Wahl unter außergewöhnlichen Bedingungen
Die Wahl fand unter den Pandemiebedingungen statt, die die Welt seit Monaten vor außergewöhnliche Herausforderungen stellt. Im ganzen Land wurden die Wahlstationen auf die sanitären Bedingungen vorbereitet. Im öffentlichen Raum herrscht landesweit bereits seit Monaten Maskenpflicht. Vor und in den Wahllokalen wurden Abstandsmarkierungen eingezogen. Zudem wurden die Menschen gebeten ihre eigenen blauen Kugelschreiber und Desinfektionsspray mitzubringen. In vielen Kommunen wurden kostenfreie Shuttles zu den Wahlstationen eingerichtet. Für ältere Wähler wurden bevorzugte Zeiten am Nachmittag und Sonderzugänge in die Wahllokale reserviert.
In den letzten Tagen vor der Wahl stieg stetig die Anspannung. Beide Lager – für („Apruebo“) und gegen („Rechazo“) die Ausarbeitung einer neuen Verfassung - wandten sich nochmals mit emotionalen Wahlspots hauptsächlich über die sozialen Medien an ihre Unterstützer. Am Wahltag selbst war die Stimmung weitgehend gelöst und entspannt. Die Menschen hielten sich an die sanitären Auflagen und stellten sich diszipliniert vor ihren Wahllokalen in die wartende Schlange. Angesichts der besonderen Umstände hatten die Wahllokale von 8 bis 20 Uhr geöffnet.
Bereits nach einem Drittel der ausgezählten Stimmen ab 21 Uhr zeichnete sich das klare Votum der Befürworter einer neuen Verfassung ab. Präsident Sebastían Piñera trat daher bereits um 21.15 Uhr mit seinem gesamten Regierungskabinett vor den Regierungssitz La Moneda und bekräftigt den unverrückbaren Willen seiner Regierung, dem Plebiszit nun den verfassungsgebenden Prozess folgen zu lassen. Er lobte seine Landsleute, die diesen Tag zu einem demokratischen Fest haben werden lassen und rief sie auch in den folgenden Monaten zu Kompromissbereitschaft und Gewaltfreiheit auf.
Nachdem sich der solide Abstand zwischen „Apruebo“ und „Rechazo“ bald bestätigte, füllten sich schnell die zentralen Plätze in vielen Kreisstädten im ganzen Land mit fahnenschwenkenden und singenden Menschen. Am Plaza Italia, im Herzen Santiagos, an dem vor einem Jahr die Demonstrationen ihren Ursprung gefunden hatten und der über die vergangenen Monate immer wieder Zentrum gewalttätiger Zusammenstöße zwischen Demonstrierenden und Sicherheitskräften war, versammelten sich bis Mitternacht mehrere Tausend Menschen, die den Sieg des „Apruebo“ feierten.
Wie geht es jetzt weiter?
Auf einem zweiten Wahlschein konnten die Wähler angeben, wie die Versammlung zusammengesetzt werden soll, die die zukünftige Verfassung ausarbeiten soll. Hier entschied sich eine Mehrheit der Wähler für eine gewählte Verfassungsversammlung („Convención Constitucional“) mit 155 Mitgliedern. Die Mitglieder dieser verfassungsgebenden Versammlung werden am 11. April des kommenden Jahres gewählt und anschließend zu ihren Beratungen zusammentreten.
Ab Mai beginnt dann die eigentliche Arbeit am Verfassungstext. Im Sinne der chilenischen Literatur-Nobelpreisträgerin Gabriela Mistral, die einst sagte: „Wir haben eine Ewigkeit vor uns, aber wir haben nur kurze Zeit, um sie vorzubereiten.“, bleiben dem Verfassungskonvent neun kurze Monate, um einen Text auszuarbeiten, die einmalig um drei Monate verlängert werden können. Das bedeutet, dem Konvent ist eine sehr begrenzte Zeit vorgegeben, in dem dieser einen Vorschlag erarbeiten muss, der mindestens die Zustimmung von zwei Dritteln der Mitglieder des Konvents erhält. Wenn dies erreicht ist, wird die neue Verfassung nochmals dem chilenischen Wahlvolk zur Abstimmung vorgelegt. Erst nach dessen Zustimmung tritt die Verfassung schließlich in Kraft.
Ausblick
Der Anfang ist gemacht. Was anfangs mit einem Akt des zivilen Ungehorsams gegen die Fahrpreiserhöhung im öffentlichen Personennahverkehr in der Hauptstadtregion Santiago begann und dann schnell in entfesselte Gewalt im ganzen Land umschlug, fand nun seinen fröhlichen Höhepunkt im Plebiszit vom 25. Oktober. Es war ein Fest der Demokratie, das das chilenische Volk heute ablieferte. Unter den schwierigen Bedingungen der Pandemie präsentierte Chile auf beeindruckende Weise seine republikanische Verfasstheit und demokratische Reife. Friedlich feierten Tausende bis in die Nachtstunden den Sieg des „Apruebo“.
Während die Opposition, die geeint für das „Apruebo“ warb, war das konservative Regierungslager in der Frage nach der zukünftigen Verfassung gespalten. Einzig die national-konservative Partei UDI hatte sich geschlossen hinter die „Rechazo“-Kampagne gestellt. Dennoch nahm auch die UDI-Vorsitzende Jacqueline van Rysselberghe die Niederlage sportlich an und sagte noch am Abend, dass es nun darum ginge, die besten Leute in die verfassungsgebende Versammlung zu entsenden.
Aber auch die Opposition, die an diesem Abend einen Sieg einfährt, sollte sich nicht allzu lange ausruhen. Heute ist der erste Schritt eines Prozesses unternommen, der allen Seiten Kompromissbereitschaft abverlangen wird. Das Quorum der Zwei-Drittel-Mehrheit, die innerhalb des Verfassungskonvents erreicht werden muss, sowie die enge zeitliche Vorgabe von maximal zwölf Monaten bis der Verfassungsentwurf dem chilenischen Volk zur Abstimmung vorgelegt werden darf, erfordert Disziplin und Dialogfähigkeit. Daneben bleibt abzuwarten, wie sich der Druck von der Straße auf die Verfassungsberatungen auswirkt. Bis auf einige wenige kosmetische Korrekturen hat die Sozialgesetzgebung noch keine bedeutenden Veränderungen erfahren. Zwar bedeutet der Sieg des „Apruebo“ einen Etappensieg, allerdings trieb anfangs die Menschen die Sorge um ihre Existenz, die zu niedrigen Löhne und die zu hohen Kosten im Gesundheits- und Bildungsbereich auf die Straße. Diese Sorgen wurden in den letzten neun Monaten nochmals durch die Pandemie verstärkt. Viele Menschen setzen große Hoffnung in die neue Verfassung, allerdings lassen die Ereignisse des letzten Jahres daran zweifeln, ob sie die Geduld aufbringen, auf die erwünschten sozialen Veränderungen bis zum Ende des Verfassungsprozesses zu warten.
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Auslandsbüro Chile
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