Länderberichte
Mazedonien erklärte 1991 seine Unabhängigkeit und wartet nach vielen Bemühungen und Reformen auf politischer und wirtschaftlicher Ebene dringend auf die Aufnahme in die NATO und den Beginn von Beitrittsverhandlungen mit der Europäischen Union. Der Demokratisierungsprozess des zwei Millionen Staates mit seiner multiethnischen Gesellschaft, die nicht frei ist von Spannungen, steht aber jeden Tag vor großen Herausforderungen. Der jährliche Fortschrittsbericht der Europäischen Kommission, der Mazedonien im Herbst 2011 insgesamt zum dritten Mal in Folge den Status eines Beitrittskandidaten bescheinigt hat, erinnert immer wieder daran, dass bei der Implementierung der begonnenen Reformen und insbesondere bei der Stärkung des Rechtsstaates nicht nachgelassen werden darf. Dazu gehört auch der Lustrationsprozess, mit dem 2008 begonnen wurde und der vorsah, Personen auf ihre unrechtmäßige Zusammenarbeit mit den Geheimdiensten des ehemaligen jugoslawischen Staates für den Zeitraum von 1944 bis 2008 (bis zum Zeitpunkt der Gründung der Lustrationskommission) zu untersuchen und die Namen der ehemaligen Mitarbeiter im Amtsblatt zu veröffentlichen. Dagegen wurde vor dem Verfassungsgericht geklagt und dieses entschied im Frühjahr 2010, die Gültigkeit des Gesetzes auf die Zeit des jugoslawischen Regimes, d. h. vor der Unabhängigkeit Mazedoniens zu beschränken und mit dem Verweis auf das Recht auf Privatsphäre und anderer Grundrechte entschied das Gericht auch gegen eine Veröffentlichung der Namen. Diese Entscheidung führte zu kontroversen Diskussionen in der Öffentlichkeit, doch konnte die Lustrationskommission nach diesem Urteil ihre Arbeit zunächst einmal beginnen.
Im Februar 2011 wurde dann wieder eine neue Diskussion um den Lustrationsprozess eingeleitet, als das mazedonische Parlament auf Initiative von vier Abgeordneten (Silvana Boneva und Ilija Dimovski von der Regierungspartei VMRO-DPMNE und Tahir Hani und Rafiz Aliti vom albanischen Koalitionspartner DUI), Gesetzesänderungen verabschiedete, die die Lustration auf den Zeitraum von 1991 bis 2018 (d. h. 10 Jahre nach der Gründung der Lustrationskommission) erweiterten. Gleichzeitig wurde die Gültigkeit des Gesetzes auf weitere Zielgruppen der Lustration ausgeweitet. Das bedeutete, dass die Überprüfung nicht nur auf Träger von öffentlichen Ämtern beschränkt wurde, sondern fortan auf weitere Personengruppen ausgedehnt werden sollte, wie z. B. Journalisten, ehemalige Politiker und Diplomaten, Vertreter aller Religionsgemeinschaften sowie auch wissenschaftliche Mitarbeiter bei Nichtregierungsorganisationen, Stiftungen und weiteren Organisationen der Zivilgesellschaft. Damit wurde eine Diskussion um die politische Instrumentalisierung des begonnenen Lustrationsprozesses entfacht, welche die eigentlichen Ziele der Vergangenheitsaufarbeitung in den Hintergrund drängt.
Der Beschluss des Verfassungsgerichtes vom 25.01.201
Das Verfassungsgericht sollte erneut die Verfassungsmäßigkeit und Gesetzlichkeit des gesamten Gesetzes prüfen. Dies wurde vom Gericht mit dem Argument abgelehnt, dass die Verfassungsmäßigkeit schon im Jahre 2008 nach der Verabschiedung des Gesetzes in dem mazedonischen Parlament vorgenommen wurde. Jedoch hat das Gericht nun beschlossen, die Gesetzmäßigkeit der letzten Änderungen und Ergänzungen zu überprüfen, die die Dauer des Lustrationsprozesses betreffen sowie auch die betroffenen Zielgruppen des Lustrationsprozesses, die insbesondere mit den letzten Gesetzesänderungen erfasst werden sollen. Das Verfassungsgericht hat deshalb beschlossen, diese zuletzt hinzugefügten Regelungen vorläufig auszusetzen bis eine Entscheidung über ihre Rechtmäßigkeit getroffen ist. Dafür wurde nun eine Frist von zwei Monaten festgelegt. Nach Ablauf dieses Zeitraums wird sich das Verfassungsgericht endgültig zu der Angelegenheit äußern.
Reaktionen der Parteien auf den Gerichtsbeschluss
Die Entscheidung des Verfassungsgerichts vom 25.01.2012 hat die kontrovers geführten Diskussionen um Zielsetzung, Effektivität für die Demokratisierung des Landes oder über eine mögliche politische Instrumentalisierung des Lustrationsprozesses wieder angeheizt. Der Abgeordnete Ilija Dimovski von der Regierungspartei VMRO-DPMNE kritisierte heftig den Beschluss des Verfassungsgerichtes und hat deutlich darauf hingewiesen, dass man auch weiterhin Initiativen und Vorschläge im mazedonischen Parlament einbringen werde, falls das Gericht die letzten Änderungen und Ergänzungen als verfassungswidrig einstufen sollte. Die Fraktionsvorsitzende der VMRO-DPMNE, Silvana Boneva, vertrat die Ansicht, dass die Einbeziehung weiterer Zielgruppen in den Lustrationsprozess, wie Mitglieder politischer Parteien, Nichtregierungsorganisationen und Stiftungen, Journalisten und Vertreter religiöser Gemeinschaften notwendig sei. Sie äußerte kein Verständnis dafür, falls dies als verfassungswidrig angesehen werden sollte.
Für die oppositionellen Sozialdemokraten (SDSM) vertrat der Parlamentsabgeordnete Emilijan Stankovikj, Mitglied im Ausschuss zur Überwachung der Sicherheitsdienste, die Ansicht, dass der Beschluss des Verfassungsgerichts ein Beweis dafür sei, dass der Prozess an Sinn und Glaubwürdigkeit verloren habe, vor allem wegen der Tatsache, dass man zum zweiten Mal über die Verfassungsmäßigkeit des gesamten Gesetzes entscheiden wollte. Für die SDSM sei der Lustrationsprozess nur ein Instrument der Regierung gegen den politischen Gegner.
Aufarbeitung der Vergangenheit oder politischer Revanchismus?
Die Entscheidung des Verfassungsgerichtes und die politischen Debatten im Land zeigen, dass es für Mazedonien nach wie vor eine große und wichtige Herausforderung ist, den jugoslawischen Abschnitt seiner Vergangenheit fair und transparent zu untersuchen und zwar so, dass die Vorgehensweise auf einen breiten politischen Konsens trifft und nicht dem Anliegen der Lustration selbst schadet. Leider erhebt sich nun die Debatte, ob die Lustrationskommission bis zur endgültigen Entscheidung des Verfassungsgerichtes überhaupt noch arbeiten soll, vor allem deswegen weil nicht klar definiert ist, für weichen Zeitraum man von den zuständigen Organen Unterlagen und Dossiers verlangen sollte – für den Zeitraum zwischen 1944 und 1991, oder bis zum Ende des Mandats der Kommission bzw. 2018, da diese Regelung seitens des Verfassungsgerichtes in Frage gestellt wurde.
Dies birgt erneut viel Konfliktstoff, weil ab dem Inkrafttreten der letzten Gesetzänderungen von Februar 2011, mit dem der Überprüfungszeitraum bis 2018 erweitert wurde, die Lustrationskommission bereits mit der Untersuchung von Personen begonnen hatte, die durch diese letzte Gesetzesänderung nun in die Überprüfung einbezogen wurden. So wurden anhand der Lustrationskommission vorgelegten Unterlagen Angestellte des mazedonischen Nationalfernsehens, ehemalige Diplomaten und Politiker, sowie Vertreter der mazedonischen Zivilgesellschaft kontrolliert. Dabei hatte sich herausgestellt, dass unter den Mitarbeitern der ehemaligen Geheimdienste auch ein Ex-Botschafter war, ein ehemaliger Journalist bei der albanischen Redaktion des mazedonischen Nationalfernsehens, Universitätsprofessoren sowie der Theaterdramaturg und Direktor des Open Society Instituts, Vladimir Milcin, der als sehr oppositionsnah gilt. Alle diese Personen wurden auf Basis des erweiterten Gesetzes geprüft. Gleichzeitig hat die Lustrationskommission mit Bezug auf die ursprüngliche Version des Gesetzes Minister, Abgeordnete und hohe Funktionäre für die Zeit von 1944 bis 1991 geprüft. Die bisher betrachteten Personengruppen haben bereits eine Mitteilung der Lustrationskommission erhalten, dass sie keine Mitarbeiter der ehemaligen Geheimdienste waren. Diese Personengruppen werden auch nicht wieder untersucht werden. Falls sich das Verfassungsgericht in zwei Monaten positiv äußert und die letzten Gesetzesänderungen somit Gültigkeit erhalten, werden sie nur für diejenigen Personengruppen gelten, die noch nicht geprüft worden sind und dem Gesetz unterliegen.
Das mazedonische Verfassungsgericht wird in zwei Monaten einen endgültigen Urteilsspruch zu den letzten Gesetzesänderungen fällen. Bis dahin ist das Lustrationsgesetz praktisch unanwendbar und der gesamte Prozess kommt zum Stillstand.
Es bleibt zu hoffen, dass Mazedonien die Herausforderung, die Aufarbeitung unter demokratisch und rechtstaatlich unbedenklichen Gesichtspunkten weiterzuführen, fortsetzt und somit ein wichtiges Signal an Brüssel sendet, dass es auch in diesem sensiblen Bereich der Vergangenheitsaufarbeitung im Sinne europäischer, demokratischer Grundsätze handelt und dem Vorwurf des politisch missbrauchten Revanchismus mit aller Macht entgegentritt.