Issue: Sonderausgabe 2018/2018
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 06.08.2018, S. 11
Wie kann es sein, dass achtzig Prozent der Chinesen ihre Erfassung in einem mit Künstlicher Intelligenz betriebenen Punktesystem gutheißen, mit dem ihr Verhalten in potentiell allen Lebensbereichen nicht nur bewertet, sondern automatisch auch belohnt oder bestraft wird? Eine repräsentative Online-Umfrage, die die Freie Universität Berlin in China anstellte, hat soeben genau dieses Ergebnis erbracht. Und ausgerechnet die Gebildeteren, Wohlhabenderen und etwas Älteren, die Stützen also jener Mittelschicht, von der einer bisher gültigen Politiktheorie zufolge das größte Verlangen nach Demokratisierung und Liberalisierung in der Volksrepublik ausgehen wird, ausgerechnet die sind am meisten dafür.
Möglicherweise wird das sogenannte Sozialkreditsystem, das von 2020 an alle Chinesen erfassen soll und das in den westlichen Öffentlichkeiten eine große, aus Faszination und Schrecken gemischte Aufmerksamkeit gefunden hat, immer noch unterschätzt. Man stellt sich darunter oft bloß eine Verlängerung und Vervollkommnung der staatlichen Überwachungsmaschinerie vor, der diktatorischen Herrschaft also, die die Kommunistische Partei über die Bevölkerung ausübt – mit dem Staatsapparat auf der einen Seite und auf der anderen einem Volk geduckter Existenzen, die unter dem Druck der immer weiter gehenden Überwachung immer geduckter werden. Ein solches System wäre kein wirklicher Konkurrent im Wettbewerb der Systeme, in dem sich die Bundesregierung in der neuen globalen Konstellation sieht. Die Geschichte hat zur Genüge erwiesen, dass eine Herrschaftsform, die die Gesellschaft von außen dirigiert und nicht aus sich heraus wirken lässt, auf Dauer schon rein wirtschaftlich nicht überlebensfähig sein kann und der liberal-demokratischen Regierungsweise daher auf Dauer hoffnungslos unterlegen ist.
Doch die von der Politikwissenschaftlerin Genia Kostka angestellte Untersuchung liefert Indizien dafür, dass die Pointe des Sozialkreditsystems eine andere, abgründigere sein könnte. Die Befragten sehen das System nicht vor allem als ein Medium der Überwachung an, sondern als Instrument, um eine institutionelle und regulatorische Lücke zu schließen und damit ihre eigene Lebensqualität zu verbessern. Als einen Hauptmissstand der chinesischen Gesellschaft identifizieren sie einen allgemeinen Mangel an Vertrauen, zumal Staat und Justiz gleichzeitig bemerkenswert schwach darin seien, etwa säumige Schuldner zur Rückzahlung ihrer Schulden zu zwingen. Beides zusammen stelle ein Hindernis für die Vergabe von Krediten und damit für das Funktionieren der Marktwirtschaft überhaupt dar. In dieser Lage versprechen sie sich von den verschiedenen Sozialkreditsystemen im Land eine transparente Messung ihrer Kreditwürdigkeit anhand eindeutiger und präziser Daten und Kriterien und mithin eine Steigerung der eigenen Lebenschancen. Das Thema steht für technologischen Fortschritt.
Bisher haben die meisten Chinesen allerdings nur wenig Erfahrung mit dem staatlichen Sozialkreditsystem, das für alle Bürger verpflichtend sein wird, sich bisher aber noch in der Erprobung befindet und in umfassender Form nur in einigen Modellstädten angewendet wird. Lediglich sieben Prozent der repräsentativ ausgesuchten Teilnehmer der Umfrage waren Teil eines solchen Modellprojekts, während achtzig Prozent angaben, freiwillig an den Sozialkreditsystemen teilzunehmen, die die großen Internetkaufhäuser wie Alibaba ihren Kunden anbieten – und dies, obwohl gerade die kommerziellen Punktekonten sehr weit in der Auswertung privater Daten gehen. „Zhima Credit“ von Alibaba etwa entwirft nach einem unbekannten Algorithmus ein Persönlichkeitsprofil, wie es sich aus der Zahlungsmoral, den Kaufpräferenzen innerhalb des Internetkaufhauses (der Erwerb vieler Computerspiele kann auf Leichtsinn hindeuten, die Anschaffung von Babykleidung dagegen auf Verantwortlichkeit) und sogar aus den Kontakten innerhalb der sozialen Netzwerke zu erkennen gibt. Wer sich auf Leute mit einem niedrigen Punktestand einlässt, senkt automatisch auch die eigene Kreditwürdigkeit, während Bekanntschaften mit Inhabern vieler Punkte das Vertrauen erhöhen, das einem selbst entgegengebracht wird.
Bei einem solchen kommerziellen System kann der Kunde allerdings nicht mehr verlieren als günstige Kauf- und Kreditkonditionen. Beim staatlichen System dagegen kann eine niedrige Punktzahl zu öffentlicher Bloßstellung und zu ganz handfesten Einschränkungen der Bewegungsfreiheit führen. Schon jetzt stehen Millionen Bürger auf einer von Gerichten veröffentlichten Schwarzen Liste, weil sie Rechnungen nicht beglichen oder Geldbußen nicht entrichtet haben; die Konsequenz ist, dass sie nicht mehr ohne weiteres Tickets für Flugreisen oder für Fahrten mit Hochgeschwindigkeitszügen kaufen können. Verblüffend ist daher, dass bei der FU-Untersuchung die höchsten Zustimmungsraten ausgerechnet bei Befragten erreicht werden, die schon Teil eines staatlichen Modellversuchs sind. In begleitenden Interviews gaben sie an, dass sie erwarten, dass der chinesische Sicherheitsapparat ohnehin alle Daten über sie habe oder haben könne. Wegen des neuen Systems machten sie sich deshalb keine zusätzlichen Sorgen. Anscheinend erhoffen sie sich, dass die ohnehin schon vorhandene Überwachung verlässlicher, weniger willkürlicher werde.
Das erstaunliche Ergebnis der Studie ist also, dass ein Großteil der Befragten das Sozialkreditsystem vor allem als Stärkung der Marktwirtschaft, der Moral und der individuellen Entwicklungsmöglichkeiten empfindet, man könnte auch sagen: der Gesellschaft. Die Autoren der Untersuchung stellen in Rechnung, dass sich in einem autoritären System manche Befragte, auch wenn ihnen Anonymität zugesichert wurde, mit Kritik lieber zurückhalten; doch auch dann bleibe aussagekräftig, dass 49 Prozent sogar starke Zustimmung zu dem Projekt äußerten.
Anscheinend geht das Kalkül der Kommunistischen Partei Chinas auf, die sich nach der Kulturrevolution und dann noch einmal unter veränderten Vorzeichen nach der Demokratiebewegung von 1989 die Frage stellte: Wie kann die Partei alles unter Kontrolle behalten und gleichzeitig die von der Gesellschaft ausgehende Dynamik entfesseln, die für den wirtschaftlichen Erfolg notwendig ist? Schon in den letzten Jahrzehnten hat die KPC diese Paradoxie weit effektiver gemeistert als alle kommunistischen Systeme vor ihr, insbesondere die Sowjetunion. Mit den geduckten Existenzen, die man innerhalb des immer strafferen Autoritarismus erwarten würde, wäre der hochenergetische Kapitalismus auf allen Ebenen der Gesellschaft, der China zur Wirtschaftsmacht gemacht hat, schwer möglich gewesen. Das Sozialkreditsystem treibt den Selbstwiderspruch nun auf die Spitze: Von seiner Grundidee her fallen dort totale Überwachung und totale Selbstorganisation in eins.
Das ist natürlich nur ein Idealtypus. In der sozialen und politischen Wirklichkeit ist das chinesische Parteiregime nach wie vor von zahllosen durch Ignoranz, Schlampigkeit, Opportunismus und Korruption herbeigeführten Dysfunktionalitäten geprägt. Dennoch ist es ratsam, die Herausforderung, die für westliche Demokratien in diesem Modell liegt, ernst zu nehmen. Die Politikwissenschaftlerin Samantha Hoffman weist in einem Papier des Forschungszentrums Merics darauf hin, dass Konzepte einer kybernetischen Leitung der Gesellschaft unter dem Leitthema „Gesellschaftsmanagement“ seit Jahren eine immer größere Rolle in der Theoriebildung der Partei spielen; Hoffman spricht von einem „Autonomen Nervensystem“ Chinas.
Die FU-Studie nennt zu Recht das Stichwort „Gouvernementalität“. Unter diesem Namen fasste Michel Foucault die Säkularisierung von pastoralen Strategien, mit denen seit dem fünfzehnten Jahrhundert die europäischen Staaten das tägliche Verhalten ihrer Bürger zu lenken und zu kontrollieren versuchten; besonders wirkungsvoll gelinge das dem Neoliberalismus, indem er die Selbstverwirklichung der Regierten ins Kalkül der Regierenden einbeziehe: Die „Rationalität der Regierten soll als Regelungsprinzip für die Rationalität der Regierung dienen“. Man könnte denken, China habe dieses Konzept, das Foucault erst durch nachträgliche Abstraktion dem historischen Material abrang, von vornherein als Blaupause für seine Politikplanung genommen. Es hat eine Apparatur eingerichtet, die die Eigenrationalität des Markts (Kredit) ebenso wie der traditionellen Moral (Vertrauenswürdigkeit, was schon im Konfuzianismus eine wichtige Kategorie war) dazu verwendet, die Rationalität des autoritären Staats, die Überwachung, durchzusetzen.
Die Künstliche Intelligenz schafft dabei die Möglichkeit, das eine mit dem anderen quasiautomatisch kurzzuschließen: Sie führt die Daten aus der Beobachtung der digitalen Netze und des öffentlichen Raums zusammen und verbindet sie zugleich mit den Sanktionsmöglichkeiten, indem das aktuelle Punktekonto in die Ausweis- und Chipkarten eingespeist wird, ohne die kein Ticketerwerb, keine Hotelbuchung, kein größerer Kauf, demnächst nicht einmal eine Autofahrt durch ein Stadtzentrum möglich ist. Das erwünschte Verhalten wird damit tendenziell ohne Zwischenschaltung einer von außen eingreifenden Macht herbeigeführt; jedes Verhalten zieht automatisch eine vorher angekündigte Konsequenz nach sich, die wiederum der Logik der verschiedenen gesellschaftlichen Subsysteme entspricht. Auch Firmen und sogar Regierungsbehörden sollen mit Punktekonten bewertet und sanktioniert und damit in das sich selbst regulierende System einbezogen werden. Als übergeordnete Instanz bleibt neben den digitalen Apparaten dann nur die Kommunistische Partei übrig, die die Gesellschaft und jeden Einzelnen in ihr durch den Markt und die Moral selbst überwachen lässt.
Fort fällt dagegen die Vorstellung, dass es Menschen sind, die im Wettbewerb und Ausgleich ihrer unterschiedlichen Auffassungen der Welt die Politik machen. Foucault setzte auf die Gegenreaktionen, die sich etwa in Form des Naturrechts oder der Aufklärung seinerzeit in Europa formiert hatten: den Willen, „nicht auf diese Weise und um diesen Preis regiert zu werden“. Aber in der direkten Konkurrenz mit der totalen Technokratie werden sich die Demokratien wahrscheinlich auch anstrengen müssen, die besseren Ergebnisse zu erzielen.
-----
''Mark Siemons'' ist Feuilletonkorrespondent der F.A.Z. in Berlin.
Alle Rechte vorbehalten © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main. Vervielfältigungs- und Nutzungsrechte für F.A.Z.-Inhalte erwerben Sie auf www.faz-rechte.de
Für eine vollständige Version dieses Beitrags inkl. Quellenverweisen wählen Sie bitte das PDF-Format.