Issue: Sonderausgabe 2021/2021
Das neue geopolitische „Theater“
Nachdem die europäische Kolonialherrschaft in Asien in den 1960er Jahren zu Ende gegangen war, haben sich die europäischen Mächte weitgehend als politische Gestaltungsakteure aus der Asien-Pazifik-Region zurückgezogen. Kontinuierlich enger wurden hingegen die außenwirtschaftlichen Verflechtungen mit dieser Region im Zuge verschiedener Wellen der Globalisierung – eine Entwicklung, die maßgeblich durch die Verbindung europäischer und asiatischer Märkte vorangetrieben wurde. Politisch-strategisch blieben diese Beziehungen allerdings „unterbelichtet“. Das änderte sich erst in den 2000er Jahren, als insbesondere der Aufstieg Chinas zu massiven Verschiebungen der bisherigen Machttektonik führte – nicht nur in der Region Asien und Pazifik.
Diese „geopolitische Achsenzeit“ hat zu neuartigen Handlungszwängen geführt und berührt das politische Selbstverständnis der Europäischen Union im Kern. Im Vergleich zu anderen Ländern und Staatenbündnissen hat es recht lange gedauert, bis auf der Ebene außenpolitischer Konzeptionen eine Anpassung erfolgte. Und ob diese bereits angemessen und ausreichend materiell unterlegt sein wird, muss sich in den nächsten Jahren erst noch erweisen.
Sichtbarer Ausdruck dieser neuen Sichtweise sind die jüngsten außenpolitischen Strategiepapiere und Leitlinien zum Indopazifik, die durch verschiedene europäische Länder und durch den Europäischen Rat veröffentlicht wurden und die einen neuartigen Anspruch der EU, als globaler Partner und strategischer Gestaltungsakteur zu wirken, widerspiegeln. Dieser Anspruch beschränkt sich nicht rein geografisch auf den Raum zwischen dem Horn von Afrika und den Kurilen im Nordost-Pazifik. Die Konzepte integrieren bewusst auch globale Handlungsebenen und Themen wie etwa den Klimawandel und gehen damit über klassische, meist territorial definierte Konzepte hinaus.
Die Realisierung eines solchen Handlungsanspruchs bleibt allerdings untrennbar gebunden an das bisherige strategische Rückgrat europäischer Sicherheit – die Partnerschaft mit den Vereinigten Staaten von Amerika. Mit der Wahl der Biden-Administration sind die Hoffnungen auf eine Wiederbelebung der transatlantischen Achse deutlich gestiegen. Doch muss den Europäern immer bewusst sein, dass das pazifische „Theater“ aus US-amerikanischer Sicht Priorität hat. Denn die umfassende Systemkonkurrenz zwischen der traditionellen und der aufsteigenden Großmacht – zwischen pax americana und pax sinica – entscheidet sich in diesem Raum. Und der Ausgang und das Management dieses Konflikts werden den Charakter des globalen Systems in den nächsten Jahrzehnten nachhaltig prägen. Die entscheidende Frage lautet daher, ob und wie jenseits einer möglichen bipolaren Konfliktordnung noch andere Akteure einen (moderierenden) Einfluss ausüben und ihre eigenen Interessen effektiv werden durchsetzen können. Vor dieser Herausforderung steht im Übrigen nicht nur die EU. Auch die ASEAN-Staaten, die aufgrund ihrer geografischen Lage noch viel unmittelbarer und vielfältiger vom sino-amerikanischen Konflikt betroffen sind, sehen sich einem solchem Dilemma gegenüber.
Europas Dilemma
Für die EU sind mögliche Konsequenzen eines solchen Konflikts eher indirekter und eher wirtschaftlicher Art. Aufgrund ihrer schwachen politisch-militärischen Stellung in dieser Region wird die EU auch in absehbarer Zukunft kaum als maßgeblicher Akteur selbst in Konflikte eingreifen können, sondern ist auf dortige Partner angewiesen. Gerade für Deutschland stellt sich aufgrund seines bisherigen außenwirtschaftlichen Erfolgsmodells aber die dringende Frage einer außen- und sicherheitspolitischen Neujustierung, die eine realistische – Politik und Wirtschaft gleichermaßen umfassende – Risikoanalyse beinhaltet.
Veränderte Rahmenbedingungen und eigener Anspruch erzwingen deshalb ein beinahe revolutionär neues Selbstverständnis der EU als außenpolitischer Akteur und eine neue „Gleichung von Politik und Wirtschaft“. Erste Fortschritte im Sinne einer ressortübergreifenden Politikkoordination der Union sind in den letzten Jahren erzielt worden. Am ambitioniertesten ist hier die vergemeinschaftete Handelspolitik, bei der ein breiter Konsens und ein vergleichsweise effizientes Instrumentarium auf Seiten der EU-Kommission bestehen. In anderen Politikfeldern, wie einer gemeinsamen Außen-, Sicherheits- und Militärpolitik, bleiben die Fortschritte hinter den Erwartungen zurück und werden innerhalb des aktuellen Verfassungsrahmens der Union wohl kaum den Anforderungen gerecht werden. Umso wichtiger werden deshalb neue Aktionsformen wie flexible themenzentrierte Bündnisse innerhalb der EU und mit externen Partnern sein. Wie erfolgreich solche Handlungsformen sind, wird sich zuerst beim Umgang mit der Volksrepublik China zeigen, dem Lackmustest für die außenpolitische Positionierung der EU. Hier ist der Handlungsdruck innerhalb der EU und angesichts der steigenden Erwartungshaltung bei transatlantischen wie pazifischen Partnern am größten.
Trotz einiger negativer Beispiele ist es China bislang nicht gelungen, Europa im Sinne eines divide et impera systematisch zu spalten oder im Sinne einer Juniorpartnerschaft bzw. zumindest einer Äquidistanz im Konflikt mit den USA zu instrumentalisieren. Viel eher hemmend mit Blick auf eine wirkliche Handlungsfähigkeit der EU ist die Tatsache, dass sich die EU mit der neuen Zauberformel „Partner, Wettbewerber und Systemrivale“ nur scheinbar eine flexible „Strategie“ gegeben hat. Bei näherem Hinsehen hat dieser Ansatz eine gravierende Schwäche: Er gründet auf der Hoffnung, es handle sich bei den drei „Handlungsrollen“ um grundsätzlich gleichgeordnete Optionen, die von der EU auch noch maßgeblich selbst gewählt werden könnten. Hier schwingt noch die langjährige Illusion weiter, man könne Politikfelder, wie etwa Sicherheits- und Wirtschaftspolitik, sauber getrennt behandeln – und mit jeweils spezifischen Instrumenten und Philosophien. Doch Logik und Erfahrung zeigen, dass sich der Umgang mit China gerade nicht durch diese Möglichkeit auszeichnet. Denn ein totaler, wenn nicht sogar totalitärer Politikansatz, der jeglicher chinesischen Politik im Innern wie Äußeren zugrunde liegt, schließt solche scheinbaren Wahl- und Handlungsmöglichkeiten überwiegend aus. Zudem besitzt die EU gar nicht die Mittel, das eine oder andere Rollenverhalten der Gegenseite substanziell zu beeinflussen.
Der Eindruck bleibt, dass mit diesem „verbalen Dreiklang“ eher der Versuch unternommen wird, unangenehme Dilemmata und Entscheidungen zu kaschieren, auszusitzen oder auf die lange Bank zu schieben. Das wird aber nicht gelingen, denn vieles spricht für eine sich beschleunigende Eskalationsdynamik in Richtung Systemrivalität, was mit eher eingeschränkten Handlungsoptionen auf Seiten der EU einhergehen dürfte. Es wird in diesem Zusammenhang spannend zu beobachten sein, welche Akzentverschiebungen in den jeweiligen nationalen Chinapolitiken eintreten werden, sei es durch den Austritt Großbritanniens oder die Wahlen in Deutschland und Frankreich im Herbst 2021 bzw. Frühjahr 2022.
Auswege und Handlungsoptionen
Allen diesen Unkenrufen zum Trotz durchläuft Europa gegenwärtig aber doch einen beachtlichen außenpolitischen Reifeprozess. Erste Konturen eines realistischen außen- und sicherheitspolitischen Handlungsfeldes lassen sich erkennen. Sowohl in der Erwartung von außen als auch als realistische interne Option zeichnet sich eine Arbeitsteilung innerhalb des nordatlantischen Bündnisses ab, etwa bei regionalen Verteidigungslasten oder thematischen Kompetenzen.
Dabei könnten wesentlich besser als bisher potenzielle komparative Vorteile der EU als ganzer wie auch einzelner Mitgliedstaaten realisiert werden, basierend auf einem gemeinsamen Wertekonsens. Schon heute zeichnet sich immer mehr eine „variable Geometrie“ von handlungswilligen EU-Mitgliedern und externen Partnern ab, um dem Teufelskreis des kleinsten gemeinsamen Nenners bei Gemeinschaftsentscheidungen zu entrinnen. Das gilt nicht nur für den engen Verbund mit dem ehemaligen EU-Mitglied und NATO-Partner Großbritannien, sondern mehr denn je in Zukunft auch für Allianzen mit Partnernationen etwa im Pazifik.
Es wird und muss durchaus Felder der Zusammenarbeit mit systemischen Rivalen und Konkurrenten, allen voran der Volksrepublik China, bei globalen Krisen geben. Erfolgreich kann ein solcher Ansatz aber nur sein, wenn er auf einem stabilen Gerüst wertegebundener Partnerschaften im atlantischen wie pazifischen Raum steht.
Dr. Peter Hefele ist Leiter der Abteilung Asien und Pazifik der Konrad-Adenauer-Stiftung.