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Konstantin Rintelmann

Länderberichte

Die Protestkultur im Libanon

von Dr. Malte Gaier, Valentina von Finckenstein

Libanons Sonderweg seit dem Ausbruch des Arabischen Frühlings

Während sich ab Ende 2010 in seinen Nachbarländern der Reihe nach Massenproteste anbahnten, die zum Teil auch schnell eine gewaltsame Dimension annahmen, blieb es im Libanon verhältnismäßig ruhig. Über das Jahr 2011 hinweg kam es lediglich vereinzelt zu kleineren Protesten, die in ihrem Versuch, auf der Grundlage einer nationalen, konfessionsübergreifenden Kampagne politischen Druck gegenüber der Regierung aufzubauen, eher homogen in Bildungsstand und Herkunft blieben. Zu einer landesweiten und inklusiven Massenmobilisierung sollte es im Libanon erst 2019 kommen.

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Rahmenbedingungen für zivilgesellschaftlichen Protest

Um zu verstehen, weshalb der Arabischen Frühlings 2011 nicht unmittelbar auf den Libanon übergriff, hilft ein Blick auf die noch junge, gewaltsame Geschichte des Landes. Zum einen hatte man bereits 2005 die bis heute größten landesweiten Proteste erlebt, deren Bilder als „Zedernrevolution“ um die Welt gingen. Mit dem Abzug der syrischen Truppen, wie ihn die Bürger auf der Straße forderten, und dem Rücktritt der damaligen pro-syrischen Regierung hatten die Proteste in dieser Größe und Geschlossenheit alle politischen Ziele der konfessions- und lagerübergreifenden politischen Bewegung der Allianz „14. März“ auf Kosten des Gegenbündnisses „8. März“ erfüllt. Zur Folge hatte dies allerdings, dass die libanesische Gesellschaft sich wie seitdem nie wieder polarisierte. Zum anderen waren die Erinnerungen an den Bürgerkrieg (1975-90) noch zu frisch. Insbesondere die ältere Generation war sich bewusst, wie leicht sich konfessionelle Spannungen gewaltsam entladen können und wie instabil das soziale Gefüge ist. Im Libanon hatte man nach dem Krieg zudem mit dem Taif-Abkommen 1989 ein sorgfältig ausgeklügeltes System der Machtverteilung geschaffen, in dem die wichtigsten ethnisch-konfessionellen Gruppen repräsentiert waren. Ebenso verdeutlicht der Blick auf die wirtschaftliche Situation im Jahr 2011, dass der Libanon im Vergleich zur Region deutlich höhere Pro-Kopf-Einkommen, Beschäftigungszahlen und Konsumindizes aufwies. Dementsprechend fanden sozioökonomische Forderungen in den Protesten noch nicht die Priorität, die sie ab Herbst 2019 erhalten sollten, als sich das Land bereits inmitten einer Wirtschafts-, Finanz- und Währungskrise befand. Und schließlich ist es gerade das libanesische demokratische, auf Gewaltenteilung fußende System, welches – trotz seiner Labilität und Aushöhlung durch Korruption und Misswirtschaft - dem Autoritarismus der Region zu Beginn des Arabischen Frühlings ein vergleichsweise pluralistisches und liberales System entgegensetzte.

Die kollektive politische Mobilisierung gestaltet sich im Libanon ungleich schwieriger, denn der politische Raum wurde über Jahrzehnte hinweg fest von Parteien und deren karitativen oder paramilitärischen Organisationen eingenommen und verteidigt. Dieses Klientelsystem zementierte ein tiefes Loyalitäts- und Abhängigkeitsverhältnis zwischen Wähler und politisch-konfessioneller Partei. Selbst traditionelle Akteure der Straße – insbesondere Gewerkschaften, die kommunistische Partei und religiös-soziale Bewegungen wie etwa die schiitische „Bewegung der Benachteiligten“ in den 1970er Jahren - haben daher nur vereinzelt in der libanesischen Geschichte langfristige und breite Protestbewegungen initiieren können.

 

Müllkrise und Wahlen

Das Staatsversagen im Libanon, das heute traurige Berühmtheit erlangt hat, wurde der Bevölkerung in den Jahren nach dem Arabischen Frühling immer deutlicher vor Augen geführt. Grundlegende staatliche Dienstleistungen konnten nicht erbracht werden, der öffentliche Sektor investierte nicht in den Ausbau der desaströsen Infrastruktur, die Wirtschaft zeigte Risse und die Umwelt litt stark unter der fehlenden Regulierung von Industrie und Verkehr. Symbolisch für diesen Niedergang war die Müllkrise in Beirut im Jahre 2015, als sich in den Straßen der Hauptstadt Berge von Abfall türmten. Als Reaktion bildet sich schnell die heterogene Protestbewegung "You Stink", die zum Dreh- und Angelpunkt der Demonstrationen eines überwiegend urbanen Milieus wurde. Sie protestierte nicht nur gegen die Verschmutzung der Stadt und infrastrukturelle Missstände, sondern auch gegen das Versagen der von Saad Hariri geführten Regierung. Auch wenn die Protestbewegungen ihre Forderungen nicht durchsetzen konnten, brachten sie zum ersten Mal eine gesellschaftliche Dynamik hervor, die sich gegen das korrupte, konfessionelle System wandte.

Die Proteste der Jahre 2015/16 stellten einen wichtigen Schritt für die Artikulation zivilgesellschaftlicher Forderungen fernab der Rhetorik etablierter politischer Parteien dar und trugen zur Herausbildung und Vernetzung neuer oppositioneller Bewegungen bei. Die sozialen Medien spielten bei der Mobilisierung erstmals eine verstärkte Rolle und wurden in den folgenden Protesten immer wichtiger – nicht nur, da sie einen für jedermann nutzbaren Zugang zur politischen Teilhabe ermöglichten. Durch die digitale Entgrenzung politischen Aktivismus hofften die Protestgruppen, zwei wesentliche strategische Nachteile gegenüber etablierten Parteien wettmachen zu können: Zum einen, die eigenen Unterstützer und Wähler ohne landesweite Parteistrukturen erreichen und einbinden zu können, zum anderen mit begrenzten Mitteln Kampagnen und Medienpräsenz zu finanzieren. Zahlreiche Gruppen, die sich während der Müllkrise und zu den Beiruter Kommunalwahlen 2016 formierten, konnten erste grundlegende programmatische Erfahrungen sammeln und mit ihren Listen nahezu 40% der Wählerstimmen gewinnen.   

Große Ernüchterung machte sich breit, als in den ersten Parlamentswahlen in neun Jahren Stagnation im Mai 2018 trotz wachsender sozioökonomischer Unzufriedenheit die etablierten Parteien wieder als Sieger aus den Wahlen hervorgingen. Die neuen unabhängigen Listen der Zivilgesellschaft konnten letztlich nur einen von 128 Abgeordnetensitzen erringen. Dieses ernüchternde Ergebnis war unter anderem das Resultat einer starken Politikverdrossenheit, die insbesondere bei der jungen Generation vorzufinden war und sich am deutlichsten in der niedrigen Wahlbeteiligung von Erstwählern niederschlug. Wieder zeigte sich, wie stark die Etablierung neuer politischer Kräfte trotz des Angebots politischer Alternativen durch eine Kombination aus apolitischer Resignation und Bindung der Wähler an ihre Parteien erschwert wurde.

 

Die Protestbewegung seit dem 17. Oktober 2019

Umso bemerkenswerter waren die Proteste, die sich im Oktober 2019 entfachten. Nach etlichen Jahren der Misswirtschaft und Korruption vereinten sich zum ersten Mal landesweit unterschiedliche Konfessionen, Generationen und Schichten im Slogan "Alle bedeutet alle", der dazu aufrief, die gesamte politische Elite abzusetzen. Bilder von Politikern wurden selbst in deren Hochburgen zerrissen. In den Protesten griff man auf eine stark national aufgeladene Symbolik zurück, in der Parteisymbolik fast gänzlich durch Symbole des libanesischen Staates ersetzt wurde. Die Demonstrationen liefen überwiegend friedlich ab und entgleisten nur gelegentlich in Form gewaltsamer Zusammenstöße. Politische Parteien versuchten zum Teil, konfessionelle Spannungen anzuheizen und zu instrumentalisieren, allerdings mit begrenztem Erfolg. In den ersten Monaten waren die Demonstrationen nahezu festlich und manifestierten einen neuen politischen Enthusiasmus. In Zelten auf dem Märtyrerplatz wurden Lösungen für Politik und Wirtschaft diskutiert, und die Straßen füllten sich mit der Überzeugung, dass ein Wandel zum Greifen nah sei. Die Politisierung der Gesellschaft erreichte ein neues Hoch und erfasste insbesondere junge Libanesen, die zu den Hauptträgern der sogenannten „Thawra“ (Revolution) wurden.

Die Forderungen der Demonstranten zielten primär auf den Rücktritt der Regierung, Neuwahlen, und politische sowie wirtschaftliche Reformen ab. Darüber hinaus stellten sie das System als Ganzes in Frage. Der Prozess, sich zu strukturieren und zu organisieren, Forderungen zu priorisieren und eine Repräsentation zu wählen, verlief bislang jedoch äußerst schleppend. Gerade mit Blick auf die für Mai 2022 angesetzten Parlamentswahlen scheint dies der aus rund 150 Gruppen bestehenden Bewegung jedoch zunehmend zum Verhängnis zu werden.

 

Politische Stagnation

Nach monatelangem Reformstillstand, der sich vertiefenden Krise im Land und den desaströsen Folgen der Corona-Pandemieeinschränkungen für die Wirtschaft erschütterte die Hafen-Explosion in Beirut vom 4. August 2020 auch politisch den Libanon. Als bekannt wurde, dass große Mengen an hochexplosivem Ammoniumnitrat über Jahre hinweg neben einem der belebtesten Viertel Beiruts ungeschützt gelagert und trotz mehrfacher Sicherheitshinweise nicht sichergestellt worden waren, offenbarte dies das vielleicht größte Zeugnis von Staatsversagen. Es folgten für eine kurze Zeit gewaltsame Kundgebungen mit einer radikalisierten Rhetorik der Demonstranten. Die Regierung Diab trat infolgedessen ab und absorbierte damit einen Teil der Wut der Bevölkerung, ohne jedoch den Weg für nennenswerte Veränderungen zu bereiten. Der folgende Rücktritt von Diabs designiertem Nachfolger Mustafa Adib steigerte die Desillusionierung vieler Libanesen noch weiter: Hatten große Teile der Protestbewegungen den Rücktritt von Premierminister Saad Hariri im November 2019 noch als große Errungenschaft der Thawra gefeiert, sieht man sich im Libanon ein Jahr später mit der zu erwartenden Rückkehr Hariris in das Amt des Regierungschefs wieder am Ausgangspunkt der Proteste.

Die Libanesen, die privilegiert genug sind, das Land zu verlassen, suchen inzwischen ihr Glück außerhalb des Libanons. Das Land befindet sich in einem gefährlichen Vakuum, in dem Verschuldung, Währungskrise, Inflation und soziale Not scheinbar unkontrolliert anschwillt, ohne dass von politischer Seite entschiedene Gegenmaßnahmen eingeleitet werden. Als Folge entsteht ein massiver Brain Drain, der gerade junge und gut ausgebildete Libanesen ins Ausland zieht. Diese Abwanderung wird nicht nur weitreichende gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Folgen mit sich bringen, auch die Protestbewegung wird dadurch weiter an Stoßkraft verlieren.

 

Ausblick

Nichtsdestotrotz kann die Protestbewegung im Libanon erste Errungenschaften vorweisen. Dazu gehört ein entstehendes Netzwerk an oppositionellen Gruppierungen, die aus früheren Fehlern gelernt haben und im Begriff sind, sich besser zu organisieren. Auch eine konfessionsübergreifende Haltung hat sich in Teilen der Bevölkerung verfestigt, die eine Ablehnung des bestehenden und als gescheitert angesehenen politischen Systems verinnerlicht hat. In den kommenden Jahren und spätestens anlässlich der im Mai 2022 angesetzten Parlamentswahlen wird sich zeigen, welche dieser Gruppen einen konkreten politischen Weg über Wahlen als künftige parlamentarische Kraft einschlagen, sich hinreichend organisieren, Ziele ausformulieren und mit Geduld und Pragmatismus an Lösungen arbeiten werden.

Man sollte die Genese der libanesischen Protestbewegung als langfristigen Prozess mit Rückschlägen betrachten, nicht als gescheitertes Aufbegehren. Klientelismus, soziale Strukturen und politische Loyalitäten haben sich über Jahrzehnte tief im Libanon verfestigt. Die unerlässlichen Reformen eines politisch und wirtschaftlich gescheiterten Systems können nur in einem langfristigen, konsensbasierten Prozess durchgesetzt werden. Die internationale Gemeinschaft hat zuletzt zu Recht nach dem Explosionsunglück im August den Reformdruck gegenüber der Regierung aufrechterhalten. Während internationale Not- und Soforthilfe unmittelbar nach der Katastrophe von Beirut aktiviert wurde, sind weitere finanzielle Hilfen nach wie vor an seit Jahren angemahnte Reformschritte gekoppelt. Ein möglicher libanesischer politischer und sozialer Transformationsprozess würde unter diesen krisengeprägten Vorzeichen, durch systemische Reformimmunität als falsche Antwort auf den sich abzeichnenden Kollaps des Landes um Jahre zurückgeworfen und erheblich erschwert.

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