Die Überschrift zu diesem Abend lautete: „Ist die Demokratie noch aktuell?“. Anlass war die Vorstellung der neuen Ausgabe von Diálogo Político: “Extremos Políticos”. „Das Entstehen extremer Parteien ist nützlich, um die Demokratie zu bekräftigen”, meinte Enrique San Miguel. Er sage dies, „um die Debatte zu beleben“, erklärte der Professor der Universidad Rey Juan Carlos de Madrid. Auf diese Weise vermittelte der Experte ein wenig Optimismus in diesen Zeiten, die besonders große Herausforderungen an die Demokratie bergen.
„Die Demokratie müssen wir immer wieder entdecken”, stellte San Miguel fest. Er erklärte, dass wir uns in einer Zeitenwende befänden, bleibt aber optimistisch, dass die Demokratie angesichts der aktuellen Herausforderungen stärker wird. Zudem meint er, dass „die demokratische Tradition proaktiv ist, nicht zurückhaltend“, daher müssten wir den demokratischen Dialog aufrechterhalten und uns aktiv für die Demokratie engagieren. Zum Schluss richtete er sich mit einem Appell an das Publikum: „Niemand von uns darf sich als Moralpolizei aufspielen, wir sind schließlich Demokraten.“
Strategische Provokation
Franco Delle Donne lebt in Berlin und hat somit den Aufstieg der rechtspopulistischen Partei AfD (Alternative für Deutschland) miterlebt. Als Politikwissenschaftler untersucht er die Frage, warum sich diese rechte Partei in Deutschland etablieren konnte. Gleichzeitig analysiert er ähnliche Entwicklungen in ganz Europa. Delle Donne erklärte seinen Zuhörern, auf welche Weise die AfD einen neuen politischen Diskurs in der deutschen Öffentlichkeit konsolidiert. Was diese Partei so erfolgreich macht, sei ihre Fähigkeit, Bürger zu mobilisieren, die vorher gar nicht gewählt haben oder anderen Parteien, seien es rechte oder linke, ihre Stimme gaben. Laut Delle Donne sei dieses Phänomen vor allem durch die provokativen Aussagen mittels Wahlkampfplakaten und Wahlwerbespots zu erklären. Um dem Publikum diese „strategische Provokation“ der AfD, wie der Experte sie nennt, näher zu bringen, zeigte er einige Beispiele ihrer Wahlwerbung. Mit dieser wolle sie den Bürgern das Gefühl vermitteln, deren Unsicherheit und Angst zu verstehen und ihnen zur Seite zu stehen. Auf diese Weise produzieren und verstärken die Politiker jedoch auch den Eindruck einer permanenten Gefahrensituation, in der sich die Menschen in Deutschland befänden.
Darüber hinaus nannte der Experte drei Konsequenzen, die die „strategische Provokation” der AfD hervorruft. Erstens verändere sie den Charakter des politischen Diskurses. „Es werden nun Dinge gesagt, die man vorher nicht sagen konnte“, erklärte Delle Donne. Heute werden Tabuthemen beispielsweise viel häufiger und offener angesprochen als noch vor einigen Jahren. Das führe zu einer zweiten Auswirkung, der Verbreitung der sogenannten Hate Speech, vor allem in der Anonymität des Internets. Die zunehmende Fragmentierung des deutschen Bundestages nannte er als dritte Folge des Aufstiegs der AfD. Seit die AfD immer mehr Wählerstimmen gewinnt, zersplittere das Parlament immer weiter und verliere an Stabilität.
Über die europäische Perspektive hinaus teilte Marta Lagos, Direktorin von Latinobarómetro, ihre Gedanken zum Zustand der Demokratie in Lateinamerika mit dem Publikum. Lagos erklärte, dass sie den Eindruck habe, „wir befinden uns in einer Welt, in der man sich weder zuhört noch sich versteht.“ Der wirtschaftliche Wohlstand ist in Lateinamerika schnell angestiegen, aber jeder zweite Bürger auf diesem Kontinent profitiert nicht von diesem Reichtum, von der „Welle des Materialismus“, wie Lagos sie bezeichnet. Dies rufe Gefühle der Frustration und Orientierungslosigkeit hervor, die ultrarechte Parteien nutzen, um Anhänger zu gewinnen. Die Parteien, die die Macht innehaben, hinterließen dieses Vakuum, da sie sich mehr für die Interessen der Wirtschaft als für die Belange und Bedürfnisse der Bevölkerung einsetzten. Daher wundere sie sich auch nicht über den derzeitigen Aufstieg der Ultrarechten, erklärte Lagos. Zu allem Überfluss verlieren die Menschen in Lateinamerika von Tag zu Tag mehr das Vertrauen in die politischen Institutionen und Parteien. Aber, „ohne repräsentative Parteien gibt es keine Demokratie“, unterstrich Lagos und fügte hinzu: „Wir müssen den Staat stärken.“ Sie erklärte, dass Demokratie nicht möglich sei, wenn der Staat sein Gewaltmonopol an manchen Orten verliere, so wie es in vielen lateinamerikanischen Ländern der Fall ist. Schlussendlich identifizierte die Professorin auch eine Krise der politischen Führung. Den politischen Führungskräften fehle es an Mut, selbstbewusste und möglicherweise kontroverse Entscheidungen zu treffen oder auch einmal „nein“ zu sagen. Diese Entwicklung zeige sich auch an dem starken Verlust der Unterstützungswerte gewählter Präsidenten in ganz Lateinamerika in den letzten Jahren. Um diese Situation zu verbessern, müsse man sich stärker auf die politische Führung als auf Personenkult konzentrieren. Ferner wirft Marta Lagos die Frage „Wo ist die Debatte über Ideen in Lateinamerika?” in den Raum. Diesbezüglich fügt Franco Delle Donne hinzu, dass er eine ähnliche Entwicklung in Deutschland beobachte. Viele Menschen würden gar keinen Unterschied mehr zwischen den einzelnen Parteien erkennen, weil es ihnen an einer Debattenkultur und klaren Positionierung mangele.
Trotz der Unterschiede hinsichtlich der politischen Kultur zwischen Europa und Lateinamerika, sind die Mittel, mit denen den politischen Extremen begegnet werden kann, ähnlich: Politische Parteien und der Staat müssen gestärkt werden. Zukünftige politische Führungskräfte zu schulen ist auch das Anliegen unseres Regionalprogramms „Parteienförderung und Demokratie in Lateinamerika“. Diese Debatte hat einmal mehr die Notwendigkeit und Bedeutung unserer Arbeit aufgezeigt.
Verfasst von Julia Beneke, Praktikantin im Büro der KAS in Montevideo.