schweigen.

In einem globalen Kontext gesehen, deuten die zunehmenden Expansionsbestrebungen Chinas durch Grauzonenaktivitäten darauf hin, dass die Furcht der KPCh vor den Konsequenzen solcher aggressiven Handlungen allmählich zu schwinden beginnt. Dies ist insofern ein besorgniserregender Prozess, da er eine internationale Weltordnung offenbart, die an den Rändern auszufransen droht. Nur ein entschiedenes und pro-aktives Eingreifen der internationalen Ländergemeinschaft wäre wohl in der Lage der „Salami-Taktik“ Chinas, das weltweit das einzige Land darstellt, welches mit jedem seiner Nachbarn territoriale Dispute austrägt, einen Riegel vorzuschieben.

 

Indien und Bhutan: Eine „besondere Beziehung” unter Druck

Bhutans religiöse, kulturelle und historische Bindungen zu Indien reichen viele Jahrhunderte zurück. Für viele Bhutaner ist Indien das Heimatland Buddhas und damit die Quelle seines spirituellen Erbes, von dem die bhutanische Identität zehrt. Auf der Grundlage historischer Aufzeichnungen und pragmatischer sicherheits-, wirtschafts- und politikbezogenen nationalen Interessen, spiegeln die Beziehungen zwischen Bhutan und Indien treffend die Worte von Präsident John F. Kennedy wider, der bei einem Besuch in Kanada einst sagte: „Die Geographie hat uns zu Nachbarn gemacht, die Geschichte hat uns zu Freunden gemacht, die Wirtschaft hat uns zu Partnern gemacht, und die Notwendigkeit hat uns zu Verbündeten gemacht.“

Aus wirtschaftlicher Sicht haben Bhutan und Indien eine vorteilhafte Partnerschaft aufgebaut, bei der die bilaterale Wasserkraft-Kooperation den Kern dieser Zusammenarbeit bildet. Hierbei verwendet Bhutan Indiens Entwicklungshilfe, um seine Wasserkraftressourcen mit der monetären und technischen Unterstützung indischer Unternehmen zu erschließen und auszubauen. Der Löwenanteil des erzeugten Stroms wird an Indien verkauft, das für seinen hohen Energiekonsum zwingend auf den Import von Energieressourcen angewiesen ist. Für das „Land des Drachendonners“ hingegen ist der Verkauf der Wasserkraft weiterhin ein zentraler Motor für die sozioökonomische Entwicklung der eigenen Nation.

Zudem unterstützte Neu-Delhi die Entscheidung der bhutanischen Monarchie, 2008 auf ein demokratisches System umzustellen, indem Indien elektronische Wahlmaschinen zur Verfügung stellte und auch Wahlbeobachter zu den Probewahlen im Jahr 2007 entsandte. Unter Modis Regierung und seiner „Neighbourhood First“-Politik schienen die besonderen Beziehungen zwischen den beiden Alliierten sogar noch intensiver werden zu können, als Modi überraschenderweise Bhutan für seinen ersten Auslandsbesuch nach seinem Amtsantritt im Jahr 2014 auswählte und damit ein starkes Zeichen setzte.

Allerdings ist längst nicht alles so rosig, wie es auf den ersten Blick scheint. Trotz Indiens bester Bemühungen und großer Investitionen in die Wasserkraft bleibt Bhutan relativ arm mit einer beträchtlichen Jugendarbeitslosenquote von etwa 10 %, und genau darin erkennt China seine Chance. So scheinen manche bhutanische Regierungsvertreter Sorgen zu hegen, wirtschaftlich zu stark von Indien abzuhängen, wobei man befürchtet, dass die eigenen natürlichen Ressourcen, insbesondere Wasser, im puren Eigeninteresse Indiens ausgebeutet werden. Es überrascht daher nicht, dass die Verlockung vieler im Land besteht, die persönlichen Wirtschaftsbeziehungen zu diversifizieren und einen begrenzten Strom chinesischer Investitionen zuzulassen, der die indischen Direktinvestitionen ergänzt. Dies könnte auch insgeheim von zahlreichen Regierungsvertretern Bhutans ersehnt werden, nicht zuletzt angesichts ihres Bestrebens, Bhutan bis 2023 von der Liste der am wenigsten entwickelten Länder der Vereinten Nationen zu streichen.

Für Neu-Delhi wäre jedoch jede Ausweitung des wirtschaftlichen Einwirkens Pekings in Thimphu schlichtweg inakzeptabel, da dies als Verlust von Indiens Einfluss in einer sehr heiklen Region zugunsten der KPCh verstanden werden könnte. Bhutan dient Indien als Pufferstaat, der entlang seiner umstrittenen Grenze strategische Tiefe gegen China bietet. Eine Tatsache, die die Zentrale Militärkommission in Peking nur allzu gut begriffen hat.

 

Chinas Bhutan-Politik: Mit Zuckerbrot und Peitsche

Anhand der Schwachstellen, die China in der „besonderen Beziehung“ zwischen Bhutan und Indien ausgemacht hat, versuchte die KPCh nun seit Jahren, Thimphu zu umgarnen. So bot Peking 2017 ein wirtschaftliches Hilfspaket in Höhe von 10 Milliarden Dollar an, welches Kapitalinvestitionen und zinsgünstige Kredite im Austausch für Grenzkonzessionen vorsah. Das bhutanische Bruttoinlandsprodukt für das selbige Jahr lag ganze 7,5 Milliarden Dollar unter dem angebotenen Geldbetrag. Darüber hinaus hat Peking in der jüngsten Vergangenheit mehrfach angeboten, auf seine Ansprüche auf circa 500 Quadratkilometer Territorium im Norden Bhutans zu verzichten, falls Thimphu etwa 250 Quadratkilometer Staatsgebiet im Westen, einschließlich Doklam, abtritt.

Jedoch zeigte sich Thimphu bislang standhaft an der Seite Indiens und schlug jegliche Geldofferten Chinas aus, womit sich das buddhistische Königreich feinfühlig für Indiens Sicherheitsbedenken zeigte und damit weiterhin Neu-Delhis verlässlicher Verbündeter blieb.

Bhutans unbeugsame Haltung wurde mittlerweile auch seitens der KPCh zur Kenntnis genommen und veranlasste diese zu einem Strategiewechsel. Pekings Erhöhung des Drucks auf Bhutan, insbesondere der jüngste Gebietsanspruch auf das „Sakteng-Schutzgebiet“, spricht für ein solches Umdenken. Chinas neue Strategie scheint darin zu bestehen, Thimphu mit Transgressionen und Gebietsbesetzungen zu schikanieren, um das „Land des Drachendonners“ dahingehend zu überzeugen, das monetäre oder territoriale Angebot wahrzunehmen. Ein bedeutender Aspekt dieser Taktik ist es, bei der breiten Bevölkerung Bhutans den Eindruck zu erwecken, dass die eigene Regierung nur aufgrund der „eigennützigen“ Sicherheitsbedenken Indiens bezüglich Doklam nicht in der Lage ist, ihre eigenen Interessen durch einen Deal mit Peking zu schützen. Dies, so das Endziel, würde Bhutan dazu bewegen, Chinas Angebote in Betracht zu ziehen und hierfür diplomatischen Handlungsspielraum in Thimphu schaffen.

Hierbei ist Neu-Delhis Reaktion auf diesen Strategiewechsel Pekings von entscheidender Bedeutung. Um die bilateralen Beziehungen in sicherere Fahrwasser zu steuern und Chinas Spaltungspolitik keinerlei Entfaltungsraum zu geben, bedarf es konkreter Anstrengungen, um wirtschaftliche und anderweitige Sorgen und Klagen seitens Bhutans zu adressieren. Positive Anzeichen dafür, dass dies gelingen könnte, sind vorhanden und lassen sich beispielsweise aus einer starken Zunahme kooperativer Maßnahmen zwischen den beiden Ländern ableiten. Ein Beispiel ist die Einweihung der von der Indischen

Weltraumforschungsorganisation errichteten Bodenstation, mit der man es Bhutan ermöglicht, den südasiatischen Satelliten für Kommunikation, Katastrophenmanagement und auch Telemedizin und Telebildung zu nutzen. Indien wird die Einflussnahme Chinas auf Bhutan voraussichtlich nur durch die Umsetzung weiterer handfester und bilateral nützlicher Projekte wirksam eindämmen können.

 

Fazit

Die Himalaya-Region hat sich in den letzten Jahren zunehmend zu einem Pulverfass entwickelt, in dem ein kleiner Funke zu einer massiven Eskalation zwischen den beiden regionalen Supermächten ausarten kann. Erschreckendes Beispiel hierfür waren die tödlichen Zusammenstöße in Ladakh im vergangenen Jahr, als nach wochenlangen Scharmützeln 20 indische Soldaten eine unbekannte Anzahl chinesischer Soldaten im Hand-an-Hand-Gefecht ums Leben kamen.

Angesichts der zunehmend aggressiver werdenden Forcierung der chinesischen Gebietsansprüche, untermauert durch die erhöhten Militärausgaben der KPCh, dürften die Spannungen in der Region in naher Zukunft kaum abebben. Die Aussicht, dass Neu-Delhi diese Spannungsherde entschärft, ist auch deshalb höchst unwahrscheinlich, da Chinas territoriale Übergriffe auf indisches und bhutanisches Territorium die territoriale Souveränität und Sicherheit Indiens in einem seitdem indisch-chinesischen Krieg von 1967 nie dagewesenen Umfang zu gefährden drohen.

Peking scheint seine Lehren aus seiner Strategie im Südchinesischen Meer gezogen zu haben, wo nur wenige Nationen willens sind, den chinesischen Gebietsansprüchen die Stirn zu bieten, indem die KPCh ihre erfolgreichen Grauzoneaktivitäten auf die Himalaya-Region ausgedehnt hat. Das einzige Land in der Region, welches sich trotz seiner militärischen, technologischen und infrastrukturellen Unterlegenheit gegenüber China zu behaupten versucht, ist Indien, das bereit zu sein scheint, Pekings Hegemoniestreben auch mit militärischen Mitteln zu trotzen.

Den Grauzonenaktivitäten Chinas ein Ende zu setzen, liegt hierbei nicht nur im nationalen Interesse Bhutans und Indiens, sondern auch im Sinne der internationalen Staatengemeinschaft. Pekings zunehmende Infragestellung der Konzeption staatlicher Souveränität auf internationaler Ebene ist in der Tat für alle demokratischen Nationen weltweit Anlass zur Sorge. Hiermit stellt Peking ein System in Frage, das nach dem Zweiten Weltkrieg eingerichtet wurde, um vor allem jene Länder zu schützen, die militärisch zu keiner Eigenverteidigung fähig sind.

Im schlimmsten Fall könnte Bhutan dem Kräftemessen der beiden Kolosse im Himalaya als eine Art Kollateralschaden zum Opfer fallen. Ein solches Szenario würde nicht nur den jungen demokratischen Kurs im letzten verbliebenen buddhistischen Königreich der Welt zurückwerfen, sondern wohl auch mehrere Nägel in den Sarg der Hoffnungen auf eine regelbasierte Ordnung im indo-pazifischen Raum schlagen.

Es bleibt zu hoffen, dass die Worte des ersten indischen Premierministers Nehru über die indischen und bhutanischen Beziehungen nicht auf taube Ohren fallen. So sagte Nehru einst: „Einige mögen denken, dass Indien ein großes und mächtiges Land und Bhutan ein kleines Land ist und ersteres vielleicht Druck auf Bhutan ausüben möchte. Deshalb ist es wichtig, dass ich Ihnen klarmache, dass unser einziger Wunsch ist, dass Sie ein unabhängiges Land bleiben, Ihre eigene Lebensweise wählen und den Weg des Fortschritts nach Ihrem Willen gehen. Zugleich sollten wir beide mit gegenseitigem Wohlwollen leben. Wir sind Mitglieder der gleichen Himalaya-Familie und sollten als freundliche Nachbarn leben, die sich gegenseitig helfen. Die Freiheit sowohl von Bhutan als auch von Indien sollte geschützt werden, damit niemand von außen Schaden anrichten kann.“

Dass eine solche indisch-bhutanische Beziehung in naher Zukunft nicht zur Utopie verkommt, liegt nun in den Händen der indischen Politiker und in der Tat auch an dem Willen gleichgesinnter demokratischer Länder rund um den Globus, den nötigen internationalen Druck auf China zu erzeugen. Dabei steht eine Menge auf dem Spiel – einschließlich unserer regelbasierten internationalen Ordnung.

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