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„Es ist nicht die Stunde kleingeistiger Eitelkeiten“

Brüssel-Experte Hardy Ostry zu den Chancen und Herausforderungen einer deutschen Frau an der Spitze der EU-Kommission

Am Dienstag stimmen die Europaabgeordneten darüber ab, ob Ursula von der Leyen neue EU-Kommissionspräsidentin wird. Für ihre Wahl braucht die bisherige Bundesverteidigungsministerin 374 Stimmen. Im kas.de-Interview spricht Hardy Ostry, Europabüroleiter der Konrad-Adenauer-Stiftung in Brüssel, über Chancen und Herausforderungen dieses Amtes.

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Herr Ostry, welche Chance hat Frau von der Leyen, Ihrer Einschätzung nach, am Dienstag zur Kommissions-Präsidentin gewählt zu werden?

Nach den Diskussionen der vergangenen Woche würde ich sagen, dass Frau von der Leyen eine gute Chance hat, zur Kommissionspräsidentin gewählt zu werden. Und es wäre auch wichtig, dass alle pro-europäischen Kräfte im Parlament in dieser Stunde der Entscheidung, wo der Rat nahezu einstimmig einen konsensfähigen und - wie ich persönlich finde - sehr guten Vorschlag gemacht hat, sich anschicken, die oft beschworene europäische Handlungsfähigkeit unter Beweis zu stellen, und auch diejenigen, die sonst so gerne das Wort Verantwortung bemühen, eben dieser gerecht werden. Wir alle sind uns des mühsamen und verbesserungsfähigen Weges, der zu dieser Nominierung führte, bewusst. Jetzt sind wir aber in einer anderen Situation: Die Herausforderungen, vor denen Europa steht, erlauben es bei Lichte betrachtet nicht, dass wir uns weiter mit uns selbst beschäftigen. Sollte diese Wahl nicht erfolgreich sein, wird das auf diejenigen zurückfallen, die sie blockiert haben, denn sie würden nicht nur eine Personalie blockieren, sondern Europa massiv schaden. Es ist jetzt nicht die Stunde kleingeistiger Eitelkeiten oder parteitaktischer Überlegungen, das muss sich bei einigen bis Dienstagabend noch gedanklich und bewusstseinstechnisch setzen.


Was würde die Wahl von Frau von der Leyen für Deutschlands Rolle in der EU bedeuten?

Der Kommissionspräsident legt für das Kollegium der Kommissare, dem er vorsteht, die Leitlinien der Politik der nächsten fünf Jahre fest. Insofern kommt ihm eine Richtlinienkompetenz für die gesamte Kommission zu. Damit handelt es sich um eines der höchsten und wichtigsten Ämter, das es im Gefüge der EU-Institutionen gibt. Offiziell spielen Herkunft und Nationalität keine Rolle, da der Kommissionspräsident mit seiner Wahl allein der Europäischen Union verpflichtet ist. Gleichwohl ist es natürlich eine besondere Ehre und Herausforderung zugleich, wenn in diesem Falle nach über 60 Jahren erstmals wieder eine Persönlichkeit aus Deutschland in dieses Amt gewählt würde. Walter Hallstein war von 1958 bis 1967 der letzte deutsche Präsident einer zu seiner Zeit noch anders aufgestellten Kommission der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG). Dass mit Frau von der Leyen zugleich die erste Kommissionspräsidentin ins Amt kommen könnte, ist darüber hinaus ein wichtiges Zeichen. Und ich finde, auch wir in Deutschland könnten und sollten das mit wohl proportionierter Freude unterstützen. In jedem Falle ist unseren europäischen Freunden kaum vermittelbar, dass nunmehr eine deutsche Kandidatin unter Beachtung der Mehrheitsverhältnisse im Parlament aus den Reihen der EVP nominiert wurde, und in Deutschland - statt einmütige Unterstützung und Freude darüber zum Ausdruck zu bringen - die eigene Kandidatin selbst von Teilen der Koalition demontiert wird. Das versteht hier keiner. Oder, wie ein österreichischer Diplomat mich erstaunt fragte: „Seid´s ihr a bisserl paranoid?!“ Ich konnte darauf nicht wirklich eine Antwort geben.


Der Vorschlag, die Kommissions-Präsidentin bzw. den Kommissions-Präsidenten unabhängig von den Spitzenkandidaten zu besetzen, hat zu viel Irritation und Verärgerung geführt. Sollte Ihrer Meinung nach das Verfahren reformiert werden?

In der Tat waren die Diskussionen der letzten Wochen, während derer sich die unterschiedlichen Institutionen gegenseitig die Verantwortung zugeschoben haben, nicht immer hilfreich. Da fielen Begrifflichkeiten wie „Verachtung des Wählerwillens“ oder „Hinterzimmerdeals“, die alle einen Punkt hatten, aber in der Übertreibung bereits schon wieder falsch lagen. Fakt ist, dass das Spitzenkandidatenprinzip neben einer gestiegenen Wahlbeteiligung dazu beigetragen hat, Europa ein Gesicht zu geben. Dass es sich nicht hat durchsetzen können, hat viele Ursachen. Ein Hauptgrund besteht darin, dass es de jure nicht verpflichtend ist und politisch das Parlament nicht in der Lage war, rechtzeitig eine klare Mehrheit für einen der beiden Spitzenkandidaten zu organisieren. Damit lag das Heft des Handelns beim Europäischen Rat, wo das Spitzenkandidatenprinzip bekannterweise nicht von allen mitgetragen wurde. Dabei wäre es fatal, dem Irrglauben zu erliegen, ausgerechnet der Rat würde sich in einer solchen Situation sowie angesichts ohnehin divergierender Ansichten unter den Staats- und Regierungschefs anschicken, dann die Mehrheiten im und für das Parlament zu organisieren. Das zu denken, ist naiv, und grenzt nahezu an Realitätsverweigerung. Will man in Zukunft also keine ungedeckten Schecks gegenüber dem Bürger ausstellen, wird man um eine Reform des Wahlsystems nicht umhin können. Es wäre nur zu wünschen, es denn auch jetzt anzugehen und nicht wieder Jahre bis kurz vor der nächsten Wahl 2024 ins Land ziehen zu lassen. Ziel muss es dabei sein, die sich derzeit ja konfliktiv gegenüberstehenden und verteilten Zuständigkeitskompetenzen von Europäischem Parlament und Europäischem Rat kohärenter zu fassen.


​​​​​​​Wie sehen die nächsten Schritte aus, sollte Frau von der Leyen nicht vom Parlament gewählt werden?

Ein solches Szenario ist möglich, sollte aber gerade in der aktuellen Situation, in der es gilt, weiteren Vertrauensverlust zu vermeiden, keine wirkliche Option sein. Wenn sich im Parlament morgen keine Mehrheit für Frau von der Leyen findet, geht das ganze Spiel von vorne los: Der Europäische Rat wäre dann wieder am Zug und müsste innerhalb von vier Wochen einen neuen Kandidaten oder eine neue Kandidatin, die zuvor die qualifizierte Mehrheit im Rat erhielt, dem Parlament vorschlagen. Und darüber würde wieder abgestimmt werden.Vor dem Hintergrund eines solchen Szenarios wirken dann natürlich die sehr bewegten Kritiken, die jetzige Kandidatin habe nicht ausreichend Zeit gehabt, inhaltliche Schwerpunkte etc. vorzugeben, als hilflose Ausflüchte. Einen solchen Prozess erneut während der Sommermonate zu organisieren, würde vermutlich kein grundsätzlich anderes Ergebnis zu Tage fördern. Ein neuer Kandidat, eine neue Kandidatin, die vorher nicht Spitzenkandidat waren, müsste im Konsens gefunden werden. Was wäre also gewonnen?

Herr Ostry, vielen Dank für das Interview!

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Kontakt

Dr. Hardy Ostry

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Leiter des Auslandsbüros Washington, D.C.

hardy.ostry@kas.de
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15. Januar 2019
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