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Demokratischer Aufbruch in Ägypten

Der „Oberste Militärrat“ und die Zukunft der ägyptischen Machtelite in einer neuen demokratischen Verfassungsordnung

Die lange unterdrückten und drangsalierten Bürger Tunesiens und Ägyptens haben sich zur Überraschung aller politischen Beobachter, vor allem aber der arabischen Autokraten in der Region, die Kairoer Rede des US-Präsidenten Obama vom Juni 2009 in diesen Wochen zu Herzen genommen und seine Hinweise zur Rolle der Freiheit und Gerechtigkeit und dem Recht der Bürger, ihr Schicksal in die eigene Hand zu nehmen, in die Tat umgesetzt.

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Überrascht hat diese Reaktion jedoch auch den Redner selbst, der anders als noch vor wenigen Monaten bei der Jugendrevolte im Iran, sich nicht unmittelbar auf die Seite der meist jugendlichen Demonstranten schlug, für viele „unverhältnismäßig“ lange einen „geordneten Übergang“ forderte und dem verbündeten ägyptischen Präsidenten länger als von vielen erwartet noch Machtoptionen offenhielt.

Auch in anderen Arabischen Staaten demonstrieren Bürger aller Schichten seit Wochen gegen die despotische Willkür ihrer Autokraten und begehren auf gegen politische Bevormundung und sozio-ökonomische Benachteiligung. Sie fordern Gehör und Teilhabe, sie wünschen sich soziale Gerechtigkeit und die Beachtung der Menschenwürde. Sie wollen nicht mehr Objekt staatlicher Fürsorge, sondern Subjekt demokratischer Willensbildung sein und bestehen auf ihrem demokratischen Recht, in freien und geheimen Wahlen an der politischen Willensbildung zu partizipieren und auf diese Weise über die Zukunft ihrer Länder mitzubestimmen.

Der „Putsch“ der Generäle

Die politischen Entwicklungen, die sich in den letzten Tagen in Ägypten ereignet und schließlich auch noch zum Rückzug des ägyptischen Präsidenten aus der politischen Verantwortung geführt haben, hat uns eine diffuse Machtkonstellation an der Spitze dieses wichtigsten Arabischen Staates beschert.

Überrascht haben dürfte diese Abfolge der Ereignisse all jene, denen eine Übertragung der Amtsgeschäfte und damit der exekutiven Macht des Präsidenten auf einen Militärrat unmöglich erschien, zumal eine solche in der ägyptischen Verfassung natürlich nicht vorgesehen war. Diese Verfassung sah vielmehr vor, dass der Präsident nur „begrenzte“ Befugnisse an seinen Vize-Präsidenten, die gesamten Amtsgeschäfte an ihn aber nur während eines Auslandsaufenthalts hätte übertragen dürfen. In allen anderen Fällen – vor allem nach seinem Tod bzw. amtlich vollzogenen Rücktritt – hätte die Amtsgewalt des Präsidenten auf den parteipolitisch als neutral betrachteten Präsidenten des ägyptischen Parlaments übergehen müssen, der dann in der verfassungsrechtlich gebotenen Frist Neuwahlen für das Präsidentenamt anberaumen und überwachen sollte, ohne selbst kandidieren zu dürfen.

Der jetzt eingetretene Umstand, dass der Präsident entweder selbst entschieden hat, wem er die exekutive politische Macht überträgt, oder dazu gezwungen wurde, deutet darauf hin, dass wohl Letzteres geschehen ist und der Präsident gar nicht freiwillig und schon gar nicht verfassungsgemäß abgelöst worden ist. Vieles spricht dafür, dass der Präsident vom neuen Obersten Militärrat friedlich aber bestimmt beiseite geschoben worden ist, worauf auch das erste Communique des Obersten Militärrats hindeutet, indem man dem (bisherigen) Oberkommandierenden für seine geleistete Arbeit salutierend dankte.

Dabei bleibt bis heute ungeklärt aber wahrscheinlich, dass der Vize-Präsident diesem erweiterten Obersten Militärrat - wenn überhaupt - dann nur noch formal angehört. Vizepräsident Suleiman hatte seine Chancen wohl in dem Moment verspielt, als auch sein Appell an die Demonstranten, kurz nach Ende der letzten öffentlichen Rede des Präsidenten, die Demonstranten nicht dazu bewegen konnte, wie vom Vizepräsidenten angeregt, wieder nach Hause bzw. an ihre Arbeitsplätze zurückzukehren.

Auch die Tatsache, dass er sein Amt noch vom scheidenden Präsidenten Mubarak übertragen bekam und mit devoter Geste salutierend antrat, machte ihn weder für die aufgebrachte ägyptische Bevölkerung zu einem akzeptablen Kurator des Übergangs noch für die militärische Führung des Landes zu einem erfolgversprechenden Repräsentanten der militärischen Machtelite.

Der Oberste Militärrat, der jetzt offensichtlich die faktische Macht in Händen hält, ist vielen Ägyptern ein, wenn nicht mehr vertrautes, so doch ein im geschichtlichen Rückblick durchaus bekanntes Vehikel des revolutionären Umbruchs.

Schon die berühmten „Freien Offiziere“ bildeten zu Beginn einen solchen Militärrat, um die erste ägyptische Revolution gegen den damaligen autokratischen Monarchen zu bewältigen.

Heute wendet sich dieser Militärrat, böswillig könnte man ihn auch „Junta“ nennen, nicht gegen einen Monarchen, sondern gegen einen monarchisch agierenden Präsidenten, der im Gegensatz zu König Faruk demselben Militär entstammt, das jetzt die Macht im Staat übernommen hat.

Doch wiederum bringt die Masse der ägyptischen Bevölkerung diesen Generälen all ihre Sympathie entgegen, obwohl Freiheit und Demokratie auch in der ägyptischen Armee nicht gerade alltäglich praktizierte Werte sind.

Nun hat also ein „Oberster Militärrat“ aus aktiven Generälen unter Führung des bisherigen, bereits nahezu 20 Jahre seinem Land in dieser Funktion dienenden Verteidigungsministers, Feldmarschall Tantawi, das bisherige Machttriumvirat aus den drei ehemaligen Generälen (Mubarak, Suleiman, Shafik) abgelöst.

Das zivile Gesicht des Militärs musste, um Autorität zu projizieren, offensichtlich durch ein militärisches Gesicht ersetzt werden, und es bleibt zu hoffen, dass die uniformierten neuen Machthaber genug Autorität ausstrahlen, um die vom Enthusiasmus ihres errungenen Sieges aufgewühlten Massen der Demonstranten zu beruhigen und sie zur Rückkehr zur „Normalität“ zu bewegen.

Das zuletzt friedliche Chaos der letzten Tage zu beenden muss zweifellos das erste Ziel der Generäle sein. Je schneller Kairo und die anderen Orte zum geregelten Leben und Arbeiten zurückkehren, umso besser erscheinen die Chancen, den materiellen Schaden, den dieser Volksaufstand zweifellos auch produziert hat, in Grenzen zu halten.

War es nun ein Militärputsch gegen die verfassungsmäßige Ordnung und geschah er, um der ägyptischen Bevölkerung zu ihrem Recht auf demokratische Teilhabe und die Wahrung ihrer Menschenrechte zu verhelfen? Dies zu beurteilen wird noch Zeit brauchen, zumal die Generäle bisher nur in sehr dürren Worten ihre Pläne für die Umgestaltung des politischen Systems Ägyptens offenbart haben.

Ob dieser Tage tatsächlich die „zweite“ ägyptische Republik zu entstehen begonnen hat oder ob das Militär zur Rettung der „ersten“ ägyptischen Republik eingesprungen ist, um die nicht mehr überzeugenden Repräsentanten des „alten“ Systems durch attraktivere zu ersetzen, muss sich erst noch zeigen.

Zwar sind vom Obersten Militärrat Pläne zur Änderung der Verfassung genauso angekündigt worden, wie die Aussichten auf Neuwahlen aller legislativer Organe, ob allerdings die Einbeziehung des noch vom alten System berufenen Präsidenten des ägyptischen Verfassungsgericht dem fortschrittlichen Charakter der in Aussicht genommenen Verfassungsänderung dient, muss abgewartet werden. Die ägyptischen Generäle haben inzwischen verkündet, dass sie die von vielen Ägyptern erhoffte neue politische Ordnung nicht selbst verkörpern, sondern sie herbei zu führen helfen wollen. Dieses hoffentlich auch zeitlich begrenzte Mandat soll nun genutzt werden um den Übergang in eine wirklich demokratische Ordnung zu bewerkstelligen.

Eine neue Ordnung braucht das Land

Unmittelbar nach seiner Machtübernahme hat der Oberste Militärrat die Auflösung der beiden Kammern des ägyptischen Parlaments und die Außerkraftsetzung der ägyptischen Verfassung verkündet. Letzteres war sicherlich unvermeidbar, ist der Machtübergang an der Staatsspitze ja – wie gezeigt- ohnehin nicht verfassungsgemäß abgelaufen.

Jetzt sind Verfassungsexperten aufgerufen, eine grundlegend neue Verfassung zu entwerfen und diese zur Grundlage der angekündigten Neuwahlen für das Parlament und möglicherweise auch für das Amt des Präsidenten zu machen.

Dass dies unter gehörigem Zeitdruck geschehen soll ist ein beunruhigender Aspekt der Entscheidung des Obersten Militärrates, bedenkt man, wie lange es etwa in Südafrika gebraucht hat, bis eine neue Verfassung im Konsens mit allen politischen bedeutenden politischen Kräften verabschiedet werden konnte. Schon sind allerdings Stimmen laut geworden, die dem mit der Formulierung von Vorschlägen zur Verfassungsänderung betrauten Gremium, angesichts seiner Zusammensetzung, wenig reformerische Tendenzen unterstellt.

Zu verändern gibt es viel, vor allem die Regelungen zur Zulassung von Kandidaten zur Präsidentschaftswahl und der Modus der Parlamentswahlen. Die Zulassung zum Kandidaten für die Präsidentschaftswahl war bisher im Sinne des bisherigen Amtsinhabers äußerst restriktiv geregelt, so dass es den allermeisten Interessenten gar nicht möglich war zu kandidieren, da sie weder über einen längere Zeitpunkt einer legalen ägyptischen politischen Partei vorgestanden hatten, noch als Unabhängiger über die notwendige Unterstützung von Parlamentariern beider Kammern und einiger Regionalvertreter verfügten. Diese Regelungen waren ganz eindeutig auf eine mögliche Kandidatur des Präsidentensohnes für die Staatspartei NDP ausgerichtet.

Bei der Suche nach einem möglichen neuen Modus, nach dem die kommenden Parlamentswahlen abgehalten werden sollten, stellt sich vor allem die Frage nach dem Wahlverfahren. Sollen – wie bisher – Kandidaten von Parteien gemeinsam mit Unabhängigen als Individuen – ähnlich dem britischen Modell - um die jeweiligen Wahlkreismandate ringen, oder sollen Parteien und Kandidaten in einem „gesplitteten“ System - ähnlich dem deutschen Modell - sich um Mandat und Stimme bemühen.

Letzteres Verfahren gilt als „inklusiver“ als das „first past the post“ System, gibt es doch auch kleineren politischen Parteien die Chance auf Repräsentation (über die Zweitstimme) im Parlament. Dies könnte in der jetzigen Phase des politischen Umbruchs in Ägypten die zu bevorzugende Alternative sein.

Allerdings könnten sich einzelne „unabhängige“ Kandidaten des Militär oder der Muslimbruderschaft größere Chancen im bisherigen System ausrechnen, zumal die alte Staatspartei wohl keine erfolgversprechenden Kandidaten wird aufbieten können und das Feld deshalb eher diesen neuen „unabhängigen“ Kandidaten überlassen wird.

Vieles spricht dafür, dass es wegen der komplizierten Gründungs- und Zulassungsverfahren in der kurzen Zeit bis zum Wahltermin nicht gelingen wird, die existierende ägyptische Parteienlandschaft um zahlreiche neue Alternativen zu erweitern, viel eher könnten sich prominente Kandidaten bereits existierenden Parteien anschließen und diese als Wahlvehikel benutzen.

Die Gründung einer politischen Partei aus der ägyptischen Muslimbruderschaft heraus, mit dem Ziel an der kommenden Parlamentswahl (als Partei) teilzunehmen, soll in diesen Tagen beschlossen werden. Wenn einer solchen Partei die Zulassung erteilt würde, wäre dies ein erster Indikator für die Liberalität des künftigen Verfassungsrahmens.

Ob allerdings in Zukunft auch Parteien (Zweit-)Stimmen sammeln und auf diese Weise eine parlamentarische Mitsprache sicherstellen können, auch ohne ein Wahlkreismandat gewonnen zu haben, bleibt dem künftigen Wahlrecht überlassen und deshalb noch ungewiss.

Vieles spricht dafür, dass es zu einem Wechsel des Wahlsystems vom existierenden Mehrheitswahlrecht zum Verhältniswahlrecht so kurzfristig nicht kommen wird, weshalb auch weiterhin mit einer Kandidatur von Individuen, ob einer Partei nun zugehörig oder nicht (Unabhängiger) gerechnet werden muss.

In diesem Fall stellt sich dann im neugewählten ägyptischen Parlamente auch nicht die Frage nach möglichen Parteien, sondern die nach denkbaren Zusammenschlüssen (Fraktionen) von gleichgesinnten Abgeordneten.

Die Zukunft des ägyptischen Machtelite

Vertraut man den vom Obersten Militärrat geäußerten Absichten, so gilt die internationale Aufmerksamkeit neben den verfassungsrechtlichen, institutionellen Veränderungen natürlich auch der Frage nach politisch, repräsentativen neuen Gesichtern, die für diese „demokratische“ Entwicklung eintreten und sich engagieren um in absehbarer Zeit dieses neue System auch an politisch verantwortlicher Stelle zu „verkörpern“.

Blickt am in diesem Zusammenhang auf die politische Szene in Ägypten, so bietet sich dem politischen Beobachter momentan ein überraschend überschaubares Bild präsidentieller Alternativen.

Unterstellt, man bliebe bei der jetzigen präsidialen Grundstruktur der politischen Verfasstheit des ägyptischen Staates, so wird es auch in Zukunft der Präsident sein, der die Geschicke des Staates leiten und die Grundlinien der ägyptischen Politik bestimmen wird. Um dieser Aufgabe gewachsen zu sein und gleichzeitig die Fähigkeit bzw. das Image zu besitzen, die Unterstützung der Mehrheit der Ägypter zu erlangen, bedarf es sicher einiger herausragender Eigenschaften.

Als bedeutendste Eigenschaft könnte sich – zumindest für die Mehrheit der ägyptischen Wähler - die Distanz zum alten Regime erweisen. Diesen Wählern des Neuanfangs wird vor allem wichtig sein, dass der Kandidat nicht Teil des alten Systems gewesen ist und womöglich von diesem sogar noch profitiert hat.

Dies kann allerdings nicht unbedingt im Interesse der jetzt die Macht inne habenden Generäle der Obersten Militärrats sein, auch wenn sie selbst keine andauernde politische Verantwortung anstreben. Sie bleiben letztlich Relikte des alten Systems und man wird sehen, inwieweit sie wirklich eine vollständige Erneuerung im Sinne einer neuen Republik wünschen bzw. eine solche zulassen.

Als Ausweg aus diesem Dilemma gegensätzlicher Interessen könnte sich eine wiederum eher restriktive Regelung der Zulassung von Kandidaten für das Präsidentenamt anbieten.

Ein weiteres, sicherlich wichtiges Attribut eines erfolgversprechenden Kandidaten ist die Tatsache, dass von ihm erwartet werden wird, dass er unter dem alten System genauso gelitten hat wie die Wähler selbst. Vielleicht nicht unbedingt im gleichen Umfang, aber doch spürbar genug, dass er die Erinnerung an diese Zeit immer in sich tragen wird.

Das muss nicht gleich ein „Dissident“ sein, aber vielleicht doch eher jemand, der nicht die überwiegende Zeit der Autokratie im Ausland „überlebt“ hat. Ein solcher Kandidat wird Schwierigkeiten haben, die Masse der ägyptischen Wähler für sich einzunehmen, die unter dem Regime gelittenen haben.

Dies mag in gleich Weise aber nicht für den kommenden Regierungschef gelten, vom dem man sogar eher erwarten würde, dass er in den vergangenen Jahren nicht Mitglied des vormaligen Machtkomplexes gewesen ist und deshalb jetzt unbeeindruckt von bisherigen „credentials“ ein Regierungsteam zusammenstellen kann.

Auch hier wird sich noch zu zeigen haben, inwieweit die aktuellen Machthaber ihren Einfluss geltend machen werden, um eine solche Abkehr von alten Interessenkoalitionen, traditionellen Pfründen und etablierten Netzwerken zu verhindern.

Wichtig wird der Mehrheit der ägyptischen Wähler wohl auch der „richtige Mix“ der neuen ägyptischen Führung sein. Viele mögen darauf bestehen, dass sich die Heterogenität der Demonstranten und ihrer Überzeugungen bis z u einem bestimmten Grad auch in der neuen Führungsriege des Staates widerspiegelt. Dies stünde der dann wirklich neuen ägyptischen Republik auch international gut ins Gesicht.

Die Einbeziehung von Frauen, Vertretern religiöser Minderheiten (Kopten) und möglichst vieler Bevölkerungsgruppen würde auch den säkularen Charakter garantieren helfen, von deren Bestand in den politischen Entscheidungsinstanzen momentan eben noch nicht alle überzeugt sind. Dies wäre nun jedoch auch im Interesse der aktuellen säkularen Machthaber, die ebenfalls kein Interesse daran haben können, dass die neue politische Ordnung mittelfristig womöglich doch den radikalen Vertretern einer fundamentalistischen Mehrheit der Wähler in die Hände zu fallen droht.

Auch hier könnten entsprechende Regelungen der politischen Verfasstheit von Parteien und der zu fordernden Treue ihrer Kandidaten gegenüber einer neuen demokratischen und damit säkulare(re)n ägyptischen Verfassung mehr Sicherheit bieten bzw. Teil der „checks und balances“ der neuen politischen Ordnung Ägyptens werden.

Für die Frage mit welchem Personaltableau Ägypten in eine neue demokratische Zukunft einzutreten gedenkt, ist natürlich zuerst einmal die Frage wichtig, in welcher Reihenfolge die neuen Ämter zu vergeben sein werden.

Die Tatsache, dass wir nun einen „Revolutionsrat“ haben, lässt die „Fristenvorgaben“ der aktuellen ägyptischen Verfassung unwichtiger erschienen. Geklärt werden muss zuerst einmal die Frage, ob man die neue Ordnung „von oben“ (Präsident) oder „von unten“ (Parlament) aufzubauen gedenkt. Vieles spricht für Letzteres, da die Funktion des Präsidenten momentan bereits vom Revolutionsrat als „Wächter der neuen Ordnung“ wahrgenommen wird und unter den gegebenen Umständen auch über die Amtszeit des alten Präsidenten hinaus verlängert werden könnte.

Nach einer erfolgreichen Liberalisierung der ägyptischen Verfassung und der entsprechenden Wahlgesetze könnten dann in absehbarer Zeit durchaus Neuwahlen des Präsidenten und des Parlaments stattfinden. Mit den Parlamentswahlen zu warten, bis sich das (partei-)politische Spektrum hinreichend erweitert hat, erscheint fragwürdig, da dies bedeuten könnte, dass sich die aktuelle Machtstruktur im Land verfestigt und das von vielen gewünschte zivile Element der neuen Ordnung zunehmend in den Hintergrund rückt. Dies umso mehr als die noch von Mubarak berufenen (Übergangs-)Regierung im Amt geblieben und der Ausnahmezustand noch immer nicht aufgehoben worden ist.

Neue „islamische“ politische Kräfte

Blick man auf die jüngsten politischen Äußerungen der aktuellen Führung der ägyptischen Muslimbrüder, so bleiben diese weiterhin in vielen Bereichen im illiberalen „Ungefähren“.

So betonten sowohl der dem eher konservativen Flügel der Muslimbruderschaft zugerechnete, neue und bis zu seiner Wahl nahezu unbekannte Vorsitzende der Bruderschaft, Mohammed Badie, als auch sein Stellvertreter, Raschad al-Bajumi, dass die Muslimbruderschaft weder die politische Macht in Ägypten anstrebe, noch einen Kandidaten für die kommende Präsidentschaftswahl aufstellen, sondern nur dem ägyptischen Volke beim Aufbau einer neuen Ordnung dienen wolle. Beide verwiesen jedoch immer wieder auch darauf, dass es die Bruderschaft in jeder ägyptischen Stadt, jedem ägyptischen Dorf, also in jeder Nachbarschaft gäbe, und sie deshalb im ganzen Volk bzw. Land verwurzelt sei.

Dies wurde von politischen Beobachtern als ein deutliches Zeichen neuen Selbstbewusstseins gewertet und als verklausulierter politischer Machtanspruch interpretiert.

Deshalb erscheint es nicht vollständig abwegig, zu unterstellen, dass die von der Bruderschaft gezeigte politische Zurückhaltung Kalkül ist, um die aufgebrachten ägyptischer Bürger den demokratischen Wandel herbeizwingen zu lassen, der dann von den Brüdern mittel- bis langfristig zu einem entsprechenden politischen Machtzuwachs genutzt werden kann.

Der stellvertretende Vorsitzende der Muslimbruderschaft Raschad al-Bajumi drückte dies kürzlich folgendermaßen aus: "Wir wollen nicht, dass diese Revolution als Revolution der Muslimbrüder dargestellt wird, als islamische Revolution. Dies ist ein Volksaufstand aller Ägypter."

Ihr Verhalten während der Proteste am Tahrir-Platz, wo es zur Überraschung vieler so gut wie keine islamischen Parolen zu sehen und hören gab, sollte aber nicht darüber hinweg täuschen, dass die politische Zukunft Ägyptens langfristig eben nicht von den polyglotten Jugendlichen im Zentrum Kairos, sondern in einem neuen, frei gewählten ägyptischen Parlament entschieden werden wird.

Nach den bisherigen Äußerungen zum Verzicht auf eine Präsidentschaftskandidatur und der Zurückhaltung einiger Führungsvertreter der Muslimbrüder gegenüber einer Regierungsbeteiligung muss sogar damit gerechnet werden, dass die Muslimbruderschaft nicht nur die aktuelle Übergangsregierung weiterhin boykottieren wird, sondern sich vielleicht sogar einer vom Parlament unterstützten neue ägyptischen Regierungskoalition entziehen wird.

Bedenkt man die Probleme, denen sich eine solche „demokratisch“ legitimierte Regierung in wenigen Monaten gegenübersehen wird, könnte es das Kalkül der Muslimbrüder sein, sich ganz bewusst der politischen Verantwortung zu entziehen, um die „bürgerliche“ Regierung aus der Opposition zu kritisieren. Für ihre langfristige Machtstellung könnte es für die Muslimbrüder deshalb sogar nützlich sein, dem ägyptischen Wähler das Scheitern einer säkularen, bürgerlichen Regierung (unter einem ev. „militärischen“ Präsidenten) vor Augen zu führen, um dann sozusagen „alternativlos“ die politische Macht zu übernehmen.

Bei all dem Gesagten muss Vieles spekulativ bleiben. Auch wenn die Bruderschaft aktuell als homogenste politische Kraft in Ägypten gilt, muss die Frage, ob sie deshalb gleich als Favorit einer freien Wahl in Ägypten anzusehen ist, genauso offen bleiben, wie die alles entscheidenden Frage, ob sie sich, nachdem sie einmal an die Macht gekom-men ist, diese würde bereitwillig wieder abnehmen lassen.

Neue Gesichter braucht das Land

Sucht man in Ägypten nun konkret neben möglichen Parteineugründungen noch nach erfolgversprechenden „Gesichtern“ bzw. politischen Akteuren, die für all die neu zu besetzenden Ämter und Positionen als mehrheitsfähig gelten können, so erscheinen diese eher „dünn gesät“.

Die wohl wichtigste personalpolitische Entscheidung könnte die letzte sein, die der ägyptische Wähler zu fällen hat, wenn man den Neuaufbau der ägyptischen Republik „von unten“ in Angriff zu nehmen sich entscheidet.

Die Wahl des neuen Präsidenten wird sicher wesentlich auch von der Beantwortung der Frage bestimmt werden, ob einer der jetzt bereits Verantwortung tragenden Militärs sich zu einer dann zivilen Kandidatur entschließt. Dies wäre ein den Ägyptern vertrauter Prozess, der allerdings die bekannte Gefahr in sich trägt, dass ein solcher Präsident über kurz oder lang wieder anti-demokratischen Tendenzen Vorschub leisten könnte. Ein Ausweg könnte das Konstrukt Übergangs-Präsident sein, dessen Amtszeit einmalig begrenzt werden könnte und selbst den überalterten Generälen des aktuellen Militärrats noch eine Chance auf ein ziviles Engagement geben würde.

Sollten sich die Militärs einer Kandidatur wider aller Erwartung vollständig enthalten, erscheint das Rennen zwischen möglichen, zivilen Kandidaten vollkommen offen und sicher wesentlich davon abhängig, wer alles für eine solche Wahl zugelassen würde.

Über internationales Gewicht und inzwischen wohl auch ausreichend nationale Bekanntheit verfügt sicherlich der bisherige Generalsekretär der Arabischen Liga, Amr Mussa, wie auch der ägyptische Nobelpreisträger und Demokratieaktivist, Ahmed el Baradei.

Gegen Amr Mussa spricht die langjährige „Verbandelung“ mit dem alten Regime, obwohl er seit seinem von Mubarak erzwungenen Ausscheiden aus dem Amt des ägyptischen Außenministers einen gewissen „Dissidentenstatus“ für sich in Anspruch nehmen kann. Für ihn spricht auch sein fortgeschrittenes Alter, das ihn eben auch zu einem „Übergangspräsidenten“ machen würde.

Vergleichbares gilt für El Baradei, der auch nicht mehr ganz jung ist und dem man keine erkennbare Nähe zum Regime vorwerfen kann, der jedoch durch seinen langen Aufenthalt im Ausland nicht zu den wirklichen „Opfern“ der alten Ordnung gezählt werden kann und deshalb beim Wähler vielleicht doch über zu wenig Leidenserfahrung verfügt.

Gegen eher als fortschrittlich geltende, aber gleichzeitig dem alten Regime zuzuordnende Vertreter des alten Regimes spricht weniger ihr bisheriges Agieren in ihren Ämtern als vielmehr der Wunsch nach einem Neubeginn.

So haben sowohl die früheren, reformerischen Kabinettsmitglieder wie auch die wenigen bekannten, reformorientierten Vordenker der alten Staatspartei NDP wie Ahmed Badrawi und Alli Eddin Dessouki wohl zu wenig „public appeal“ und deshalb keine Chancen mehr.

Weitere Kandidaten aus dem Spektrum der bisherigen Oppositionsparteien empfehlen sich wohl eher für eine Rolle in einer neuen ägyptischen Übergangs- bzw. Koalitionsregierung und weniger für das Präsidentenamt. Viele von ihnen müssen ebenfalls wegen ihres fortgeschrittenen Alters politisch als schon weitgehend verbraucht gelten.

Allein Ayman Nour, der bisher einzige mutige, letztlich aber natürlich gescheiterte Gegenkandidat Hosni Mubaraks bei den letzten Präsidentschaftswahlen könnte sich größere Wahlchancen ausrechnen, wurde er doch im Nachgang der Wahlen für seine „unverfrorene“ Gegenkandidatur hart bestraft und kann somit zweifelsfrei auch den Nimbus eines Dissidenten des alten Regimes beanspruchen.

Ob auch ein koptischer Vertreter, wie etwa der Milliardär Sawiris, politische Funktionen zu übernehmen bereit ist, muss ebenfalls abgewartet werden. Das Präsidentenamt wird ihm wohl auch in einer neuen Verfassung als Christ verschlossen bleiben, ein wichtiges Amt in einer Koalitionsregierung könnte aber dem Image Ägyptens in der Welt und mit Blick auf die anstehenden Anstrengungen zur wirtschaftliche Gesundung des Landes gut zu Gesicht stehen.

Ob es zu entsprechenden Kandidaturen bzw. Berufungen kommen wird, hängt aber wesentlich vom Verhalten bzw. den Entscheidungen des Obersten Militärrats ab.

Entzerrt werden könnten alle diese Nachfolgefragen vor allem durch eine grundsätzliche Entscheidung für ein gewähltes „Präsidentendouble“, also einen Präsidenten mit einem verfassungsmäßig zu benennenden bzw. auf einem gemeinsamen Ticket zu wählenden Vizepräsidenten. Auch eine in der Verfassung niedergelegte Amtszeitbeschränkung für den Präsidenten auf vielleicht zwei Amtszeiten würde dem Kandidatenwettbewerb etwas die Brisanz nehmen, die das Land momentan stark belasten würde.

Beides würde sicherstellen, dass es weder ein weiters Mal zu einer unbegrenzten Machtfülle bei einer Person, noch zu einer endlosen Amtszeit eines Präsidenten kommen kann. Damit wäre einem regelmäßigen politischen Machtwechsel in der Zukunft ausreichend Vorschub geleistet.

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