Veranstaltungsberichte
Die aktuellen Schlagzeilen des Wochenendes bestimmten dabei auch die Diskussion: Die ersten freien Parlamentswahlen in Tunesien standen dabei für eine eher hoffnungsfroh stimmende Entwicklung, während die anhaltenden Angriffe der Terrormiliz „Islamischer Staat“ in Syrien und im Irak eher als Indizien für einen „islamistischen Winter“ gesehen wurden, der dem kurzen „arabischen Frühling“ im Jahr 2011 folgte.
Jörg Armbruster über die Terrormiliz IS
Jörg Armbruster, Auslandskorrespondent der ARD, der im März 2013 im Rahmen seiner Arbeit in Syrien angeschossen worden war, beschrieb in seinem Vortrag sowohl die positiven als auch die negativen Entwicklungen in der Region. Für ihn war der Vormarsch der IS-Terroristen nicht ganz so neu und überraschend, da es schon vor einem Jahr von diesen ausgeübte „Terrorwellen im Irak“ gegeben habe. Wie dramatisch sich die Lage aber heute zugespitzt hat, machte Armbruster deutlich, als er darauf hinwies, dass die IS-Terrormiliz heute auf ihrem Vormarsch nur noch 20 Kilometer vom Flughafen in Bagdad entfernt sei. Mit Panzern, Kampfhubschraubern, Humvees, vielen schweren Waffen ausgerüstet, sei IS „die am besten ausgestattete Terrormiliz“. Dazu käme noch die hervorragende finanzielle Ausstattung durch Lösegelderpressungen, Ölverkäufe aus den eroberten Ölfeldern, Baumwollverkäufe aus der von IS ebenfalls eroberten und für ihre hochwertige Baumwolle bekannten Region Rakka. Armbrusters bittere Erkenntnis: „Die Türkei lässt die Geschäfte zu. Manche Händler verdienen sich eine goldene Nase“. Erst kommt das Fressen, dann die Moral: Da IS die Öl und Baumwolle weit unter den Weltmarktpreisen verkaufe, fänden die Produkte auch ihre Abnehmer.
Die Entführungen und Folterungen durch IS haben schreckliche Ausmaße angenommen. Auch Gegner Assads waren davon betroffen. Armbruster schilderte, dass ein Folteropfer durch diese Erfahrungen „seine Leidenschaft für die Rebellion gegen Assad verloren habe“. Doch nicht nur Assad profitiert so indirekt durch IS, sondern auch die Türkei: „In türkischen Krankenhäusern sind verletzte IS-Kämpfer gesund gepflegt worden, weil sie gegen kurdische Kämpfer in Syrien genutzt werden konnten“, so Armbruster. Der Türkei gehe es darum, „die türkisch-kurdische PKK und syrisch-kurdische PYD in Schach zu halten“, um einen Kurdenstaat auf syrischem Gebiet zu verhindern, der von der PKK beeinflusst sein würde und als Rückzugsgebiet für die türkischen Kurden dienten könnte.
IS – ein Kind des Irak
Doch warum ist es überhaupt zu der überraschenden Stärke von IS gekommen? Eine entscheidende Ursache sei, so Armbruster, in der Politik der schiitisch dominierten Regierung des ehemaligen irakischen Ministerpräsidenten Maliki zu sehen, die „die Sunniten ausgegrenzt und von den Öleinnahmen abgeschnitten“ habe: „Ein Teil der Sunniten ging in den Untergrund und schloss sich ISIS an. ISIS ist ein Kind des Irak“, so Armbruster.
Sunniten müssen IS im Irak bekämpfen
Schon im Jahre 2010 hatte Armbruster eine „Weltspiegel“-Sendung zu diesem Thema gemacht. Maliki habe die Integration der Stammesmilizen in die irakische Armee und Sicherheitskräfte verweigert und erst sein Amtsverzicht im Juli 2014 habe die Bildung einer Regierung ermöglicht, die „den tiefen Riss zwischen Sunniten und Schiiten überbrücken“ könne. Malikis Nachfolger Haider Al-Abadi habe dem gegenüber einen Sunniten zum Verteidigungsminister ernannt und damit die Sunniten eingebunden und ihnen den Sicherheitsapparat anvertraut. Nun müsse die irakische Armee sunnitische Militäreinheiten ausbilden, um die Sunnitengebiete von IS zu befreien. Hierzu seien die Kurden nämlich nicht bereit, da sie IS nur aus den von ihnen als kurdisch beanspruchten Gebieten vertreiben würden. Die kurdischen Peshmergakämpfer würden dazu auch die ihnen übergebenen deutschen Waffen mitnehmen. Die notwendige Ausrüstung der kurdischen Peshmerga sei zwar eine „Verzweiflungstat“, aber eine „richtige Verzweiflungstag“ meinte Armbruster.
Kurdenfrage in vier Staaten virulent
Kamal Sido, der in der Gesellschaft für bedrohte Völker zu Kurdenfrage arbeitet, schilderte in seinem Vortrag die Geschichte der Kurden in Syrien, Iran, Irak und in der Türkei. Dabei machte er deutlich, wie stark eingeschränkt die Rechte der Kurden in diesen vier Ländern auch heute noch sind. Auch in der Türkei, die seit drei Jahren einen Friedensprozess mit den Kurden hat, gebe es 8.000 kurdische politische Gefangene. Allein bei den letzten Protesten der Kurden gegen das türkische Verhalten in der syrisch-türkischen Grenzregion, nachdem die Stadt Kobani von den IS-Terroristen angegriffen worden war, seien rund 1.000 Kurden festgenommen worden. Der Terror des IS habe die Kurden aber auch „wachgerüttelt“, sonst hätte der konservative Islam bei den Kurden immer mehr an Boden gewonnen, so Sido. Aus Sidos Perspektive hat der Vormarsch des IS die Konfliktlage in Syrien drastisch verändert: „Die Christen, die Alewiten, die Kurden haben vor der Opposition Angst. Wir wollen ein Syrien für Alle und sind nicht auf die Straße gegangen, um einen „Islamischen Staat“ zu bekommen“, so Sido, der selbst sunnitischer Kurde aus Syrien ist.
Flüchtlingskrise im Libanon
Doch nicht nur die Menschen in Syrien leiden unter dem dort seit dreieinhalb Jahren tobenden Bürgerkrieg im Land. Auch in den Nachbarstaaten wird die Situation immer unerträglicher. Der Leiter des Auslandsbüros der Konrad-Adenauer-Stiftung in Beirut, Peter Rimmele, schilderte die immer dramatischer werdenden Bedingungen für die Flüchtlinge im Land. Bis vor einer Woche hatte der Libanon eine „open door policy“ und syrische Flüchtlinge konnten ins Land. Dies führte aber zu einer immer schwierigeren sozialen Lage im Innern des Landes, selbst das Trinkwasser wurde knapp, und Krankheiten verbreiteten sich aufgrund mangelnder Hygiene. Auch die sozialen Umstände wurden laut Rimmele immer schlecht. Zwar stünden den syrischen Flüchtlingskindern die öffentlichen Schulen offen, aber viele Kinder ab etwa elf Jahren müssten auch arbeiten, vor allem in der Landwirtschaft, wodurch sie ohne Schulabschluss blieben. „Das hat Auswirkungen bis weit in die Zukunft“, so Rimmele. Aufgrund der negativen Folgen der syrischen Flüchtlingskrise auch für die libanesische Bevölkerung nähmen Diskriminierungen zu: Syrer würden teilweise pauschal als „kriminell“ bezeichnet und es käme auch zu Angriffen auf Zeltlager der Flüchtlinge, was aber „unter der Decke gehalten“ werde.
Der IS habe in Libanon auch an manchen Orten seine Flaggen gehisst, aber er werde sich im Libanon nicht ausbreiten, da ihm dafür der Rückhalt in dem Land fehle, meinte Rimmele.
Salafismus zwischen Attraktion und jihadistischer Gefährdung
Warum sich der Salafismus in seinen verschiedenen Ausprägungen in Deutschland immer mehr ausbreitet, erläuterte der Islamwissenschaftler Thorsten Schneiders bei der Vorstellung des von ihm herausgegebenen Buches „Salafismus in Deutschland. Ursprünge und Gefahren einer islamisch-fundamentalistischen Bewegung“. „Was macht den Salafismus so attraktiv für junge Menschen?“, fragte er und führte mehrere Gründe hierfür an: „Der Salafismus ist leicht zu verstehen. Man muss sich nur an religiöse Gebote halten, die den Anhängern von netten Brüdern und Schwestern beigebracht werden. Und es gibt ein starkes Gemeinschaftsgefühl gegen äußere Anfeindungen.“ Da laut Verfassungsschutz rund 90 Prozent der ca. 7.000 Salafisten einen ausländischen Hintergrund hätten, wüssten die Anhänger zudem oft nicht, wohin sie gehörten. Hierzu hätten auch die Sarrazin-Debatte über Integrationsdefizite und die Debatte um die Zugehörigkeit des Islams zu Deutschland beigetragen. „Salafismus wird zur Ersatzidentität“, erklärte Schneiders. Die Anhänger der Salafisten seien oft aus einfachen Verhältnissen stammend. Oft führten zudem Schulversagen und Bildungsdefizite zu fehlenden beruflichen Perspektiven. Durch den Salafismus erführen die Anhänger dagegen Respekt und die Macht, „über einer vorgeblich moralisch verkommenen Welt zu stehen“. Bei den jihadistischen Salafisten, die bereit seien für ihren Glauben zu töten, werde der Aufruf zur Teilnahme am Jihad durch deutsche Jihadisten wie Denis Cuspert als „Abenteuer“ und „Jihadromantik“ gesehen. Da IS über viel Geld verfüge, könne er zudem einen guten Sold bezahlen, mehr als andere Gruppen, was materielle Beweggründe nach sich ziehe, so Schneiders.
Die ägyptische Dynamik unter Präsident Abdel Fattah Al-Sisi
Jan Bittner, der in der politischen Abteilung der deutschen Botschaft in Kairo arbeitet, berichtete über die aktuellen Entwicklungen in Ägypten. Die Umbrüche und Regierungswechsel von Mubarak zu Mursi und schließlich zu Al-Sisi kommentierte er prägnant: „Es gibt in der ägyptischen Gesellschaft eine bewundernswerte Weise mit Problemen umzugehen und einen Ausgleich zu finden.“ Das Interesse im Auditorium an der Entwicklung in diesem wichtigen arabischen Staat war besonders groß. Die Diskussionen fokussierten sich einerseits auf die Möglichkeiten der Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Ägypten in den Bereichen Wirtschaft und Sicherheit, andererseits auf die innenpolitischen Entwicklungen. Intensiv wurde dabei die Frage diskutiert, ob eine politische und wirtschaftliche Stabilisierung auch eine politische Öffnung in Ägypten begünstigen könnte.
Israel und die Palästinensischen Gebiete nach dem Gazakrieg
Mohammed Hegazy, der in den Jahren 1996 und 2006 für die sakulare Partei FATAH in Rafah (Gazastreifen) ins palästinensische Parlament gewählt wurde, schilderte in seinem Vortrag die verheerenden Folgen des letzten Krieges, den er im Gaza-Streifen miterleben musste. Rund 2.100 Tote, 11.000 Verwundete, davon 1.000 Rollstuhlfahrer, 400.000 Obdachlose habe der Krieg erzeugt. Viele wollten heute ins Ausland gehen. Aus seiner Heimatstadt Rafah seien bereits 40 Jugendliche bei dem Versuch ertrunken, den Gazastreifen über das Meer zu verlassen. Die junge Generation sehe für sich keine Zukunft im Gazastreifen. Positiv hob er hervor, dass die internationale Gemeinschaft bei den jüngsten Verhandlungen in Kairo vier Milliarden Dollar für den Wiederaufbau des Gazastreifens zugesagt habe. „Unsere Probleme können nur politisch gelöst werden“, sagte Hegazy.
Der Siedlungsbau geht weiter
Auch der Publizist und Buchautor Joseph Croitoru, dessen Familie nach der Gründung des Staates Israel mit einer Welle von 400.000 anderen Rumänen aus Rumänien nach Israel gezogen war, äußerte sein Verständnis für die Frustration auf palästinensischer Seite. Er zitierte den israelischen Bauminister Uri Ariel, der „bis 2019 einen Anstieg der Siedler in Judäa und Samaria um 50 Prozent auf 600.000“ angekündigt habe. Ministerpräsident Netanjahu und Außenminister Liebermann versuchten Abbas, der durch die neuerliche „Wende im arabischen Frühling gestärkt“ sei, zu delegitimieren. So habe Netanjahu ihm am 29.9.2014 vor der UN-Vollversammlung vorgeworfen, „ein judenreines Palästina schaffen zu wollen und ihn damit in die Nähe des Nationalsozialismus gerückt“. Auch Gegner der israelischen Palästina-Politik würden als „von den Nazis inspiriert und als Antisemiten bezeichnet“, so Croitoru. Der Chefredakteur der israelischen Tageszeitung Haaretz, Aluf Ben, habe die Entwicklung in Israel den „Frühling der israelischen Rechten“ genannt.
Das Gemeindeleben im Iran
Pfarrerin Almut Birkenstock-Koll und Pfarrer Ingo Koll, die die evangelische Gemeinde deutscher Sprache in Teheran seit Oktober 2009 leiten, schilderten die religiöse Vielfalt im Iran. Insbesondere gingen sie auf die verschiedenen christlichen Gemeinden ein. Neben den Juden und den Zoroastriern gehören die Christen zu den staatlich anerkannten Religionen und haben Abgeordnete im Parlament (Madschles) sitzen. Interessante Einblicke gewährte das Pfarrerspaar auch in das eigene Gemeindeleben.
Die Lage der Christen im Irak
Der Irak-Beauftragte des Caritas-Verbandes für das Bistum Essen schilderte auf dem Abschlusspanel zu den Christen im Orient die Lage der Christen im Irak. Viele irakische Christen seien jetzt in die Region Kurdistan-Irak geflohen. Die kurdische Regionalregierung habe hier „mustergültige Camps“ aufgebaut. Die Situation habe sich aber schon im Jahr 2013 verschärft, als in einer Woche 70.000 Flüchtlinge gekommen seien. Vor dem Hintergrund der aktuell noch weiter gestiegenen Flüchtlingszahlen durch den Vormarsch von IS in Syrien und im Irak sei die Versorgungslage bis heute nicht geregelt – „vor dem Wintereinbruch ist keine Hilfe in Sicht“ zog Löffelsend bittere Bilanz.
Die Bilanz der Referenten des 15. Mülheimer Nahostgesprächs über die Entwicklungen in der Region fiel insgesamt somit gemischt aus: Zu viele Krisenherde im Nahen Osten und in Nordafrika destabilisieren die gesamte Region und blockieren die sozialen, wirtschaftlichen und politischen Prozesse. Hoffnungsschimmer, wie die Parlamentswahlen in Tunesien, sind aber ebenfalls zu erkennen. Die Entwicklung in der Region ist für Deutschland und Europa von zentraler Bedeutung, da sie auch unsere Sicherheit beeinflusst. Die Zusammenarbeit mit den Ländern der Region muss daher weiter ausgebaut werden. Europa kann einen wichtigen Beitrag zur wirtschaftlichen, politischen, sozialen und sicherheitspolitischen Stabilisierung leisten und dieser Beitrag wird in der Region auch von uns angefragt.