Alles wie immer?
Schon früh war deutlich, dass sich die Präsidentschaftswahl 2020 von vorherigen unterscheiden würde. Nachdem die Wahl 2015 im Schatten der Ukrainekrise ohne große Zwischenfälle und mit einem offiziellen Rekordergebnis von 83 Prozent für den Amtsinhaber geendet war, meldeten sich dieses Mal 55 Herausforderer. Die Lage im Land hatte sich deutlich verändert. Seit er 1994 auf demokratischem Weg an die Macht gekommen war, hatte Aliaksandr Lukaschenka seinem Glück an den Urnen nach Einschätzung internationaler Beobachter zwar stets nachgeholfen, indem er Ergebnisse fälschte, Konkurrenten aus dem Weg räumen und Proteste unterdrücken ließ (zuletzt in 2010), doch hatte er dabei stets eine gewisse „Grundlegitimität“ im Volk genossen, da er Ruhe, Ordnung und soziale Sicherheit versprach. In den frühen 2000ern spielte ihm im dafür ein starkes Wirtschaftswachstum in die Hände, nach 2014 war es die Krise in der benachbarten Ukraine. Es gelang ihm, sich und sein Land als friedensstiftender Mittler zu positionieren und damit sowohl dem südlichen Bruderstaat beizustehen, als sich auch „in aller Freundschaft“ von Russland abzugrenzen.
Jedoch war der „Ukraine-Effekt“ über die Jahre immer stärker verblasst, wie auch die durch Lukaschenka verkörperte Sowjetnostalgie, die noch lang nach 1991 bei weiten Teilen der Bevölkerung Anklang gefunden hatte. In den Vordergrund traten nun Fragen nach überfälligen Reformen für die Wirtschaft sowie nach besseren persönlichen Entwicklungsmöglichkeiten im Land. Die relative Liberalisierung seit 2015, die etwa in Form der Einsetzung einer Reformregierung im August 2018 und der Verbesserung der Beziehungen mit dem Westen ihren Ausdruck gefunden hatte, hatte bei vielen Hoffnungen geweckt, dass sich das Land doch noch ohne einen „Bruch“ in kleinen Schritten verbessern lassen könnte. Außenminister Wladimir Makei betonte gegenüber westlichen Partnern stets, dass sich sein Land auf einem langsamen aber steten Weg Richtung Demokratie befinde. Da gleichzeitig die Beziehungen mit dem engen Bündnispartner Russland zunehmend von Spannungen geprägt waren und seit Ende 2018 unter dem Eindruck standen, dass der „große Bruder“ womöglich eine (faktische) Annexion des Landes anstrebe, unterstrich Minsk die Wichtigkeit der Verteidigung seiner staatlichen Souveränität und erhoffte sich vom Westen Verständnis, wenn der Staat dafür beizeiten eine „starke Hand“ zeigen musste – wie etwa bei der Parlamentswahl 2019. Auch die Präsidentschaftswahlen 2020 sollten unauffällig verlaufen und ohne größeres Aufsehen Lukaschenkas sechste Amtszeit einläuten. Doch es sollte anders kommen.
Die Coronakrise erreicht Belarus
Im Frühjahr 2020 erreichte COVID-19 auch Belarus. Präsident Lukaschenka machte weltweit Schlagzeilen mit seinen Kommentaren und Therapiehinweisen – es sei eine „Psychose“ und zum Schutz solle man Wodka trinken und in die Saune gehen. Die Opfer des Virus seien ohnehin selber schuld an ihrem Schicksal. Obwohl das Land mit seinem starken Gesundheitssystem im Grunde strukturell gut vorbereitet war, blieben staatliche Reaktionsmaßnahmen zunächst aus. Gleichzeitig war Belarus wirtschaftlich gesehen zum Jahresbeginn in einer angespannten Situation. Die Auslandsverschuldung war hoch und der Wechselkurs des Rubel sowie der Ölpreis befanden sich in freiem Fall, während Energieimporte aus Russland teurer geworden waren (Liefermengendrosselung und sogenanntes „Steuermanöver“).
Die ökonomischen Folgen der Coronakrise hätten schon für sich allein einen schweren Schlag bedeutet, da Transit, Außenhandel und Binnennachfrage einbrachen. Doch die Leugnung des Virus und die verspätete Reaktion verschlimmerten die Lage zusätzlich. Kleine und Mittelständische Unternehmen, die insbesondere in den letzten Jahren herangewachsen waren und insgesamt knapp 1,3 Millionen Arbeitsplätze stellen, sahen sich reihenweise in ihrer Existenz bedroht. Dies wog besonders schwer, da das Land nur unzureichend über sozialmarktwirtschaftliche Instrumente wie eine Arbeitslosenversicherung oder finanzielle Rücklagen verfügt, um das Gröbste abzufedern. Zwar kündigte die Regierung doch noch Hilfsmaßnahmen für die Wirtschaft an und staatliche Stellen wie die Nationalbank wurden von sich aus aktiv, doch ein geplantes Milliardenpaket auf Kreditbasis kam nicht zustande, da sich der Präsident weigerte, die von internationalen Geldgebern wie der Weltbank geforderten Konditionen anzunehmen: Mindeststandards zur Pandemiebekämpfung und Wirtschaftsreformen. Für viele Menschen hatte der Präsident damit sein Sicherheits- und Stabilitätsversprechen im doppelten Sinne, gesundheitspolitisch und wirtschaftlich, gebrochen.
Infolgedessen lag Belarus in einer internationalen Umfrage zur Regierungszufriedenheit in der Pandemie im April auf dem vorletzten Platz. Die Bevölkerung hingegen nahm die Aufgabe der Bekämpfung der Folgen von COVID-19 weitgehend selbst in die Hand. Durch das Land ging eine bisher kaum gesehene Welle an Initiativen und Hilfsaktionen, um Betroffene und ärztliches Personal zu versorgen oder schlicht Informationsarbeit zu leisten. Die Erfahrung kollektiver Selbstwirksamkeit angesichts der Versagens der Staatsführung in zwei so elementaren Fragen setzte somit den Rahmen für den beginnenden Wahlkampf.
Vorwahlkampf
Von den 55 Kandidaten waren viele von vornherein nur aus Protest angetreten, doch 15 erfüllten die formalen Voraussetzungen und wurden für die erste Stufe des Vorwahlkampfes zugelassen. Hier galt es nun, 100.000 gültige physische Unterschriften zu sammeln – eine Herkulesaufgabe unter den Umständen der Pandemie. Doch die Mobilisierung der Bevölkerung setzte sich fort und erfasste weite Teile des Landes. Selbst in Provinzstädten standen die Menschen zum Teil stundenlang in den Schlagen an, um für den Kandidaten / die Kandidatin ihrer Wahl die Signatur zu setzen. Wie ein Fanal wirkte die berühmt gewordene Online-Umfrage Ende Mai, die den Amtsinhaber noch bei ganzen drei Prozent sah. Sie war nicht repräsentativ – glaubhafte Studien sahen ihn bei gut dreißig – doch sie verlieh den Unzufriedenen den starken Rückenwind der Überzeugung, in der Mehrheit zu sein. Den Präsidenten nannten viele ab jetzt nur noch neckisch „Drei-Prozent-Alexander". Von den angetretenen Kandidaten erreichten nach eigenen Angaben sechs die nötige Unterschriftenzahl, der beste unter ihnen allein die Rekordsumme von 430.000. Zusammen lagen sie bei einer Million.
Das Feld der Kandidaten unterschied sich dabei in entscheidender Weise von früher. Im Wahlkampf 2015 hatte es neben zwei Systemkandidaten nur eine Herausforderin gegeben, die der klassischen Opposition zuzurechnen war. Diese landete damals trotz inoffiziellen Umfragewerten von 20 Prozent am Ende amtlich nur bei fünf. Dieses Mal entstammten drei Personen der traditionellen Opposition: Anna Kanapatskaja, Andrej Dmitrijev (beide formal unabhängig) und Sergej Cherechen (Sozialdemokraten Hramada). Neu war jedoch, dass zwei Männer „aus dem System" antraten sowie eine Frau, die bis vor kurzem niemand auf dem Schirm gehabt hatte. Der erste, Wiktor Babariko, war schnell zum großen Favoriten avanciert. Der ehemalige Chef der belarussischen Gazprom-Tochterbank „Belgazprombank" stand in den Augen vieler für erfolgreiche Managementerfahrung, hatte gute Beziehungen nach Russland, war aber klar für die belarussische Unabhängigkeit und hatte sich immer wieder kritisch gegenüber Lukaschenka geäußert. Über seine Motivation gab es viele Spekulationen und Verschwörungstheorien, er sei aus Russland gesteuert oder gar ein Schwerverbrecher, der schlicht die Flucht nach vorn antrete, um der Strafverfolgung zu entgehen. Aus seinem Umfeld war jedoch die schlüssige Erklärung zu hören, dass der Tod seiner Frau und seine Frustration mit dem System den Ausschlag gegeben hätten, um sich in dieses im Grunde selbstmörderische Wagnis zu stürzen. Auch der frühere Karrierediplomat, Ex-Vizeaußenminister und ehemalige Lukaschenko-Berater sowie Mitbegründer des berühmten High-Tech-Parks, Valerij Tsepkalo, stellte sich zur Wahl und geriet schnell ins Kreuzfeuer der Staatsmedien. Lukaschenka drohte, „Kompromat“ über ihn zu veröffentlichen und seine „korrupten Machenschaften“ zu enthüllen.
Und schließlich war da diese Frau: Swetlana Tsikhanouskaja, 37- jährige Hausfrau, Mutter zweier Kinder und von Beruf Deutsch- und Englischlehrerin, die eigentlich gar nicht hatte antreten wollen. Der ursprüngliche Kandidat war ihr Ehemann, der Videoblogger Sergej Tsikhanouskij, der in den vergangenen Monaten durch Reportagen über die Probleme des „kleinen Mannes" unter wüsten Beschimpfungen an die Adresse des Präsidenten so viel Aufmerksamkeit auf sich, gezogen hatte, dass die Behörden ihn zunächst unter arrangierten und dann unter konstruierten Gründen in Haft nahmen. Seine Frau nahm kurzentschlossen seinen Platz ein - und wurde als Bewerberin zugelassen. Lukaschenka machte keinen Hehl daraus, dass er Frauen ganz allgemein für ungeeignet hielt, ein Land zu führen - es sollten später noch viele ähnliche Äußerungen folgen - und sowohl unter Experten als auch in der Bevölkerung wurde Tsikhanouskaja zunächst massiv unterschätzt. In der oben genannten Umfrage lag sie zwar vor dem Amtsinhaber, aber mit zwölf Prozent deutlsich hinter Babariko (60 Prozent). Jener landete dann auch bald mitsamt seinem Sohn im Gefängnis, nachdem die Behörden eine große Razzia in der Belgazprombank durchsucht und sie de facto enteignet hatten.
Der Vorwahlkampf war geprägt von einem äußert harten Durchgreifen des Staates. Es kam zu etlichen Konfrontationen zwischen Aktivisten und Sicherheitskräften mit insgesamt etwa eintausend Verhaftungen, darunter laut Menschenrechtsorganisationen 26 politischen Gefangen, und sogar vereinzelten Berichten von Folter aus dem KGB-Gefängnis. Warnungen der Expertenschaft, dass das Land sich auf einen sehr düsteren Weg begebe, wenn nicht beide Seiten in einen Dialog träten beziehungsweise die sich Regierung zurücknähme, verhallten ungehört. Schon früh schien das „dunkle Referenzjahr“ 2010 unterschritten, da die Behörden damals erst nach der Wahl zu Gewalt gegriffen hatten. Am 3. Juni tauschte der Präsident dann weite Teile der Regierung aus und ersetzte die liberalen Minister, inklusive seines Premiers, durch Personen aus dem Sicherheitsapparat.
Die heiße Phase beginnt
Am 14. Juli, dem Tag der Verkündigung der Entscheidung über die Zulassung der Kandidaten, war es weniger der Umstand, dass der letzte auf freiem Fuß befindliche hoffnungsvolle Anwärter Valerij Tsepkalo nicht zugelassen wurde. Vielmehr war es die ganz offensichtliche Willkür, mit der das Zentrale Wahlkomitee (ZWK) Unterschriftenlisten anerkannt oder für ungültig erkläre. Während die Anerkennungsquote der beiden Hauptherausforderer Babariko und Tsepkalo bei 45 Prozent lag (sprich: Babariko wurde zugelassen, durfte aber dann aus strafrechtlichen Gründen nicht antreten), wurden bei Herrn Dimitriev quasi alle Unterschriften anerkannt. Kanapatskaya und Cherechen wurden sogar deutlich mehr „gültige“ Signaturen zuerkannt, als sie überhaupt abgegeben hatten und auch Swetlana Tsikhanoukajas 105.000 Unterschriften wurden als gültig gewertet. Damit war sie ganz offiziell Präsidentschaftskandidatin. Es folgte ein kometenhafter Aufstieg, der vor allem durch drei Umstände geprägt war.
1. „Die Drei Grazien"
In Windeseile gelang Tsikhanouskaja und den Vertreterinnen der Teams von Babariko und Tsepkalo etwas, was der belarussischen Opposition in den Jahr(zehnt)en und Monaten zuvor immer schmerzlich gefehlt hatte: die Vereinigung ihrer Kräfte. Das Team der drei Frauen, die bald den liebevollen Spitznamen „die drei Grazien" erhielten, bestand neben Swetlana Tsikhanouskaya aus Veranika Tsepkalo, der Ehefrau des nichtregistrierten Kandidaten Valerij, sowie Maria Kalesnikava, der Kampagnenleiterin von Wiktor Babariko. Auch Parteien der traditionellen Opposition, wie Sozial- und Christdemokraten sowie die Vereinte Bürgerpartei, brachten ihre personelle und materielle Unterstützung ein und durch die Vereinigung ihrer Expertise und Ressourcen gelang es ihnen in Windeseile, die unbekannte Tsikhanouskaja als präsentable (und präsidiale) Rednerin aufzubauen. Als Trio verliehen die drei Frauen dem Ruf nach Veränderung ein charmantes, frisches, professionelles und sympathisches Gesicht.
Die nach Hollywoodfilm klingende Geschichte der einfachen aber taffen Frau aus dem Volk, die sich wie David gegen Goliath unverhofft in den Präsidentschaftswahlkampf stürzt, um ihren Ehemann zu retten und die Nation „von der Diktatur zu befreien", fand bei vielen Leuten Anklang. Dabei war ihr Programm simpel: Sie wollte auf legale Weise die Wahlen gewinnen, um die politischen Gefangenen freizulassen, ein Referendum über die Rückkehr zur Verfassung von 1994 (vor Lukaschenka) zu organisieren und binnen eines halben Jahres Neuwahlen anzusetzen. Auch wenn sie darüber hinaus inhaltlich vereinzelt auf Punkte eines Reformprogramms zurückgriff, das verschiednee Oppositionsparteien bereits in Vorhinein erarbeitet hatten, mnachte Tsikhabouskaja deutlich, dass sie sich vor allem als „Funktion“ verstand, um überhaupt erst die Rahmenbedingungen für freie Wahlen mit inhaltlicher Auseinandersetzung zu ermöglichen. Vor allem regierungsnahe Kommentatoren warfen ihr Inhaltsleere vor und sahen die Opposition angesichts des Mangels an Konzepten von vornherein zum Scheitern verurteilt. Doch vereint sprachen diese drei so unterschiedlichen Frauen schon schlicht dadurch, dass sie selbst für verschiedene Gesellschaftsgruppen stehen, breite Wählerschichten an.
Auch der minutiöse Legalismus, die Wahlen unbedingt auf Grundlage der geltenden Gesetze gewinnen zu wollen, sich strikt an Recht und Ordnung zu halten und nicht zu Aufständen oder Revolution aufzurufen, fand bei den ordnungsliebenden Belarussen Widerhall. Geopolitische Fragen spielten keine erkennbare Rolle. Freie Wahlen wurden ausdrücklich nicht gleichgesetzt mit einer außenpolitischen Orientierung nach Westen, oder einem Bruch mit Russland, sondern in diesem Punkt war die Opposition fast wortgleich mit der Regierung auf Linie: Belarus solle gute Beziehungen mit allen Seiten führen und sich im Zweifelsfall neutral verhalten. Bei ihrer Wahlkampftour, die seitens der Behörden, mit Ausnahme der letzten Woche, vergleichsweise wenig gestört wurde, brachen sie an vielen Orten mit ihren Veranstaltungen Teilnehmerrekorde, nicht zuletzt in Minsk, wo am 30. Juli über 60.000 Menschen zusammenkamen - die größte Veranstaltung in der Geschichte der Republik.
2. Fehler des Präsidenten
Präsident Lukaschenka hingegen leistete sich immer mehr Fehler. Nach dem brutalen Vorgehen gegen Aktivisten und der Inhaftierung von Kandidaten aus erkennbar konstruierten Vorwänden, ging er auch verbal von Anfang an in die Vollen. Er verglich die neuen demokratischen Kräfte mit Nazis, drohte indirekt mit einem Massaker, ließ demonstrativ Panzerfahrzeuge durch Minsk rollen und mehrfach erkennen, dass er das Land im Prinzip als sein Eigentum betrachtet. Sein sorgsam geschaffenes Image als volksnaher „Vater der Nation", der sich kümmert, dank der Geheimdienste alles weiß und seinen Gegner immer einen Schritt voraus ist, begann umso stärker zu bröckeln, je offenkundiger die Diskrepanzen hervortragen: Corona solle es gar nicht geben? Dabei lagen die Opfer doch vor Ort in den Kreiskrankenhäusern! Unterstützer der Opposition sollen ausländische Agenten sein? Dabei sind die Leute da im Autokorso doch Nachbarn, Arbeitskollegen und Verwandte! Bei vielen entstand der Eindruck: „Entweder er lügt oder er hat keine Ahnung."
So wirkte es auch immer weniger glaubhaft, dass sich der Präsident als einzig möglichen
Beschützer der Unabhängigkeit vor inneren und äußeren Feinden portraitierte. Nachdem die Spannungen mit Moskau seit Jahren angewachsen waren, hatte in diesem Wahlkampf Russland als Projektionsfläche herhalten sollen, statt wie in früheren Zeiten der Westen. Mit jenem hatte das Verhältnis zuletzt eine sehr positive Dynamik entfaltet, insbesondere mit den USA, und Minsk sah in der Diversifizierung seiner Handelsbeziehungen ein wichtiges Mittel, um der ökonomischen Übermacht des östlichen Nachbarn etwas entgegensetzen zu können. So schien der vorläufige Höhepunkt der Zuspitzung im Wahlkampf erreicht, als Minsk am 29. Juli verkündete, über dreißig russische Söldner der „Organisation Wagner" in Belarus festgesetzt zu haben. Diese hätten Massenunruhen schüren wollen und seien nur die Speerspitze eines ganzen Heeres, welches das Land bedrohe.
Dieses Manöver schien vor allem zwei Zielen zu dienen: der Herstellung einer Verbindung zwischen der Opposition und dem äußeren Feind und um dem Westen zu signalisieren, dass man sich in einem Abwehrkampf gegen einen „gemeinsamen geopolitischen Gegner" befinde – in der Hoffnung damit Verständnis zu erzeugen, falls später Proteste niedergeschlagen werden müssten. Da die Regierung schon in früheren Jahren auf die Taktik zurückgegriffen hatte, zur Ablenkung von inneren Krisen äußere Feinde zu beschwören, nahm die Bevölkerung auch die Nachrichten über die Söldner weitgehend als eine Nebelkerze wahr. An seiner Entschlossenheit, „einen Maidan" zu unterbinden, ließ der Präsident hingegen keinen Zweifel und besuchte vor den Wahlen medienwirksam Kasernen und Einheiten des Sicherheitsapparats. Dabei stellte er klar, dass die Beamten bei der Unterdrückung eines Aufstands freie Hand hätten und mit Straffreihet würden rechnen können. Für eine inhaltliche Diskussion mit seinen Gegnern, ja selbst für deren Anerkennung als legitime Mitbewerber, war er zu keinem Zeitpunkt bereit: Worüber sollte auch mit Tsikhanouskaja reden - das „arme Ding" tue ihm allenfalls leid.
3. Jeder nur nicht er!
So war das Vertrauen in den Präsidenten immer weiter gesunken. Schon im Laufe des Frühjahrs hatten Umfragen ergeben, dass eine Mehrheit der Regierung weder traute die Wahrheit zu sagen, noch ihre praktischen Probleme zu lösen. Nur noch elf Prozent vertrauten ihr noch voll. Auf ähnlichem Niveau lagen die Staatsmedien, während die unabhängige Nachrichtenportale deutlich an Vertrauen gewannen. Inoffizielle aber (bestmöglich) repräsentative Umfragen zeigten bereits vor den Eskapaden der letzten Wochen ein Bild, dass die Mehrheit der Menschen sich für einen Wandel aussprach. Die Wählerbasis des Präsidenten lag hingegen zu diesem Zeitpunkt bei etwa dreißig Prozent. Ein Satz fiel in diesem Zusammenhang immer wieder und fasste die Stimmung weiter Bevölkerungsteile zusammen: „Jeden anderen, nur nicht ihn!".
(Schicksals-)Wahl
Wie üblich begann der Wahlprozess bereits fünf Tage vor dem Wahlsonntag, also am Dienstag, den 4. August. Das Zentrale Wahlkomitee (ZWK) hatte dafür Sorge getragen, dass die Wahlkommissionen, denen die Aufgabe der Stimmauszählung zufällt, weitgehend steril mit Loyalisten und Funktionären besetzt waren. Die Einladung an internationale Wahlbeobachter war so lange hinausgezögert worden, dass OSZE und Europäische Union keine Missionen mehr entsenden konnten und auch die Akkreditierung ausländischer Journalisten zögerte sich bis zuletzt hinaus.
Das ZWK zählte zu den wenigen staatlichen Institutionen, die Corona ernstnahmen und während der Präsident noch zu Beginn der Wahlwoche vor 2.500 geladenen Gästen eine Rede im geschlossenen Saal hielt, wurden für die Wahlbeobachtung nur fünf beziehungsweise drei Personen pro Wahllokal zugelassen. Dennoch hatten sich verschiedene unabhängige Kampagnen zur Wahlbeobachtung und alternativen Stimmauszählung organisiert. Neben der traditionellen, durch Parteien getragenen Kampagne „Recht zu Wählen" gab es die Initiativen Zubr, „Ehrliche Menschen" sowie die Webseite Golos („die Stimme“), welche die Wähler aufrief, ihre Stimmzettel zu fotografieren, um eine alternative Auszählung zu ermöglichen. An die 6,8 Millionen Wahlberechtigten appellierten sie, erst am Sonntag zu wählen, da die vorzeitige Stimmabgabe als zentrales Einfallstor der Manipulation gilt.
Dennoch vermeldete das ZWK gegen Ende des early votings eine Rekordbeteiligung von 41,7 Prozent. Unabhängigen Beobachtern zufolge war diese Zahl um das Dreifache übertrieben. Die Vorsitzende des ZWK, Lidija Jermoschina, hatte angekündigt, die Wahllokale am Sonntag pünktlich um 20 Uhr zu schließen. Beobachter berichteten von absichtlichen Verzögerungen und so bildeten sich schon früh schier endlose Menschenschlägen, von denen viele ihre Stimme nicht mehr abgeben konnten. Das Quorum von 50 Prozent war früh erreicht doch trotz der beispiellosen Mobilisierung wurde die Wahlbeteiligung im Nachgang niedriger angegeben, als bei den Wahlen von 2015.
Während des Wahlsonntags fiel immer wieder das mobile Internet aus und der Zugang zu unabhängigen Medien sowie Messengerdiensten war blockiert. Das Wahlbeobachterportal Zubr musste mehrfach auf andere Domains umstellen, um im Land erreichbar zu bleiben. Nichtsdestotrotz machten Videos die Runde, wie endlose Kolonnen von Militärtransportern, Wasserwerfern, Gefängnisbussen und Polizeiwagen in die Hauptstadt rollten. Seit Samstag war es verschärft zur Verhaftung von Wahlbeobachtern, Journalisten und Aktivisten gekommen, auch Maria Kalesnikava (Babarikos Wahlkampfleiterin) war kurzzeitig inhaftiert - acht Personen aus Tsikhanouskajas Team blieben in Haft. Obwohl sie unter erschwerten Bedingungen arbeiten mussten und oft nicht in die Wahllokale selbst zugelassen wurden, registrierten unabhängige Beobachter zahlreiche Verstöße gegen das belarussische Wahlrecht. Die Plattform Zubr meldete fast 5000 Fälle, wie etwa die Ausgabe ungültiger Stimmzettel.
Kurz nach Schließung der Wahllokale kam die Nachricht, die wie eine Schockwelle wirkte: Regierungsnahe exit polls sahen den Präsidenten bei fast 80 Prozent, Tsikhanouskaja hingegen bei unter sieben. Dies war ein Schlag ins Gesicht der Opposition. Deren exit polls und unabhängige Hochrechnungen zeichneten das exakt umgekehrte Bild: Tsikhanouskaja bei fast drei Vierteln der Wählerstimmen und Amtsinhaber Lukaschenka abgeschlagen bei unter 15 Prozent. Die Opposition hatte höchsten Wert darauf gelegt, den rechtmäßigen Weg des Gesetzes zu gehen. Doch Lukaschenka hatte nun erneut bewiesen, dass ein Machtwechsel auf legalem Weg in seinem Staat nicht möglich war. Die Zeichen standen auf Sturm.
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