Länderberichte
Die Bevölkerung steht vor den Trümmern ihrer Städte. Ganze Viertel sind zerstört, Wohnhäuser, Läden, sogar die Usbekische Universität von Dschalal Abad. Die Verwaltung der Stadt Osch gibt an, dass 70 % der Gebäude in der Stadt abgebrannt sind. Usbeken und Kirgisen gehen einander aus dem Weg, aber man sieht wieder Menschen auf den Straßen, vorsichtige Aufräumarbeiten beginnen.
Ein viel größeres Problem findet sich jetzt außerhalb der Städte, an der Grenze zu Usbekistan. Nach Schätzungen der UN haben die Unruhen in Südkirgistan ca. 400.000 Menschen in die Flucht getrieben, viele davon in Richtung Usbekistan. Bereits am Montag, den 14. Juni, waren zehntausende Menschen über die Grenze nach Usbekistan geflüchtet. Die usbekischen Behörden schätzten zu diesem Zeitpunkt die Zahl der Flüchtlinge auf ihrem Territorium auf 80.000. Beobachter und Hilfsorganisationen halten diese Zahl für realistisch. Kurz darauf schloss Usbekistan seine Grenzübergänge im Fergana-Tal. Der stellvertretende Premierminister, Abdulla Aripow, sagte, sein Land könne keine Flüchtlinge mehr aufnehmen, es seien einfach zu viele Menschen. Usbekistans Kapazitäten seien überschritten. Tatsächlich war Usbekistan auf einen solchen Ansturm nicht vorbereitet. Auch die usbekische Seite des Fergana-Tals ist eine arme Region. Die Menschen dort leben von der Landwirtschaft, hauptsächlich wird Baumwolle angebaut. 80.000 Flüchtlinge unterzubringen und zu versorgen ist schwierig, zumal das Fergana-Tal schwer zugänglich ist: Man kann nur per Auto über eine steile Passstraße oder mit dem Flugzeug hineingelangen.
Die Flüchtlinge aus Kirgistan werden in öffentlichen Gebäuden und Zelten in unmittelbarer Grenznähe, in der Region Andischan, untergebracht. Es gibt jedoch kaum genug Platz für alle. Die örtliche Bevölkerung kümmert sich freiwillig um die Flüchtlinge, soweit sie dazu in der Lage ist. Die Solidarität ist groß, trotz der eigenen Armut. Am 16. Juni öffnete Usbekistan wieder einige Grenzübergänge, so dass mittlerweile mindestens 100.000 Flüchtlinge die Grenze überquert haben. Bereits am 15. Juni kamen größere Hilfslieferungen internationaler Organisationen per Flugzeug in Andischan an, vor allem Zelte, Lebensmittel und Medikamente. UN-Koordinatorin Anita Nirodi, die nach eigenen Angaben alle usbekischen Flüchtlingscamps ungehindert besichtigen konnte, lobte die Lage dort. Die Menschen würden angemessen mit Lebensmitteln und Medikamenten versorgt, die Umgebung sei hygienisch, alle erforderlichen Standards würden erfüllt.
Auf der kirgisischen Seite der Grenze sowie in Osch und Dschalal Abad kommen Hilfslieferungen hingegen nur langsam an, viele Flüchtlinge sind noch unversorgt. Augenzeugen berichten von Raubüberfällen kirgisischer Banden auf Hilfstransporte, ethnische Usbeken würde bei der Verteilung von Hilfsgütern benachteiligt. Es gibt kaum Medikamente, die Menschen trinken verunreinigtes Wasser, weil es zu wenig Trinkwasser gibt. Wenn sich die Situation nicht schnell bessert, könnten sich Krankheiten rasch verbreiten.
Aber auch in Usbekistan wird sich die Lage verschärfen, wenn die Flüchtlinge nicht bald wieder in ihre Heimat zurückkehren können oder der Flüchtlingsstrom sogar noch anschwillt. Die usbekische Regierung ist normalerweise eher zurückhaltend, was die Zusammenarbeit mit internationalen (Hilfs-) Organisationen angeht. Im Falle dieser Flüchtlingskatastrophe scheint die Koordination, besonders mit der UN und dem IRK, jedoch zu funktionieren. UN-Generalsekretär Ban Ki Moon bedankte sich bei Usbekistan für die offene Zusammenarbeit. Auch der russische Präsident Medwedjew sagte Usbekistan umfangreiche Hilfslieferungen zu. Das russische Außen- und das Zivilschutzministerium werden den usbekischen Behörden helfen, noch mehr Flüchtlinge aufzunehmen und zu versorgen, sagte die Sprecherin des Präsidenten, Natalia Timakowa. Entgegen seines sonst üblichen Auftretens als Lonely Player kooperiert Usbekistan mit internationalen Organisationen und Behörden, es lässt sich helfen. Die anderen Nachbarländer Kirgistans halten bisher eher bedeckt, was Hilfsangebote angeht.
Die militärische Präsenz an der usbekisch-kirgisischen Grenze wurde auf usbekischer Seite deutlich verstärkt, die usbekische Regierung versicherte der kirgisischen Übergangsregierung jedoch ihr Vertrauen. In ihrem einzigen offiziellen Statement zu den Unruhen wird angedeutet, dass man externe Kräfte hinter den Krawallen vermute, deren Interessen sich völlig von denen des kirgisischen Volkes unterschieden, eine Anspielung auf den Bakijew-Clan. Die Geschichte habe gezeigt, so die offizielle usbekische Erklärung, dass Kirgisen und Usbeken eigentlich friedlich miteinander leben könnten.
Usbekistan ist sichtbar um Deeskalation und Stabilität bemüht. Eine Ausweitung der Unruhen könnte zu einem Flächenbrand in Mittelasien führen. Sollte sich herausstellen, dass die die Unruhen in Osch und Dschalal Abad tatsächlich geplant und ganz gezielt ausgelöst wurden und dass ethnische Usbeken im Vorhinein als „Opfer“ ausgewählt wurden, könnte sich der usbekische Volkszorn gegen die in Usbekistan lebende kirgisische Minderheit richten, zumal sich abzeichnet, dass die tatsächliche Zahl der hauptsächlich usbekischen Todesopfer nicht nur mehrere Hundert betragen, sondern sogar jenseits der Tausend liegen könnte. Dennoch reagiert man besonnen und umsichtig. Bisher muss Usbekistan, was sein Verhalten den Unruhen und der daraus resultierenden Flüchtlingskatastrophe gegenüber angeht, Respekt gezollt werden. Entgegen den Befürchtungen einiger Beobachter scheint Usbekistan ein militärisches Eingreifen in Kirgistan nicht in Erwägung zu ziehen. Ein solcher Schritt würde die Lage ohnehin nur verschärfen, auch ein Friedenseinsatz usbekischer Soldaten würde von kirgisischer Seite auf jeden Fall als Aggression wahrgenommen.