Professor Stephan Becker: „Eine neue Ära der Impfstoffforschung“
Im Normalfall benötigen Forscherinnen und Forscher viele Jahre, teils sogar Jahrzehnte, um neue Impfstoffe herzustellen. Denn es braucht nicht nur die reine Entwicklungszeit, sondern mehrere Phasen der klinischen Prüfung, gefolgt von der Zulassung. Und produziert werden müssen die Vakzine Dass die EU innerhalb eines Jahres seit Ausbruch der Corona-Pandemie gleich drei Impfstoffe zugelassen hat, die der Hersteller BioNTech/Pfizer, Moderna und AstraZeneca, „dass das so schnell geht - das stößt eine neue Ära der Impfstoffforschung auf“, sagt Professor Stephan Becker. Direktor des Instituts für Virologie an der Philipps‐Universität Marburg. Ganz vorn mit dabei: der Mainzer Hersteller BioNTech.
Für den Vorsitzenden der Adenauer-Stiftung Professor Norbert Lammert ist das eine Erfolgsgeschichte, die auch die Politik maßgeblich beeinflusst: „Die moderne Wissenschaft hat die aktuelle Politik mit Handlungs- und Gestaltungsmöglichkeiten auch in Krisenlagen ausgestattet, die wir uns vor wenigen Jahren oder Jahrzehnten nicht einmal hätten vorstellen können.“ Nur die atemberaubende Geschwindigkeit, mit der die Forschung jetzt sichere und wirksame Vakzine zur Verfügung gestellt hat, hat es überhaupt erst ermöglicht, dass Deutschland so intensiv über die Impfstoffverteilung diskutiert. Für Forschungsministerin Anja Karliczek geht dabei eines jedoch etwas unter: „Wir können stolz darauf sein, was die Unternehmen geleistet haben“, findet sie.
Professor Dirk Brockmann: Das Silo-Denken „ist durch die Pandemie weggewischt worden“
Für den BioNTech-Erfolg zeichnet auch maßgeblich das Bundesministerium für Bildung und Forschung, kurz BMBF, verantwortlich. Denn das Unternehmen hat „2008 klein angefangen“, profitierte aber von der Wissenschaftsförderung des BMBF, berichtet dessen Finanzvorstand und operativer Geschäftsführer Dr. Sierk Poetting. So konnten sich die BioNTech-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter auf die Grundlagenforschung konzentrieren: Dank der frühen öffentlichen und der langfristigen privaten Förderung „ waren wir sechs bis sieben Jahre auf Tauchstation und mussten nicht nach außen gehen“, erinnert sich Poetting. „Vorbereitung ist entscheidend für eine schnelle Reaktionszeit“, stimmt Becker zu und mahnt an, „mehr solche Pipelines aufzubauen, die man für den Fall, dass man sie braucht, nutzen kann.“
„Die starke Zusammenarbeit unter verschiedenen Disziplinen“ ist Professor Dirk Brockmann im vergangenen Jahr positiv aufgefallen. Er forscht an der Humboldt-Universität zu Berlin an der Modellierung der Ausbreitung und Dynamik von Infektionskrankheiten und stellte fest, dass das Silo-Denken „durch die Pandemie weggewischt worden“ ist. Brockmann empfiehlt der deutschen Forschungslandschaft eine stärkere Verzahnung von Biologie, Medizin und den Sozialwissenschaften - auch wenn das methodisch und personell schwierig sei.
Braucht Deutschland einen Pandemie-Rat?
Lockdown, Schließungen von KiTas, Schulen, Betrieben und dem Einzelhandel, Maskenpflicht: Nicht nur auf Forschungsebene ist das kollaborative Arbeiten wichtig, auch an der Schnittstelle zur Politik, die schließlich die Entscheidungen treffen muss: Die ad-hoc-Arbeitsgruppen der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina sind ein solches Beispiel. Neben anderen Fachrichtungen kamen Virologen, Bildungsexpertinnen, Biologen, Kinder- und Jugendmedizinerinnen, Rechtsphilosophen und Psychologinnen zusammen und bezogen seit Pandemiebeginn regelmäßig gemeinsam Stellung, auf die sich die Regierungen in Bund und Ländern stützen konnten. Der Physiker Brockmann habe als Teil der ad-hoc-Arbeitsgruppe „den Vorteil ausgelebt, anderen Disziplinen zuzuhören. Denn ich will das hören, was bspw. Virologen sagen, da kenne ich mich nicht aus.“
Und so kam in der Diskussion die Frage auf, ob Deutschland einen ständigen, interdisziplinären Pandemie-Rat braucht, ähnlich beispielsweise dem „Rat der fünf Wirtschaftsweisen“. Eine solche Institution könne einzelne Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler schützen, befindet Becker und verweist auf das Beispiel des Virologen Christian Drosten, „der sehr exponiert ist“. Was auch immer der Name dieses Expertinnenrats sei, damit „könnten wir auch Hektik rausnehmen“, so Becker.
Dr. Dierk Poetting: Forschung, Firmen, Politik und Behörden müssen „an einem Strang ziehen“
Zwar hatten sich Leopoldina, Ethikrat und Ständige Impfkommission mit der Reihenfolge auseinandergesetzt, welche Personengruppen wann geimpft werden sollen. Aber die teils aggressiven Diskussionen um die Ergebnisse habe dieses interdisziplinäre Gremium nicht verhindern können - trotz der fundierten Begründungen. Karliczek brachte deswegen den Vorschlag einer „schnellen Eingreiftruppe“ auf den Tisch. Wenn eine Gruppe von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zum Beispiel im Falle eines Shitstorms Einzelne unterstützen könne und dagegen hält, mit argumentiert. Schließlich, resümiert Poetting, habe die Krise gezeigt, dass wir nur erfolgreich sein können, wenn Forschung, Firmen, Politik und Behörden „an einem Strang ziehen“.
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