Issue: Sonderausgabe 2018/2018
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 03.05.2018, S. 20
Zhanalya lacht schüchtern, dann versteckt sie sich hinter ihrer Mutter. Dort fühlt sie sich sicher. Sicherheit zählt viel in der Einöde Ostkasachstan, an der Grenze zu China. Im Winter kann es hier minus 20 Grad werden, im Sommer brennt die Sonne mit 45 Grad auf die Steppe. Am Rand der Taklamakan-Wüste, dem „Meer des Todes“, wie die Chinesen sie nennen, ist das Leben hart. Die Halbnomaden und Hirten der Gegend leben noch in Jurten und einfachen Hütten. Zhanalya aber schaut aus dem Küchenfenster auf ihren brandneuen Spielplatz.
„Wir haben hier Zentralheizung, einen Fernseher, und Miete müssen wir auch nicht zahlen“, sagt ihr Vater stolz. Zhanbek Altybasarov hat sich schnell entschieden, die neue Stelle am Ende der Welt anzunehmen; sie lockte mit enormen Vorteilen. Seit ein paar Monaten ist er nun der technische Direktor des entlegensten Hafens der Welt: in Khorgos, dort, wo die Stränge der „Neuen Seidenstraße“ Chinas zusammenlaufen. Gut 200 Arbeiter wurden mit ihren Familien hier angesiedelt, um den zentralen Containerumschlagplatz für die Eisenbahnverbindung Chinas mit Europa zu betreiben. Khorgos, nur hundert Kilometer von dem Fleck der Erde entfernt, der am weitesten von jedem Meer liegt, wird zum Nabel des großen chinesischen Plans. „Wir studieren dauernd den Verlauf der alten Seidenstraße, um daraus zu lernen“, sagt Zhaslan Khamzin, der mit 35 Jahren schon den Trockenhafen Khorgos Gateway leitet. „Ich sehe das als riesige Aufgabe. Würde es mir nicht gelingen, das Potential von Khorgos für unser Land zu heben, fühlte ich mich schuldig.“
Hinterließen die Horden des mongolischen Herrschers Dschingis Khan Anfang des 13. Jahrhunderts Knochen und rauchende Ruinen, wollen die Chinesen nun blühende Landschaften mit Häfen, Autobahnen und Kraftwerken jenseits ihrer Grenzen bauen. Nicht grundlos hatte Chinas Präsident Xi Jinping die Initiative One Belt, One Road (Obor) 2013 ausgerechnet an der Universität von Astana, der Hauptstadt Kasachstans, verkündet – der Weg der Chinesen nach Europa läuft durch Zentralasien. Schon fünf Jahre später hat Peking enormen Einfluss auf politischer und militärischer Ebene in der Region gewonnen: Chinesen heben in Pakistan Kohleminen aus, sie bauen in Thailand Schnellbahnen, in Sri Lanka Häfen und auf Vanuatu den Regierungssitz des Ministerpräsidenten. Mehr als 900 Projekte planen sie, mehr als eine Billion Dollar soll aufgewendet werden. „Läuft alles nach Plan, wird China bei uns bis zu neun Milliarden Dollar investieren“, sagt Askar Yeshenkhanov. Der Vizedirektor der Freihandelszone „Khorgos-Eastern Gate“ sitzt an einem riesigen hölzernen Konferenztisch im zweiten Stock des Verwaltungsgebäudes neben dem Umschlagplatz. Noch ist sein Freihafen nicht mehr als eine Betonfläche. Davor steht eine Videoleinwand; auf der spielt in Dauerschleife ein Film, der die Eisenbahntrassen zwischen China und Europa zeigt. „Beijing“ flimmert auf der einen Seite der Route auf, dann „Hamburg“ und „Düsseldorf“: die Endpunkte nach 7500 Kilometern durch China, Kasachstan, Russland, Weißrussland, Polen und Deutschland. Es ist die längste Frachtverbindung auf Schienen der Welt. Fast in ihrer Mitte, in Khorgos, werden die Container mit Hilfe von drei großen chinesischen Kränen umgeladen. Die Spurweiten der Eisenbahnen im Reich der Mitte und in Kasachstan sind unterschiedlich.
„Wir brauchen knapp vier Stunden zwischen dem Grenzübertritt eines Containers und dem Weiterleiten hier“, sagt Altybasarov stolz. „Viel schneller können wir trotzdem wohl nicht mehr werden, sonst wird es gefährlich.“ Allein die Geschwindigkeit zu halten wäre schon etwas. Denn 1300 Kilometer im Norden, in Astana, schmiedet Kanat Alpysbayev große Pläne. Der Mann im 38. Stockwerk des Railway Towers ist der Präsident der Eisenbahngesellschaft KTZ des riesigen Landes und damit auf dem Sprung zu höheren politischen Weihen. Immerhin trägt KTZ mit gut 130 000 Mitarbeitern rund 8 Prozent zur gesamten Wirtschaftsleistung Kasachstans bei. „Wir werden den Frachtverkehr mit China sehr rasch steigern“, gibt der frühere Manager von General Electric die Richtung vor. „In den nächsten zwei Jahren wollen wir den Umsatz im Gütertransport von einer Milliarde auf fünf Milliarden Dollar hochfahren.“ 30 Milliarden Dollar habe das Land in den vergangenen zehn Jahren in den Ausbau gepumpt. Dass ein Großteil davon aus China kommt, will er nicht sagen.
China ist nicht nur der größte Investor im russisch geprägten Kasachstan, sondern auch sein größter Handelspartner und Helfer. Gerade geben die Chinesen den Nachbarn 2000 Eisenbahnwagons für Schüttgut, um damit Weizen nach China zu transportieren. „China zahlt auch für die Terminals und Lagerhäuser“, erzählt Yerzhan Kulakov, Vizepräsident von KTZ Express. Und die Transportgebühren senkten die Chinesen um die Hälfte; so sollen bald 300 000 Container Weizen über die Grenze rollen. Hatte das Handelsvolumen der fünf größten zentralasiatischen Länder mit der Volksrepublik im Jahr 2000 gerade einmal eine Milliarde Dollar betragen, war es 2013 schon auf 50 Milliarden Dollar angeschwollen.
Die großen Versprechen, die Alpysbayev macht, fußen auf Plänen, die in einem anderen Turm geschmiedet werden – am Rhein im fernen Bonn, bei der Deutschen Post. Denn DHL hat schon 2008 erkannt, welche Möglichkeiten im Landtransport von und nach China liegen; und heute sprechen selbst die Postler von einem „aggressiven Investitionsklima“ entlang der Belt-and-Road-Länder. „Wir haben 2013 als Erste bewiesen, wie reibungslos der Verkehr über diese Schienenstrecke laufen kann“, sagt Zafer Engin, der sich von Schanghai aus für DHL um die Zugverbindung kümmert. „Der Containertransport per Bahn birgt enorme Vorteile: die Lieferzeit beträgt nur 16 Tage statt 45 über See per Containerfrachter. Und zugleich kostet der Transport auf der Schiene nur ein Fünftel dessen per Luftfracht.“ Dass der Bahntransport doppelt so viel Kohlendioxid ausstößt wie das Verschiffen, mag niemand bei DHL bestätigen.
Dennoch seien die Vorteile der Bahnstrecke so offensichtlich, dass sie das Zeug habe, „den internationalen Handel vollkommen zu verändern“, heißt es. „Das aber erfordert eine enge Zusammenarbeit zwischen Organisationen, Regierungen und Ländern.“ Die ist in Khorgos mit Händen zu greifen. Die Container von Shanghai Shipping, Yang Ming Line, Woojin Logistics und China Railway Express stapeln sich. Den Kasachen helfen chinesische Fachleute vom staatlichen Hafen Lianyungang und der Containerreederei Cosco. China hält – natürlich – 49 Prozent am Trockenhafen. Einfach sei es nicht, mit den Chinesen zu arbeiten, sagt Khamzin. „Aber wir brauchen die Leute, ihre Erfahrung, ihre Professionalität. Wir sind ein junges Land, gerade mal 27 Jahre unabhängig.“ Auf Dauer ließen sich durch eine Kombination der Verkehrsarten Verbindungen bis nach Japan und Korea aufbauen, hofft er. Dann hätte Eisenbahnchef Alpysbayev recht behalten: „Wir hängen hier nicht vom Wachstum nur in China ab, sondern vom globalen Wirtschaftswachstum“, beharrt er.
Längst ist die Seidenstraße auf Schienen im Dauerverkehr belegt. Die drei Stränge verlaufen nördlich des alten Karawanenweges von Urumqui durch die usbekischen Oasenstädte Samarkand, Bukhara und Khiva. Damals waren die Kamele und Pferde mit Seide, Porzellan und Pistazien beladen. Heute werden in Khorgos Container mit Computern aus der Fabrik von Hewlett Packard in Chongqing genauso verladen wie solche mit Autoteilen, Möbeln oder Kleidung. Für John Deere sendet DHL Züge mit Mähdreschern. Einst zogen die Karawanen in der ständigen Angst vor Überfällen von Räubern und Sklavenhändlern. Heute stellen die Chinesen viele Container in offene Waggons, in denen eigentlich Weizen oder Kohle gefahren werden. So lassen sich die tief darin stehenden Boxen an keinem Bahnhof öffnen, die Ware kann nicht gestohlen werden. Jeden Container überwacht DHL per GPS von seinem Kontrollzentrum in Malaysia aus; Position, aber auch Temperatur und Feuchtigkeit werden gemeldet. „Bald werden wir auch Kameras an den Containern haben, die festhalten, wer sie öffnet“, sagt Engin. Aber schon heute sei der Transport ungefährlich.
Auch deshalb ist der Verkehr stark gestiegen: Rollten 2015 erst 545 Züge von China gen Westen, waren es 2017 schon 2397. In die andere Richtung waren es nach 247 vor zwei Jahren im vergangenen Jahr 1276. DHL hält ein Zehntel in dem zersplitterten Markt. Bis 2020, schätzt Engin, sollen es 5000 Frachtzüge jährlich über die drei Korridore im Süden, in der Mitte und im Norden werden – fast 14 an jedem Tag. Für Yeshenkhanov, den Direktor der Freihandelszone, ist all das viel mehr als eine Fata Morgana. Bald soll hier eine Stadt mit hunderttausend Menschen aus dem Steppenboden wachsen. Eine Tierfutterfabrik und ein Chemiewerk hat China versprochen. Das ist erst der Anfang: „Wir haben einen Flughafen ausgewiesen. Investoren aus China, Japan und Singapur zeigen Interesse.“ DHL prüft, ob sich eine Partnerschaft zwischen der Deutschen Post, KTZ und Atlas Air rechnet. Bahnchef Alpysbayev hat erklärt, Kasachstan erwarte 51 Projekte aus China.
Kommt es so, wird es der kleinen Zhanalya bald noch bessergehen. Im öden Niemandsland zwischen Kasachstan und China, keine 30 Kilometer vor Khorgos, bauen die Chinesen Einkaufstempel und Hoteltürme für die Kasachen. Die beladen ihre verrosteten Busse und Kleinwagen mit Säcken voller Billigkleidung, gefälschten Nike-Schuhen und warmen Decken aus dem Reich der Mitte. Vom fernen Astana aus suchen sie Investoren für einen Vergnügungspark für chinesische Touristen. Bislang ragen davon nur Betonskelette in die Luft. Zhanalya aber lernt schon heute in der Schule Mandarin.
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''Christoph Hein'' ist Wirtschaftskorrespondent der F.A.Z. für Südasien / Pazifik mit Sitz in Singapur.
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