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John Thys, Reuters

International Reports

Eine Frage der Identität

Die EU als globaler Akteur in einer veränderten Weltordnung

Die innere Verfassung der Europäischen Union ist aktuell von Zerrissenheit geprägt. Im Kern weist diese Uneinigkeit zur Identitätsfrage: Was ist die EU? Gleichzeitig zwingt auch die sich wandelnde Weltordnung die EU zu klären, wer sie sein will. Hier ist die Antwort eindeutig: Sie muss sich auf den Weg machen, ein globaler Akteur zu werden.

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Unzweifelhaft ist die Europäische Union derzeit von Zerrissenheit geprägt. Eine veränderte, geopolitisch herausfordernde Zeit fällt zusammen mit einer inneren Spannung auch unter den Mitgliedstaaten, sodass sich das Projekt der europäischen Integration – wieder einmal – die Frage nach seiner Finalität und damit auch nach seiner Identität stellen muss. Klar ist: Will die EU auf internationaler Ebene bestehen, bleibt ihr keine andere Wahl, als die Rolle als globaler Akteur – mit allen damit verbundenen Schwierigkeiten – anzunehmen.

 

Neue Unübersichtlichkeit

Mehr als eineinhalb Jahre nach Beginn der Coronapandemie ist wie im Brennglas allenthalben deutlich geworden, wie sehr sich die Welt verändert hat, welche globalen Machtverschiebungen eingesetzt haben und wie verletzbar letztlich Nationalstaaten und Staatenbündnisse wie die EU sind. Eine neue Unübersichtlichkeit herrscht vor: Waren die Kräfteverhältnisse zu Beginn der 1990er Jahre mit den USA als einzig verbliebener Supermacht noch klar, ist die Weltordnung heute unübersichtlicher. Einzelne Krisen und Ereignisse, teilweise schleichend verlaufende Prozesse sowie demografische Aspekte haben dazu beigetragen, dass sich die Weltordnung in ein multipolares System verwandelt hat. Insbesondere der endgültige Aufstieg Chinas zur Großmacht scheint dabei eine für Europa wie die EU neue Realität darzustellen, mit der diese offensichtlich noch umzugehen lernen müssen. Wenngleich die Biden-Administration mit Blick auf die EU und das gemeinsame Bündnis der NATO wohltuend andere Töne als ihre Vorgängerin anschlägt, bleibt auch der 46. Präsident mit seinen Interessenlagen klar und deutlich und fordert Brüssel wie die europäischen Hauptstädte heraus. Hinzu kommen Herausforderungen in der unmittelbaren Nachbarschaft der EU wie durch die Türkei, die Instabilität in der MENA-Region, die Perspektiven für den Westbalkan sowie das Verhältnis zu Russland. All diese Ereignisse und Faktoren unterstreichen schlaglichtartig, dass die EU keine andere Wahl hat, als die Herausforderung, eine neue globale Rolle anzunehmen, zu akzeptieren. Nicht zuletzt, weil es mitunter darum geht, Europas Wohlstand und noch mitführende Rolle im weltweiten Handel abzusichern.

Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat dies bereits früh mit ihrer pointierten Aussage als Anspruch formuliert, indem sie von einer „geopolitischen Kommission“ sprach. Dennoch, und das ist auch Teil einer wahrhaftigen Bestandsaufnahme, tut sich Brüssel – und die Mitgliedstaaten – schwer damit, diesen Anspruch auch kohärent und konsequent durch Politik zu untermauern.

 

Spaltungen und Spannungen

So offensichtlich und klar die äußeren Parameter für eine globale Rolle der EU sprechen, so ähnlich klar und überzeugend indizieren jedoch auch endogene Faktoren, dass die EU diese Rolle nicht nur deklaratorisch annehmen, sondern auch politisch erwirken muss. Die vergangenen Jahre haben in Brüssel immer wieder Spaltungen und Spannungen provoziert, die sich nicht durch die üblichen Brüsseler Kompromissformeln haben auflösen lassen. Ein prominentes Beispiel dafür ist die Frage des Umgangs mit Flüchtlingsströmen insbesondere über das Mittelmeer. Das Dublin-System hatte über Jahre die südlichen EU-Mitgliedstaaten benachteiligt, aber erst die Ereignisse der Jahre 2015 und 2016 führten allen vor Augen, dass es dringend einer Reform bedarf. Auch nach der Vorstellung des Asyl- und Migrationspaktes der Kommission vor gut einem Jahr ist es nicht gelungen, Einigkeit darüber herzustellen, wie das Recht auf Asyl, eine faire Auf- bzw. Kostenteilung, effektive Rückführung und menschenwürdiger Außengrenzschutz auf einen Nenner zu bringen sind. Die Konsequenz: Da das Problem auf Unionsebene nicht unmittelbar lösbar scheint, fordern einige Länder, die einzelnen Mitgliedstaaten sollten sich dessen annehmen. Dies wiederum würde den Anspruch der Europäischen Union an sich infrage stellen und letztlich auch den Schengen-Raum unterminieren, abgesehen von der Glaubwürdigkeit, die die EU einbüßen würde.

Ein weiteres Beispiel verweist auf das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit, in dessen Kontext es in den vergangenen Jahren insbesondere mit Blick auf Polen und Ungarn immer wieder scharfe Konflikte gab, die bis zur Einleitung von Vertragsverletzungsverfahren gegen die betroffenen Länder geführt haben. Dem Beobachter mag skurril vorkommen, dass die Frage nach dem Rechtsstaat bei einem Akteur wie der EU, die nicht müde wird, sich als Interessen-, aber auch Wertegemeinschaft zu bezeichnen, überhaupt gestellt werden muss. Die Dringlichkeit der Frage erschließt sich jedoch, wenn man bedenkt, dass die Kommission beispielsweise im Bereich der Nachbarschafts- und Erweiterungspolitik wiederholt und mit gewisser stoischer Haltung die Einhaltung ebenjener Rechtsstaatsprinzipien einfordert, diese beziehungsweise deren Umsetzung offensichtlich aber im Inneren der EU zumindest umstritten sind. Die EU kann jedoch nur dann nach außen glaubwürdig als Vertreter rechtsstaatlicher Standards auftreten, wenn diese auch im Inneren erfüllt werden.

Ein drittes Beispiel aus der jüngsten Vergangenheit mag am besten illustrieren, wo und wie innere, EU-systemisch angelegte Regeln mit der globalen Realität kollidieren und sich die EU selber ein Bein stellt: Ausgerechnet das oftmals als exemplarisch geltende EU-Wettbewerbsrecht hatte 2019 die geplante Siemens-Alstom-Fusion scheitern lassen. Margrethe Vestager, die damalige Wettbewerbskommissarin, schob entsprechenden Plänen einen Riegel vor mit der Begründung, die dadurch entstehende Marktmacht der beiden Akteure verletze das europäische Wettbewerbsrecht. Die Begründung war und ist in sich schlüssig, solange man allein den EU-Binnenmarkt in den Blick nimmt. Sie scheitert jedoch am globalen Realitätscheck, bedenkt man, dass beide Unternehmen zusammen nur in etwas halb so groß waren wie die China Railway Rolling Stock Corporation, der weltweit größte Konkurrent. Schlussfolgerung hier: Das europäische Wettbewerbsrecht hat fälschlicherweise den globalen Wettbewerb noch nicht im Blick.

Diese drei Fälle dokumentieren exemplarisch, wo Anspruch und Wirklichkeit in der EU derzeit auseinanderklaffen. Zugleich verdeutlichen sie aber auch gerade in ihrer Zusammenschau, dass die Fragen nach dem Selbstverständnis der EU nach außen und die Vorstellung dessen, was ihr innerstes Selbstverständnis, ihre Identität, ausmacht, auf das Engste miteinander verwoben sind.

Im Laufe der Geschichte der europäischen Integration gab es immer wieder Bruchstellen: Zeiten, in denen durch äußere, nicht unmittelbar zu beeinflussende Ereignisse die Parameter neu eingestellt werden mussten. Die umfangreichen Vertragswerke von den Römischen Verträgen von 1957 bis zum Vertrag von Lissabon 2009 sind dafür beredtes Zeugnis. Die, die bei diesen Vertragsreformen dabei waren, würden wohl nur sehr bedingt der heutigen Generation empfehlen, die Verträge wieder zu öffnen. Anpassungen sind mit Blick auf viele Bestandteile der EU-Verträge bereits jetzt unterschwellig möglich. Selbst die immer wieder ins Feld geführte Forderung nach Mehrheitsentscheidungen im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik ist insofern wohlfeil, weil es sie auf absehbare Zeit schlichtweg nicht geben wird. Entscheidend wird in den nächsten Jahren nicht sein, welche Artikel reformiert werden, sondern ob die EU und ihre Mitgliedstaaten die neue globale Rolle für die EU akzeptieren und vorantreiben.

 


 

Dr. Hardy Ostry ist Leiter des Europabüros der Konrad-Adenauer-Stiftung in Brüssel.

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