Déja-vu bei den Vereinten Nationen
Angesichts der Annexion von vier Regionen im Südosten der Ukraine erlebte die internationale Staatengemeinschaft in dieser Woche ein Déjà-vu bei den Vereinten Nationen in New York.
Bereits 2014 scheiterte eine Verurteilung der russischen Krim-Annexion zunächst am Veto Russlands im Sicherheitsrat. Damals füllte die UN-Generalversammlung auf der Basis der „Uniting for Peace Resolution“ das Vakuum und verurteilte das Referendum mit 100 Stimmen (bei elf Gegenstimmen und 58 Enthaltungen). Auch seit Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine im Februar 2022 ist es die UN-Generalversammlung in ihrer 11. Sondersitzung, die die Staaten der internationalen Gemeinschaft auf die Prinzipien der UN-Charta erneut verpflichtet und Russlands Angriff auf diese Prinzipien der Solidarität, Unabhängigkeit und territoriale Integrität einschwört[1].
Vorspiel im Sicherheitsrat
Nachdem Präsident Putin am 21. September die Volksabstimmungen in den Regionen Donezk, Cherson, Luhansk und Saporischschja angekündigt und nach deren Durchführung diese Regionen annektiert hatte, brachten Albanien und die USA am 30. September im UN-Sicherheitsrat eine Resolution als Entwurf ein, die Putins völkerrechtswidriges Vorgehen an den Pranger stellte und alle Staaten der UN dazu aufforderte, diese Annexionen nicht anzuerkennen. Bereits am Tag zuvor hatte UN-Generalsekretär Guterres Russlands Vorhaben als rechtswidrige und die Prinzipien der Charta der UN verletzende Aktion verurteilt.
Obgleich von Beginn an klar war, dass diese Resolution im Sicherheitsrat am Veto Russlands scheitern würde, stellte sie nicht nur die Ausgangsbasis für den nächsten Schritt am 10. Oktober in der Generalversammlung dar. Der Abstimmungsprozess im Sicherheitsrat besitzt Symbolcharakter für die Isolation Russland und zwang die Mitglieder, sich zu positionieren. China enthielt sich wie bereits bei vorherigen Abstimmungen und platzierte kein Doppelveto. Gabun, das sich auch in anderen Abstimmungen bereits eher pro-russisch geäußert hatte, enthielt sich und spaltete damit die afrikanische Gruppe im Sicherheitsrat (Ghana und Kenia stimmten für die Resolution). Brasilien, dessen Präsident Bolsonaro ein Putin-Bewunderer ist, enthielt sich mit dem Verweis auf mangelnde Transparenz und Einbindung bei der Ausarbeitung der Resolution durch die Penholder USA und Albanien. Auch Indien verweigerte bei dieser Abstimmung im Sicherheitsrat erneut eine klare Positionierung zum völkerrechtswidrigen Verhalten Russlands.
Eine Geschäftsordnung als machtpolitisches Instrument Russlands
Die Debatte der Resolution A/ES-11/L.5 „Territorial integrity of Ukraine: defending the principles of the Charter of the United Nations“ in der Sondersitzung der 77. UN Generalversammlung fand unmittelbar nach den Bombenangriffen auf zehn ukrainische Städte, inklusive Kiew, statt.
„We are now at a tipping point where the UN will either restore its credibility or ultimately fall in failure.“
Sergiy Kyslytsya, Ständiger Vertreter der Ukraine bei den Vereinten Nationen, New York, 10.10.2022
Zahlreiche Delegierte verurteilten die Annexionen Russlands und die damit einhergehenden Verletzungen des Völkerrechts, kritisierten aber auch die Handlungsunfähigkeit des UN-Sicherheitsrates. Sergiy Kyslytsya, der Ständige Vertreter der Ukraine, ging in seinen Ausführungen zur Resolution sogar weiter und sah die Glaubwürdigkeit der Vereinten Nationen auf dem Spiel.
Der russische Ständige Vertreter bei den Vereinten Nationen, Vassily Nebenzia, wiederholte in seinen Interventionen nicht nur die russische Propaganda, in der dem Westen bzw. der NATO die Absicht unterstellt wird, eine geopolitische Unterjochung Russlands anzustreben und ausschließlich auf eine Eskalation hinzuarbeiten. Er versuchte auch, eine öffentliche Debatte zur Resolution unter Verweis auf Art 87 der UNGA-Geschäftsordnung zu unterbinden. Unter dem Vorwurf, dass Staaten unter Druck gesetzt würden und lediglich eine geheime Abstimmung eine unabhängige Stimmabgabe garantieren könne, forderte er den erst seit Mitte September im Amt befindlichen Präsidenten der 77. Generalversammlung, Caba Körösi, heraus. Dieser musste gleich zweimal die Mitglieder über den weiteren Prozess abstimmen lassen. Bei diesen Abstimmungen zeichneten sich bereits klar die Lager ab: Länder wie Belarus, Kuba, Eritrea, Iran, Nicaragua, Nordkorea, Sudan, Syrien, aber auch Mali und Kasachstan stimmten mit Russland, über 100 Staaten stellten sich gegen Russland und rund 35 Staaten zogen es vor, sich zu enthalten.
Debatte in der Generalversammlung
Die eigentliche Debatte in der Generalversammlung zog sich über zwei Tage (10. und 12. Oktober 2022).
Die Debattenbeiträge der Staaten aus der Gruppe der G77, die schon während des Kalten Krieges Bezug auf ihre Neutralität nahmen, sind dabei von besonderem Interesse, da sie Aufschluss nicht nur über die Reichweite des russischen Einflusses geben, sondern auch die Empfindlichkeiten des Globalen Südens herausarbeiten.
China, das zwar nicht offiziell Teil der G77 ist, aber häufig mit dieser und für diese Staatengruppe spricht, hielt an seiner Politik der Enthaltung fest. Der chinesische Vertreter mahnte in seinem Debattenbeitrag vor allem eine Einstellung der Kampfhandlungen an und forderte eine Lösung des Konfliktes durch Dialog.
Die Vertreter Indonesiens und Südafrikas kritisierten den mangelnden Verweis auf Friedensverhandlungen in der zur Diskussion stehenden Resolution. Ein Vorwurf, der auch von jenen, die sich im Sicherheitsrat der Stimme enthalten, oft zu hören ist: eine Isolation Russlands trage lediglich zur Eskalation bei. Ziel müsse es sein, Verhandlungen zu führen und auf einen Friedensprozess hinzuarbeiten.
Von afrikanischer Seite waren es lediglich Ghana und die Demokratische Republik Kongo, die sich dezidiert für die Resolution mit einem eigenen Debattenbeitrag vor dem Votum einsetzten.
Von den Staaten Zentralasiens und Subsahara Afrikas, die sich enthielten, nahmen nur einige wenige die Möglichkeit war, ihr Votum zu erläutern. Südafrika, das noch im März versuchte, mit einer Gegenresolution die Allianz gegen Russland aufzuweichen, erläuterte die eigene Stimmenthaltung mit Verweis auf die Verpflichtung auf die UN-Charta. Kritisierte aber zugleich, dass die zur Abstimmung stehende Resolution keine konkreten Empfehlungen zur Beendigung des Konfliktes enthalte.
Weitaus ehrlicher erschien die Rechtfertigung Angolas, welches auf die traditionellen Bande zu Russland, die bis zum eigenen Unabhängigkeitskampf zurückreichen und die aktuellen engen Kooperationsbeziehungen verwies; sich aber auch dezidiert zu den Prinzipien der UN-Charta (territoriale Integrität, Souveränität und Nicht-Einmischung) sowie zur Freundschaft mit der Ukraine bekannte.
„Take a hard look whether you deserve a seat on the Security Council“, Ständiger Vertreter Papua New Guinea, H.E. Fred Sarufa, 12.10.2022
Als streitbare Verteidiger der UN-Charta zeigten sich die kleinen Inselstaaten. Der Vertreter Papua-Neuguineas stellte die Berechtigung Russlands für einen Sitz im Sicherheitsrat in Frage. Die Vertreterin Palaus appellierte an all diejenigen, die sich bislang auf eine neutrale Position zurückzogen und enthielten, sich zur UN-Charta zu bekennen. Den Verbündeten Russlands gab sie mit auf dem Weg, dass wahre Freunde auch daran zu erkennen seien, dass sie dort korrigieren, wo man sich auf Irrwegen befindet.
Geschlossen gegen den Aggressor Russland
Bereits im März stellten sich Beobachter die Frage, ob es der internationalen Staatengemeinschaft gelingen würde angesichts der Auswirkungen des Krieges auf die globale Wirtschaft, auf Energiesicherheit und Nahrungsmittelversorgung, aber auch aufgrund der russischen Propaganda und Desinformationskampagnen, die Geschlossenheit zu waren.
Mit Spannung erwartete man daher die Abstimmung am 12. Oktober 2022.
Am Ende stimmten 143 Staaten und damit sogar zwei mehr als im März für die Resolution und verurteilten das völkerrechtswidrige Vorgehen Russlands durch die Annexion der ukrainischen Gebiete.
Das Lager der Unterstützer Russlands blieb zahlenmäßig gleich bei vier. Eritrea, das noch im März mit Russland gestimmt hatte, enthielt sich dieses Mal. Dafür reihte sich Nicaragua in die Reihe der Russland Unterstützer ein.
Acht Monate nach Kriegsbeginn ist diese Geschlossenheit der internationalen Staatengemeinschaft und ihr Wille, dem Aggressor die Stirn zu bieten beachtlich. Sie besitzt Symbolkraft und ist ein Signal an Putin, dass er so schnell keine Unterstützung des Globalen Südens erhalten wird. Sie ist aber auch ein wichtiges Lebenselixier für die Vereinten Nationen.
[1] siehe Länderberichte KAS Büro New York, www.kas.de/web/newyork/publikationen
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