1. In Deutschland wird viel über fehlendes Personal geklagt. Könnten Sie uns einen kurzen Überblick geben, in welchen Berufsfeldern und Regionen die Situation besonders angespannt ist?
Deutschlandweit gibt es aktuell über eine halbe Million offene Stellen, für die keine passend qualifizierte Fachkraft zur Verfügung steht. Besonders betroffen sind dabei die Pflege- und Sozialberufe wie Erzieher und Sozialpädagogen sowie Berufe im Bau- und Handwerkssektor. In der Gesundheits- und Krankenpflege fehlen vor allem Fachkräfte mit abgeschlossener Berufsausbildung. Im Bereich der Kinderbetreuung und -erziehung konnten 2023 mehr als zwei Drittel aller offenen Stellen, die einen Fortbildungs- oder Bachelorabschluss erfordern, nicht besetzt werden. Auch in der Sozialarbeit und Sozialpädagogik konnten zwei Drittel der Stellen auf Expertenniveau deutschlandweit nicht besetzt werden. Es zeigen sich auch regionale Unterschiede: Besonders angespannt ist der Arbeitsmarkt in Bayern. Hier lässt sich jede zweite offene Stelle nicht mehr besetzen. In Nordrhein-Westfalen ist es gut jede vierte. Tendenziell lässt sich zudem sagen, dass die Fachkräftesituation in städtischen Ballungszentren nicht so angespannt ist wie in den ländlich geprägten Regionen. So lassen sich in städtischen Ballungsgebieten an Rhein und Ruhr oder in Berlin vergleichsweise leichter offene Stellen besetzen als in ländlichen Regionen wie in Bayern oder in Niedersachsen.
2. Eine wichtige Säule zur Fachkräftesicherung in Deutschland ist Migration. Die Nettozuwanderung aus anderen EU-Staaten ist jedoch rückläufig. Welche Rolle spielt die außereuropäische Zuwanderung schon heute für den Beschäftigungszuwachs in Deutschland und welche Dynamik könnten wir zukünftig beobachten?
In den letzten Jahren ist die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in Deutschland trotz Fachkräftemangel und demografischem Wandel gestiegen. Besonders ausländische Arbeitskräfte spielen hierbei eine entscheidende Rolle. Zwischen 2022 und 2023 machten sie 86 Prozent des Beschäftigungswachstums aus, während deutsche Staatsbürger nur 14 Prozent dazu beitrugen. Besonders stark war der Zuwachs durch Arbeitskräfte aus Drittstaaten. Mit Blick auf die demografische Entwicklung in Deutschland, bei der immer mehr deutsche Arbeitnehmer in den Ruhestand gehen und weniger nachkommen, wird sich dieser Trend voraussichtlich weiter fortsetzen. Ohne internationale Arbeitskräfte würde die Beschäftigtenzahl, vor allem in Ostdeutschland mit seiner älteren Bevölkerung, bereits jetzt sinken.
3. Auch in kleinen und mittelständischen Unternehmen (KMU) werden händeringend Fachkräfte gesucht. Im Vergleich zu großen, international agierenden Firmen und Organisationen mangelt es ihnen aber oft an den nötigen Strukturen, Strategien und Ressourcen, um international zu rekrutieren. Wo sehen Sie die größten Schwierigkeiten für KMU bei der Einstellung und Integration internationaler Fachkräfte?
Die größten Herausforderungen für Unternehmen liegen in den oft langen Wartezeiten, den komplizierten rechtlichen Regelungen und den Hürden bei der Anerkennung von ausländischen Qualifikationen. Gerade kleine und mittlere Unternehmen benötigen hier passgenaue Unterstützung, da sie eine notwendige Expertise aufgrund ihrer Größe nicht allein aufbauen können. Zudem stehen sie vor zusätzlichen Schwierigkeiten: Sie wissen häufig nicht, wo sie geeignete internationale Fachkräfte finden können, und sind unsicher, wo sie Unterstützung bei der betrieblichen Integration erhalten. Außerdem haben sie oft Bedenken, unseriösen Vermittlungspraktiken bei privaten Anbietern zum Opfer zu fallen. Wünschenswert wären daher valide Qualitätsstandards der Anbieter, wie sie etwa für die Anwerbung ausländischer Pflegekräfte bereits existieren („Faire Anwerbung Pflege Deutschland“), mit denen sie den Unternehmen mehr Sicherheit bieten. Hier sollte die Politik die Unternehmen mit Qualitätsstandards und Zertifizierungen der Anbieter unterstützen.
4. Welche Art der Unterstützung erhalten Arbeitgeber, beispielsweise durch Verbände, Kammern oder Wirtschaftsförderungen?
Die Unterstützung durch Verbände, Kammern und Wirtschaftsförderungen ist gerade für KMU enorm wichtig. Hier erhalten Unternehmen wertvolle Unterstützung wie die Information zu rechtlichen Anforderungen oder der Anerkennung von ausländischen Berufsqualifikationen. In vielen Regionen gibt es zudem spezielle Agenturen und Welcome Center, die Arbeitgebern und internationalen Fachkräften beratend zur Seite stehen. Sie informieren über Fördermöglichkeiten und vermitteln Kontakte zu wichtigen Institutionen. Darüber hinaus bieten auch Organisationen wie die Bundesagentur für Arbeit spezielle Programme zur Rekrutierung internationaler Fachkräfte an. Als Beispiel ist hier das Projekt „Hand in Hand for International Talents“ zu nennen, in dem gemeinsam mit IHK-Organisationen qualifizierte Bewerbende aus Drittstaaten mit interessierten Unternehmen aus dem IHK-Bereich zusammengebracht werden. Oder das THAMM Plus Projekt, das die Vermittlung von Auszubildenden und Fachkräften aus Ägypten, Marokko und Tunesien nach Deutschland unterstützt.
5. Was sind die Erwartungen an die Politik? Welche bundespolitischen Maßnahmen bräuchte es Ihrer Meinung nach, um den deutschen Mittelstand im internationalen Wettbewerb um Talente nachhaltig zu stärken?
Um das Potenzial internationaler Fachkräfte stärker in den Fokus der Unternehmen zu rücken, sind passende Unterstützungsangebote extrem wichtig. Ideal wäre hier die Schaffung einer One-Stop-Shop-Lösung, bei der alle Informationen aus einer Hand verfügbar sind. Außerdem ist es wichtig, die bestehenden Angebote gerade bei den KMU bekannter zu machen und für eine gute Qualität zu sorgen. Ein weiterer Punkt ist, bessere Qualitätsstandards in der Vermittlung von internationalen Fachkräften zu schaffen. Auch auf rechtlicher und verwaltungstechnischer Ebene gibt es Verbesserungsbedarf. Zwar wurden durch die Novellierung des Fachkräfteeinwanderungsgesetzes bereits Fortschritte erzielt, doch ein Gesetz ist nur so gut wie seine Umsetzung. Gerade bei den oftmals langwierigen und komplexen Verwaltungsverfahren.
6. Anders als in den USA oder Kanada, ist die Zuwanderung aus dem außereuropäischen Ausland nach Deutschland zu einem Großteil humanitär oder familiär bedingt, während sich die Erwerbsmigration aus Drittstaaten bislang auf einem sehr niedrigen Niveau befindet. Welche Fachkräfte-Strategie sollte die Bundesregierung Ihrer Meinung nach langfristig verfolgen?
Angesichts über einer halben Million offener Stellen, für die es keine Fachkräfte gibt, spielt die Sicherung des Fachkräftepotenzials eine ganz zentrale Rolle. Es ist entscheidend, dass wir dabei an allen Stellschrauben drehen – sowohl national als auch international. Allerdings wird hinsichtlich des demografischen Wandels die qualifizierte Zuwanderung eine immer wichtigere Rolle spielen. Da der Fachkräftemangel kein rein deutsches Phänomen ist, wird der internationale Wettbewerb um qualifizierte Arbeitskräfte weiter zunehmen. Daher müssen unsere rechtlichen Rahmenbedingungen und Verwaltungsstrukturen so gestaltet sein, dass eine Zuwanderung auf den deutschen Arbeitsmarkt schnell und effizient erfolgen kann. Unternehmen, insbesondere kleine und mittlere, benötigen zudem leicht zugängliche und qualitativ hochwertige Unterstützung bei der Rekrutierung und Integration neuer Mitarbeitender. Ein weiterer entscheidender Aspekt ist die Schaffung einer offenen Willkommenskultur, die Integration vor Ort aktiv unterstützt, etwa durch den Zugang zu Sprachkursen und anderen Integrationsmaßnahmen.
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Über diese Reihe
In unserer Reihe "Interviews" werden Gespräche und Diskussionen mit Expertinnen und Experten der Konrad-Adenauer-Stiftung e.V. zu unterschiedlichen Themen geführt.
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„Es geht nicht nur um das Finden, sondern auch um das Binden internationaler Talente“