Issue: Sonderausgabe 2018/2018
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 04.02.2018, S. 5
Ende der neunziger Jahre war China schon die siebtgrößte Volkswirtschaft. In Schanghai eröffnete im 87. Stock des neuen Jin-Mao-Turms das höchste Fünf-Sterne-Hotel der Welt. Doch im Bergdorf Baini, eineinhalbtausend Kilometer südwestlich, gingen die Bauern weiter mit halbleerem Magen ins Bett. Wie sie wohnten drei Viertel der chinesischen Bevölkerung auf dem Land. Die durchschnittliche Wirtschaftsleistung pro Kopf lag bei jährlich 872 Dollar, das war 2,5 Prozent von dem, was ein Amerikaner produzierte. In Baini war selbst der Reis von den Wasserterrassen am Hang knapp und wurde in dünner Suppe gekocht. Mussten die Dörfler ins Tal, kletterten sie dreißig Kilometer einen Trampelpfad hinab, eine Straße gab es nicht.
Im Januar 2018 surrt ein Roewe den Berg hinauf, ein chinesischer Mittelklassewagen mit Hybridantrieb, im Kofferraum liegen in Kartons eingepackt fünf neue All-in-one-Computer und Laserdrucker des Pekinger Herstellers Lenovo, der vor über zehn Jahren das Computergeschäft der früheren amerikanischen Wirtschaftsikone IBM geschluckt hat.
Die geteerte Straße gibt es schon seit vielen Jahren. Nun kommt das Internet auf den Berg, in Hochgeschwindigkeit. Chinas Führung hat das Ziel vorgegeben, die zerklüftete Landschaft fernab der Küste zum Hochtechnologiestandort umzubauen. Amerikas Silicon Valley soll sich künftig messen lassen an der Innovationskraft eines riesigen Chinas voller Datenberge.
Das Ziel könnte anspruchsvoller kaum sein. Die Provinz Guizhou, in der Baini liegt, ist im Land die drittärmste, die Wirtschaftsleistung pro Kopf beträgt hier immer noch nur 5000 Dollar im Jahr. Im drittärmsten Bundesstaat Amerikas, West Virginia, liegt der Wohlstand acht Mal höher. Wer aus den Panoramafenstern der Wolkenkratzer in Schanghai und Peking schaut, staunt, wie viele Türme seit dem letzten Besuch wieder in den Himmel geschossen sind. Aber er übersieht womöglich, dass China sich abseits der Metropolen stellenweise anfühlt wie der größte Slum der Welt.
Das ändert allerdings nichts daran, dass die Pekinger Führung einen Plan hat, den sie rücksichtslos verfolgt. Geht er auf, beherrscht das Land in dreißig Jahren die Welt.
Der Plan ist zu besichtigen in Dörfern wie Baini. Oben auf dem Berg haust am Ende eines Klettersteigs eine Frau, deren Gesicht die chinesische Zentralbank im Jahr 1980 auf den Ein-Yuan-Schein druckte; damals begann an Chinas Ostküste der Wirtschaftsboom. Von dem hatte das Hinterland aber wenig. Die Yuan-Lady ist heute 58 Jahre alt und mit einem Jahreseinkommen von weniger als 293 Euro weiter offiziell arm.
800 Millionen Menschen haben sich in China seit dem Tode Maos aus der Armut befreit. Und das Tempo lässt kaum nach. Vor fünf Jahren lebten in China noch 100 Millionen Arme, heute noch 40 Millionen. Den Rest soll die Wunderwaffe Internet über die Einkommensgrenze hieven, dann hätte die Kommunistische Partei zu ihrem 100. Geburtstag 2021 eine saubere Bilanz.
Im Bergdorf Baini richtet die Regierung – wie überall im Land – den Reisbauern E-Commerce-Stationen ein, klinkt die Dörfer in Chinas Datencloud ein, lehrt in Pflichtkursen Photoshop, auf dass das Bergvolk den geernteten Reis und Tee in selbst gestalteten Verpackungen auf der Plattform des chinesischen Alibaba-Internetkonzerns verkaufen kann. Der hat diese Woche gemeldet, dass er nun bald 600 Millionen Kunden hat. Diese Kunden haben dem Konzern im vergangenen Quartal den Umsatz verdoppelt im Vergleich zum Vorjahr; und das schon das siebte Quartal in Folge.
Bis Mitte des 19. Jahrhunderts verstand sich China als ein Reich, das „alles unter dem Himmel“ umfasst. Nach dieser Definition war auch Europa chinesisch. Eineinhalb Jahrhunderte später ist in China das Selbstbewusstsein zurück. Präsident Xi Jinping ruft es als „Großmacht“ aus. Und in einem fensterlosen Raum in der Zentrale des Alibaba-Konzerns sitzt Entwickler Wang Gang, den das Massachusetts Institute of Technology zu einem der klügsten Köpfe der Gegenwart erklärt hat, kichert und sagt: „Natürlich werden wir Amazon überholen.“ Ein Parteikader, der im Bergdorf Baini die digitale Aufrüstung und Ausbildung beaufsichtigt, macht keinen Hehl daraus, dass das für die Einheimischen hart ist. „Wenn die Bauern vor dem Computer hocken, ist das, als müssten sie Englisch lernen. Aber sie werden es schaffen.“ 156 Dörfer soll der Parteimann bis zum Jahresende an den Internethandel anschließen. 98 hat er schon abgehakt.
Chinas Selbstbewusstsein scheint grenzenlos. Der Pekinger Fahrdienstleister Didi Chuxing hat sein amerikanisches Vorbild Uber aus den Städten gejagt, nun ist der Rest der Welt dran. Hersteller Huawei aus Shenzhen bläst zur Attacke auf Apples iPhone. Der Schanghaier Autobauer Nio will mit einem Elektro-SUV Konkurrent Tesla besiegen – und bietet sein Auto darum halb so teuer an wie der Konkurrent. In Shanghai könnte im kommenden Jahr auch der erste Mittelstreckenjet des Flugzeugbauers Comac vom Band laufen, der Konkurrent Boeing aus Seattle Marktanteile abnehmen soll.
In zehn Schlüsselindustrien soll China zum führenden Anbieter aufsteigen, so hat es Peking angeordnet, und das in den nächsten sieben Jahren. Seine Seidenstraßen-Initiative baut China zur neuen Welthandelsorganisation um.
Aber die Kommunisten trauen dem eigenen Erfolg noch nicht so recht. Seit drei Monaten müssten sie „Selbstkritik“ üben, berichten Parteikader aus Hochschulen, Unternehmen, Behörden. Einmal in der Woche gehen sie nun in Anwesenheit ihrer Kollegen mit sich selbst ins Gericht, kritisiert werden müssen anschließend auch zwei Nebenleute, so will es die Führung.
Fast täglich drucken die Parteiblätter Appelle an die Leute, zusammenzuhalten, unablässig schwören Politbürokader auf Xi Jinpings Status als „Kern“. 80 Millionen Parteimitglieder sind angehalten, „das große Bild“ im Blick zu behalten und der Führung zu folgen. Zur Sicherheit müssen Kader überall im Land ihre Finanzen offenlegen. So werden kleinste Steuervergehen, die zwanzig Jahre zurückliegen, zur Gefahr: keine Abweichung! Täglich verteidigen Zeitungskommentare eine Diktatur, die immer härter um sich schlägt: Ein Anwalt, der abends im Internet einen Vorschlag zur Rechtsreform machte, wurde am nächsten Morgen von einem Dutzend Polizisten verhaftet, darunter eine schwer bewaffnete Spezialeinheit; der Mann brachte gerade seinen kleinen Sohn zur Schule. Und ein Hongkonger Verleger parteikritischer Bücher, der auch die schwedische Staatsbürgerschaft besitzt, wurde in Thailand verschleppt und nach dem Ende seiner Haft in China abermals festgenommen.
Die Partei drängt in die Führungsetagen ausländischer Unternehmen und könnte ihnen bald die Werkzeuge für freies Internet abschalten; den eigenen Bürgern droht dies erst recht. Das wirkt paranoid, spricht nicht für den Glauben der Partei, dass sie Stabilität sichern kann und der Welteroberungsplan gelingt. Doch selbstbewusst war die Partei auch nicht Anfang der neunziger Jahre, als Reformer Deng Xiaoping in das ehemalige Fischerdorf Shenzhen in Chinas Süden fuhr und im Drehrestaurant eines der neu errichteten Wolkenkratzer fragte, warum sich der Sozialismus nicht am Aktienmarkt erfreuen dürfe.
Die Unsicherheit der Partei hängt auch damit zusammen, dass China selbst für Chinesen schwer zu deuten ist. Wer der Meinung ist, das Land sei für Amerika ein leuchtendes Vorbild in Sachen Klimaschutz, sucht den Beweis 200 Kilometer von Schanghai, wo auf den Überresten eines Kohlekraftwerks Solarzellen schwimmen – während Chinas Emissionen insgesamt dennoch steigen.
Wer die Gefahr sieht, dass Chinas heiß gelaufene Immobilienwirtschaft implodiert und die Weltwirtschaft in die Tiefe reißt, der fährt in die Geisterstadt Ordos am Rand der Wüste Gobi – während die Wohnungspreise im Rest des Landes einfach nicht fallen.
Wegen der hohen Verschuldung seiner Unternehmen sei China der Topkandidat, um im Zentrum der nächsten Finanzkrise zu sein, warnt der Harvard-Ökonom Kenneth Rogoff; da ist er nicht der Einzige. Die Risiken in Chinas Finanzmarkt seien schlimmer als in den Vereinigten Staaten vor der Finanzkrise 2008, sagt Pekings früherer Finanzminister Lou Jiwei.
Der Aufstieg Chinas zur mächtigsten Großmacht soll ohne große Ausschläge verlaufen, so wünscht es sich Xi Jinping, der oft mit Mao verglichen wird, doch im Gegensatz zum Großen Vorsitzenden schätzt Chinas heutiger Führer das Chaos nicht. Im Gegenteil. Peking plant den alles sehenden Staat, eine Datenbank mit künstlicher Intelligenz, die Unternehmen gleichermaßen überwacht, bewertet und bestraft. Roboter sollen Privatleute an kritischer Meinungsäußerung ebenso hindern wie an verbotener Immobilienspekulation, um Krisen im System zu vermeiden.
„Kann China jemals im Internet erfolgreich sein?“, lautet die zweifelnde Frage eines Artikels der amerikanischen International Data Group, eines mächtigen Verlags aus Boston. Das war 1999. Zwanzig Jahre, bevor Chinas E-Commerce-Industrie bis auf die Berge nach Baini rollte. Man sollte das Land lieber nicht unterschätzen.
-----
''Hendrik Ankenbrand'' ist Wirtschaftskorrespondent der F.A.Z. für China mit Sitz in Schanghai.
Alle Rechte vorbehalten © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main. Vervielfältigungs- und Nutzungsrechte für F.A.Z.-Inhalte erwerben Sie auf www.faz-rechte.de
Für eine vollständige Version dieses Beitrags inkl. Quellenverweisen wählen Sie bitte das PDF-Format.