International Reports
Lange hat die Republik Moldau für die Europäische Union nur eine untergeordnete Rolle gespielt. Es ist eines der ärmsten Länder Europas. Mit 2,5 Millionen Einwohnern leben dort weniger Menschen als in Berlin. Doch mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine wurde Moldau aufgrund seiner Lage zwischen Rumänien und der Ukraine plötzlich relevant. Aktuell ist Moldau nach der Ukraine die zweite Verteidigungslinie Europas. Es ist genau diese Lage, deretwegen Moskau darauf bedacht ist, sich die Unterstützung des formal neutralen Landes zu sichern. Eine moskauhörige Regierung in Chişinău würde Putin neue strategische Möglichkeiten eröffnen und den Druck auf den Süden der Ukraine erheblich erhöhen.
Putin wird also weiter versuchen, einen imperialen Graben durch Europa zu pflügen, der nicht nur die Ukraine von uns trennen soll, sondern auch Moldau, Georgien und den westlichen Balkan. Wenn diese Länder dauerhaft von Russland destabilisiert werden können, macht das auch uns in der Europäischen Union angreifbar.
Vor allem die Republik Moldau ringt um Stabilität, wird sie doch wegen ihrer Solidarität mit der Ukraine und der pro-europäischen Orientierung, vertreten von Präsidentin Maia Sandu – selbst Stipendiatin der Konrad-Adenauer-Stiftung – vom Kreml offen ins Visier genommen. Sandu löste 2020 den pro-russischen Präsidenten Igor Dodan ab und kam mit 58 Prozent der abgegebenen Stimmen als erste Frau in Moldau ins höchste Staatsamt. Sie hat ihr Land auf Westkurs getrimmt. Beflügelt wurde die Präsidentin in ihrem Bestreben bisher durch eine solide und reformwillige Mehrheit im Parlament. Im Gegenzug hat Russland mehrfach den moldauischen Luftraum verletzt und aktiv versucht, die Energiepolitik als Mittel politischer Erpressung einzusetzen. Vor dem 24. Februar 2022 hat das kleine Nachbarland der Ukraine noch 100 Prozent seiner Gasimporte aus Russland bezogen, sich aber jetzt im Rekordtempo aus der Abhängigkeit befreit.
Putin spielt über Bande
Nachdem die Energiepolitik als Hebel für politische Erpressung weitgehend weggefallen ist, spielt Putin in Moldau vor allem über Bande: über Transnistrien, das sich 1992 in einem Sezessionskrieg abspaltete. Dort sind seit Anfang der 1990er-Jahre russische „Friedenstruppen“ stationiert, mit denen der Kreml die Souveränität und territoriale Integrität der Republik Moldau untergräbt. Ein militärisches Vorgehen zur Einnahme der abtrünnigen Regionen ist zwar nicht absehbar – vor allem aufgrund der fehlenden Landverbindung zwischen Russland und seinen Verbündeten in Transnistrien –, aber der Konflikt bleibt ungelöst und kann jederzeit mit kaum kalkulierbaren Folgen eskalieren.
Während Transnistrien aktuell als weitgehend stabil gilt, bereitet die Heimatregion der Bevölkerungsgruppe der Gagausen der Präsidentin größere Sorgen. Gagausien hatte sich ebenso wie Transnistrien noch vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion von Moldau abgespalten, war aber 1994 in den Staatsverbund zurückgekehrt. Die rund 160.000 Gagausen machen vier Prozent der moldauischen Bevölkerung aus und leben im Südwesten der Republik in einem unzusammenhängenden Gebiet von der Größe des Saarlands. Besonders hier arbeitet Russland tatkräftig an einer systematischen Destabilisierung. So versprechen pro-russische Politiker in Gagausien gerne, dass das billige russische Gas wieder fließen und es Direktzahlungen für Geringverdiener geben werde. Dass dies aufgrund der aktuellen Sanktionen und des Krieges im Nachbarland gar nicht mehr möglich ist, wird außer Acht gelassen.
Richtungsweisende Entscheidungen
Das Land bereitet sich also in einer außen- und innenpolitisch äußerst angespannten Ausgangslage nun auf zwei richtungsweisende Entscheidungen am 20. Oktober vor. Parallel zu den Präsidentschaftswahlen hat Maia Sandu eine Volksabstimmung über den Beitritt zur Europäischen Union angekündigt. Die Bürger werden dabei gefragt, ob sie grundsätzlich für oder gegen einen Beitritt zur EU sind. Stimmen sie mit einer Wahlbeteiligung von mehr als 33 Prozent dafür, erhält die EU-Integration als „strategisches Ziel der Republik Moldau“ Verfassungsrang. Damit will Sandu also dem EU-Kurs des Landes eine demokratische Legitimierung geben. Wer sie am Wahltag nicht wählt, so ihre Botschaft, muss sich trotzdem für oder gegen Europa entscheiden. Ein positives Referendum würde demnach auch einen potenziellen pro-russischen Nachfolger binden und wäre ein klares Signal an Moskau, dass ein von Russland steuerbares Moldau nur unter massivem Widerstand der Bevölkerung möglich sein wird. Nur ein Ja zur Europäischen Union kann in den Augen der Präsidentin also verhindern, dass Moskau die Demokratie in der Republik untergräbt oder das Land gar in einer Art Verlängerung des Ukraine-Feldzugs annektieren könnte. Sowohl die Präsidentschaftswahl als auch das Referendum werden also die grundlegende politische Ausrichtung des Landes maßgeblich prägen.
Wie die Moldauer entscheiden werden, ist bisher unklar. Die Gesellschaft gilt als gespalten – zwischen der sowjetischen Vergangenheit und russischen Versprechen von günstigem Gas und Schutz auf der einen und einer möglichen europäischen Zukunft auf der anderen Seite.
Vision von einer besseren Zukunft
Präsidentin Sandu geht mit der Vision von einer besseren Zukunft – einer europäischen Zukunft – ins Rennen. Im Mai vergangenen Jahres haben 80.000 Moldauer in Chişinău für einen EU-Beitritt demonstriert. Sie wollen sich aus dem russischen Würgegriff befreien. 45 Prozent der Moldauer gaben im Herbst laut dem repräsentativen „Eurobarometer“ an, sie fühlten sich der EU „sehr“ oder „ziemlich“ verbunden. Darüber hinaus kann Sandu auf eine beeindruckende Bilanz beim Krisenmanagement verweisen. Seit zwei Jahren arbeitet ihre Regierung im permanenten Krisenmodus und hat es trotzdem geschafft, das Land aus der totalen Abhängigkeit von russischem Gas zu führen. Dafür sowie für die Hingabe und persönliche Integrität der Präsidentin verdient Moldau internationale Anerkennung. Maia Sandu verkörpert also eine einzigartige Chance für das Land, die aber zeitlich begrenzt ist. Der Präsidentin und ihrer Partei Aktion und Solidarität (PAS) – die seit 2017 auch assoziierten Mitgliedstatus der Europäischen Volkspartei genießt – stehen bis 2025 neben der Präsidentschafts- auch noch Kommunal- und Parlamentswahlen bevor. Dreimal müssen sie sich den Wählern stellen, die von hohen Energiepreisen gebeutelt und über unerschwingliche Lebenshaltungskosten aufgebracht sind.
In der Tat sehen viele Menschen kaum Verbesserung in ihrem Lebensalltag. Die amtierende Regierung hat es nicht geschafft, die Korruption so zu bekämpfen, wie ursprünglich angekündigt. Und auch wirtschaftlich geht es nicht voran. Die Inflation belief sich im Jahr 2022 auf 28 Prozent. Dazu hat das Land seit 2022 450.000 ukrainische Flüchtlinge aufgenommen – bei einer Bevölkerung von gerade mal 2,6 Millionen. Besonders diese Thematik rückt der Kreml durch Desinformationen, das Einschleusen von Provokateuren und finanzielle Unterstützung von pro-russischen Parteien und Medien immer wieder in den Fokus und schürt damit Ängste derjenigen, die befürchten, mit einem EU-Beitritt gingen unkontrollierte Migration und explodierende Preise einher.
Die bereits erwähnte Umfrage aus dem Herbst 2023 hatte ergeben, dass 51 Prozent der Befragten sich „nicht sehr“ oder „überhaupt nicht“ mit der EU verbunden fühlen. Darunter fallen auch diejenigen, die sich mit der sowjetischen Vergangenheit des Landes noch verbunden fühlen oder zumindest einen Mittelweg zwischen Ost und West einschlagen wollen. Die Neutralität des Landes, die in der Verfassung verankert ist, ist für diese Bevölkerungsgruppe unverhandelbar. Genau diese Mentalität greift die russische Propaganda auf und versucht die Sorgen derjenigen zu nähren, die mit dem EU-Kurs der Präsidentin einen direkten Eintritt in den Krieg in der Ukraine befürchten. So behauptete die russische Außenamtssprecherin Marija Sacharowa unlängst im russischen Fernsehen, das man in Moldau über Satellit empfangen kann, Maia Sandu hasse Russland. Moldau habe sich einst unter Moskaus Führung zu einem prosperierenden Industrie- und Agrarland entwickelt und heutzutage flüchteten die Menschen vor „Hunger und Rechtlosigkeit“.
Maia Sandu braucht also jedes Argument für ihren pro-europäischen Kurs. Setzen tut sie dabei auch auf Symbolik. Das Regierungsgebäude in Chişinău ist neben der nationalen mit einer riesigen EU-Flagge geschmückt. So auch viele andere Verwaltungsgebäude. Wer also aktuell die Republik Moldau besucht, erhält den Eindruck, das Land sei bereits EU-Mitglied.
Dabei haben wir lediglich den Startschuss für den EU-Beitrittsprozess erlebt. Substanzielle Beitrittsverhandlungen im eigentlichen Sinne haben noch nicht begonnen. Grundlage für die bilateralen Beziehungen ist also weiterhin das 2014 unterzeichnete Assoziierungsabkommen. Die moldauische Wirtschaft setzt große Hoffnungen auf eine EU-Mitgliedschaft. Der Zugang zum Binnenmarkt, umfangreiche Investitionsmöglichkeiten und finanzielle Unterstützung aus Brüssel könnten das Land aus seiner wirtschaftlichen Abhängigkeit von Russland befreien und die Lebensbedingungen der Bevölkerung deutlich verbessern. Bereits jetzt haben zahlreiche Reformen, die im Zuge des Annäherungsprozesses umgesetzt wurden, positive Effekte gezeigt.
Unterstützung beim Kampf gegen Desinformation
Zudem unterstützt Europa das Land beim Kampf gegen staatlich gesponserte Desinformation. So hat die EU im Rahmen der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik im April 2023 eine zivile Mission in das Land entsandt, um die Cybersicherheit zu verbessern und hybride Angriffe aus Russland zu bekämpfen. Es geht um Kapazitätsaufbau, Trainingsmaßnahmen und eine verbesserte Resilienz für die moldauischen Behörden, die unter den Cyberangriffen aus Russland ächzen.
Wir müssen Moldau politisch und finanziell weiterhin unterstützen und das Land und seine aktuelle Regierung in ihrem bemerkenswerten Reformwillen weiter an die EU binden. Dabei sollte die EU ihre immense Unterstützung besser kommunizieren. Gleichzeitig müssen wir aber auch sicherstellen, dass die Voraussetzungen für eine Mitgliedschaft vollständig erfüllt sind. Ein verfrühter Beitritt könnte mehr schaden als nützen und das Vertrauen in die Integrität des europäischen Projekts untergraben. Das ist auch der Grund, warum es zum jetzigen Zeitpunkt keine verbindliche Beitrittszusage gekoppelt mit einem bestimmten Datum geben kann. Moldauische Gesetze müssen an das EU-Recht angepasst, die Verwaltung nach EU-Vorgaben aufgestellt und die Menschen im Land mit den EU-Regeln vertraut gemacht werden.
In den anstehenden Beitrittsverhandlungen geht es nun darum, exakt festzulegen, welche Reformen der Beitrittskandidat unternehmen muss, um im Konzert der EU-Mitgliedstaaten mitspielen zu können. Das dient nicht nur dem Schutz des Beitrittslandes, das ohne eine solche Anpassung mit dem EU-Acquis schlichtweg überfordert wäre, sondern auch dem Schutz der EU selbst. Bevor wir wieder wachsen, braucht unsere Gemeinschaft eine starke Struktur – vom Keller bis zum Dach. Das bedeutet interne Reformen der Entscheidungsprozesse. Es muss in den nächsten Jahren, parallel zu den Beitrittsverhandlungen, darum gehen, nicht nur die Fassade zu verschönern, sondern die Bausubstanz unserer EU zu verbessern, damit wir anschließend nicht nur größer, sondern auch stärker werden.
Moldau hat den Willen und die Entschlossenheit gezeigt, sich Richtung Westen zu orientieren. Am Ende wird es auf die Umsetzung ankommen – und darauf, ob das Land den langen Atem hat, den dieser Weg erfordert. Auf diesem Weg ist breite Unterstützung für Präsidentin Maia Sandu das Gebot der Stunde.
David McAllister (CDU) ist seit 2014 Mitglied des Europäischen Parlaments und leitet den Auswärtigen Ausschuss. Er ist Vizepräsident der Europäischen Volkspartei (EVP).
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