Länderberichte
1. Die Marokkaner bleiben den Wahlurnen fern
Trotz zahlreicher mutiger Reformen und Modernisierungsinitiativen in den letzten Jahren sind Armut, Arbeitslosigkeit und Analphabetismus nach wie vor die großen Probleme des nordafrikanischen Landes. Für die meisten Bürger lagen daher die Parlamentswahlen auf der Prioritätenliste deutlich hinter den drückenden Alltags-sorgen.
Mit einer Wahlbeteiligung von 37% haben sich die Befürchtungen einer massiven Enthaltung bestätigt. In den großen Städten (insbesondere im Großraum Casablanca) lag die Zahl der Wähler noch unter dem nationalen Durchschnitt. In vielen städtischen Wahlbüros herrschte am Freitag gähnende Leere. Relativ hoch war auch die Zahl ungültiger Stimmen. Demgegenüber war die Wahlbeteiligung in ländlichen Regionen z.T. deutlich höher. Erfreulich hingegen ist der gute technische Ablauf des Urnengangs, der die Transparenz und Aussagekraft der Wahlen deutlich verbessert hat.
Die Marokkaner haben mit ihrer Wahl-enthaltung ihre Unzufriedenheit mit der politischen Klasse des Landes deutlich gemacht. So haben zahlreiche Korruptionsskandale und Vetternwirtschaft das Image der Parteien beschädigt. Zudem ist der Handlungsspielraum von Parlament und Regierung eng umgrenzt. Die politischen Richtungs- und wichtige Personalentscheidungen werden durch den König getroffen, dem die marokkanische Verfassung weitreichende Prärogativen zubilligt. Das Machtzentrum in Marokko liegt deshalb eindeutig im Königspalast und nicht im Parlament. Auch vor diesem Hintergrund haben viele Wähler am Sinn ihrer Stimmabgabe gezweifelt.
2. Eine zersplitterte Parteienlandschaft
Das marokkanische Wahlsystem kann als regionalisiertes Verhältniswahlrecht bezeichnet werden, d.h. in jedem Wahlkreis kandidieren mehrere Listen. Ein Wahlkreis entsendet demnach nicht nur einen, sondern mehrere Abgeordnete ins Parlament. Daneben existiert eine nationale Liste, die für weibliche Kandidaten reserviert ist. Ein weiteres Merkmal der Wahlen in Marokko ist die große Rolle der Persönlichkeit der Kandidaten. Demgegenüber spielt ihre Parteizugehörigkeit vielfach eine geringere Rolle.
Die Wahlen haben die Zersplitterung der marokkanischen Parteienlandschaft bestätigt. Begünstigt durch das Wahlsystem, konnte sich keine der 33 angetretenen Parteien deutlich absetzen. Der Wahlsieger Istiqlal hat mit 52 Sitzen nur 6 Mandate Vorsprung auf die zweitplazierte moderat-islamistische PJD (46 Sitze), es folgen die Zentrumsparteien MP (41) und RNI (39). Die sozialistische USFP folgt mit 38 Mandaten auf Platz 5 und ist damit der eindeutige Verlierer der Wahlen. Sie verliert ihre Stellung als erste politische Kraft des Königreichs. Die restlichen Sitze im 325 Mandate umfassenden Repräsentantenhaus verteilen sich auf eine Vielzahl kleinerer Parteien.
Das Ergebnis bedeutet zunächst, dass auch die neue Regierung (wie die alte) nur auf der Basis einer Mehrparteienkoalition gebildet werden kann. Dies lässt dem König einen großen Handlungsspielraum bei der Benennung des Premierministers und des Kabinetts, insbesondere bei der Auswahl der Personen für die sog. „Souveränitätsministerien“ (Innen-, Außen- und Religionsministerium). Es ist deshalb sehr wahrscheinlich, dass die aktuelle Regierungskoalition, bestehend aus Istiqlal, USFP, RNI und MP sowie kleineren Parteien, ihre Arbeit fortführen wird. Dafür spricht auch, dass der knappe Wahlsieger Istiqlal mit der USFP und der kleineren PPS in einem „nationalen Bündnis“, der „Koutla“, verbunden ist und die drei Kräfte ein gemeinsames Vorgehen vereinbart hatten.
Ein Fragezeichen bleibt die politische Zukunft der bisherigen grauen Eminenz des Königreichs, Fuad Ali al Himma, der Anfang August völlig überraschend von seiner Funktion als stellv. Innenminister zurückgetreten war. Al Himma kandidierte erfolgreich als Unabhängiger in der armen Region von Ben Guerir nahe Marrakesch, deren Abgeordneter er schon einmal in den neunziger Jahren war.
Überschattet werden die Wahlen von Vorwürfen des Stimmenkaufs. Insbesondere aus den Reihen der PJD wird das enttäuschende Abschneiden ihrer Partei auf diese – früher sehr weit verbreitete - Praxis zurückgeführt. Das marokkanische Innenministerium hat angekündigt, begründeten Vorwürfen nachzugehen.
3. Ein Überraschungssieger: die Istiqlal
Im Gegensatz zu einem von zahlreichen Beobachtern prognostizierten Wahlsieg der PJD konnte sich die konservativ-nationalistische Istiqlal (die „Unabhängigkeitspartei“ ist die älteste und traditionsreichste Partei Marokkos, entstanden während des Befreiungskampfes) die meisten Abgeordneten sichern. Noch ist es zu früh, alle Konsequenzen dieses Überraschungssieges zu übersehen. Jedoch dürfte der Sieg der Istiqlal zumindest die Benennung eines Premierministers aus den Reihen des „Wahlsiegers“ erleichtern, hatte doch der König selbst mehrfach angedeutet, dem Wahlergebnis Rechnung tragen zu wollen. Auch die Istiqlal selbst, hatte stets die Wahl eines „politischen“ Premiers gefordert. Ein Wahlsieg der PJD hätte demgegenüber die Benennung eines politischen Premiers erschwert.
Der Vorsprung der Istiqlal ermöglicht es dem König, aus einer Vielzahl möglicher Kandidaten für das Amt des Premierministers zu wählen. Mit drei jungen „Technokraten“, den bisherigen Ministern für Tourismus (Adil Douiri), Verkehr (Karim Ghellab) und Stadtentwicklung/ Wohnungsbau (Toufiq Hjira) sowie dem Parteivorsitzenden Abbas el Fassi stehen allein vier potentielle Kandidaten aus den Reihen der Istiqlal zur Wahl. Aufgrund der Zersplitterung des Parlaments wird allerdings auch die neue Regierung wie bisher aus einer breiten Koalition hervorgehen müssen. Dies eröffnet dem König – auch mit Blick auf den nur geringen Vorsprung der Istiqlal – weiterhin die Alternative, einen neutralen, technokratischen Premier zu benennen, wie dies auch bereits nach dem letzten Wahlgang 2002 mit der Benennung von Driss Jettou der Fall war.
Bilanz und Perspektiven
- Die Handlungsfreiheit und zentrale Stellung der Monarchie bleiben erhalten. Die zersplitterte Parteienlandschaft gibt dem König eine große Wahlfreiheit bei der Regierungsbildung und damit die Möglichkeit, den Reform- und Modernisierungskurs der letzten Jahre fortzuführen.
- Die PJD erfüllt nicht die Erwartungen (der internationalen Beobachter). Der von vielen Medien im In- und Ausland erwartete Wahlsieg der moderaten Islamisten der PJD ist nicht eingetreten. Hierfür gibt es – neben der bereits angeführten – heterogenen Parteienlandschaft eine Vielzahl von Gründen, u.a. die generelle Enttäuschung der Marokkaner von ihrer politischen Klasse, eine gewisse Skepsis großer Teile der Bevölkerung gegenüber der Politik der PJD, die geringe Verankerung der PJD auf dem Land und die Zersplitterung des „islamistischen Lagers“.
- Die hohe Wahlenthaltung als politische Hypothek: trotz zahlreicher Initiativen zur Erhöhung der Wahlbeteiligung, sind die Marokkanerinnen und Marokkaner den Urnen fern geblieben. Dies bedeutet ein Legitimitätsproblem für die marokkanische Politik.
- Prognose: Fortführung der alten Regierungsmehrheit. Das Wahlergebnis eröffnet die Möglichkeit, die aktuelle Regierungs-koalition, mit einigen personellen Veränderungen, fortzuführen und damit die Kontinuität der Regierungspolitik zu wahren. Für die weitere Modernisierung und Entwicklung des Landes ist dies womöglich nicht die schlechteste Lösung.
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