Issue: Sonderausgabe 2021/2021
Die europäische Nahost- und Nordafrikapolitik hat seit dem Barcelona-Prozess 1995 verschiedene Phasen durchlaufen. Die anspruchsvollen Ziele, einen Raum des „Friedens und der Stabilität“, des „gemeinsamen Wohlstands“ und der „Verständigung zwischen den Kulturen“ zu schaffen, konnten allerdings nicht erreicht werden. Vielmehr vergrößerte sich die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit mit Blick auf das Traumbild eines gemeinsamen euro-mediterranen Raumes.
Heute gehören der Nahe Osten und Nordafrika zu den weltweit konfliktreichsten Regionen, in denen sich interne Unruhen, zwischenstaatliche Streitigkeiten sowie regionale Konflikte gegenseitig verschärfen. Gewaltsam ausgetragene Bürgerkriege haben sich im Zuge der wachsenden Rivalitäten zwischen Regional- und Großmächten zu endlosen Stellvertreterkriegen entwickelt, die hunderttausenden Menschen das Leben gekostet und Millionen vertrieben haben. Der demokratische Aufbruch in der Region vor einer Dekade hat nicht die erhofften Veränderungen gebracht. Im Schatten der COVID-19-Pandemie verschärfen sich politische Unsicherheit sowie soziale und wirtschaftliche Probleme und setzen die Regierungen weiterhin unter Druck.
Unter dem Eindruck dieser Herausforderungen betreibt Europa vornehmlich Krisenmanagement, um negative außen-, sicherheits- und gesellschaftspolitische Auswirkungen aus dieser konflikterschütterten Nachbarschaft abzuwenden. Seit 2015 hat sich insbesondere die Migrationsfrage zur dominierenden Angelegenheit in der europäischen Politik gegenüber der Region entwickelt. Zugleich hat Migration die Verflechtung von Innen- und Außenpolitik, die außenpolitischen Schwächen, aber auch die Divergenzen innerhalb der EU-Mitgliedstaaten mit Blick auf eine einvernehmliche Vision für die Region offengelegt. Dieser Ansatz hat nicht nur verhindert, die Beziehungen zu der Nachbarregion neu zu überdenken, sondern hat Europa angreifbar gemacht.
Europas erodierende Gestaltungsmacht
Es ist ein neues Abhängigkeitsverhältnis entstanden. Europa ist heute bei Themen wie Migration und Sicherheit auf die Zusammenarbeit mit seinen Nachbarn angewiesen. Waren zuvor die südlichen Nachbarn in einer Bittstellerposition gegenüber Europa und mussten dessen Konditionen in der Entwicklungszusammenarbeit stillschweigend akzeptieren, können sie heute die Migrationsfrage nutzen, um Druck auf die europäischen Nachbarn auszuüben. Die Türkei nutzte beispielsweise die zeitweise Öffnung ihrer Grenzen zu Griechenland für Flüchtlinge als Mittel, um Europa zu Zugeständnissen in anderen Fragen zu bewegen. Auch Marokko gibt immer wieder zu Spekulationen mit Blick auf seine Kooperationsbereitschaft Anlass. Ebenso sind Andeutungen aus anderen Ländern bezüglich der hohen Zahl von Migranten und deren Bereitschaft, sich auf irregulären Routen nach Europa aufzumachen, ein Beleg für die Verwundbarkeit Europas.
Darüber hinaus ist eine wachsende Bereitschaft in den Ländern der Region zu beobachten, europäische Kooperationsangebote zurückzuweisen. Tunesien ist derzeit das einzige Land in der Nachbarschaft, mit dem offiziell Verhandlungen für eine vertiefte und umfassende Freihandelszone (Deep and Comprehensive Free Trade Area) geführt werden. Allerdings sind auch diese in den letzten Jahren ins Stocken geraten. Somit bleibt das attraktivste Partnerschaftsangebot der EU hinter den Erwartungen zurück. Es wirkt zu bürokratisch und ist zu langfristig angelegt. Aus der Perspektive der Partnerländer werden ihre Bedürfnisse und Prioritäten nicht ausreichend berücksichtigt. Im Wesentlichen geht es dabei um das Prinzip der Konditionalität, das die südlichen Nachbarn immer weniger zu akzeptieren gewillt sind.
Europa ist außen- und wirtschaftspolitisch auch nicht mehr die einzige Option. Die Region Nahost und Nordafrika hat sich in den letzten Jahren zunehmend zu einer Bühne entwickelt, auf der regionale und globale Rivalitäten ausgefochten, geopolitische Einflusssphären abgesteckt und strategische Allianzen geschlossen werden. Dabei umwerben neue Akteure wie China, Russland, die Golfstaaten oder die Türkei die Länder der Region mit attraktiven, unkonditionierten Kooperationsangeboten. Dies sind willkommene Alternativen für viele Staaten im Nahen Osten und in Nordafrika, die auf eine Diversifizierung ihrer Beziehungen bedacht sind. Zugleich bedeuten neue Akteure und neue Allianzen eine Veränderung in der regionalen Machthierarchie. Waren es in der Vergangenheit europäische Gelder, europäische Investitionen und europäische Kooperationsangebote, so sind es heute Gelder vom Golf, chinesische Investitionen oder russische Waffen, auf die diese Länder zurückgreifen können.
Die Gestaltungsmacht Europas im Nahen Osten und Nordafrika erodiert. Dies ist besonders beunruhigend, da die Entwicklungen in dieser direkten Nachbarschaft auch immer Auswirkungen auf Europa haben und die Europäer in dieser Region am besten ihren Einfluss geltend machen könnten. In der südlichen Nachbarschaft wird sich entscheiden, ob Europa seine globale außen-, sicherheits- und wirtschaftspolitische Macht und Relevanz unter Beweis stellen kann.
Auf der Suche nach einer neuen Agenda
Aktuell gibt es wenig Hoffnung, dass Europa eine Initiative zur Erhöhung seiner Bedeutung starten könnte. Die gegenwärtigen internationalen und regionalen Rahmenbedingungen erschweren einen solchen Vorstoß. Der hierfür notwendige politische Wille, die Vision und das Durchsetzungsvermögen lassen sich im europäischen Diskurs ebenfalls nicht erkennen. Das spiegelt sich in der jüngsten EU-Strategie für den südlichen Mittelmeerraum vom Februar 2021 wider. Die sogenannte Joint Communication identifiziert zusätzlich zu den traditionellen Themen wie Migration, Rechtsstaatlichkeit und Sicherheit einige wenige neue wie Digitalisierung oder Klimawandel. Vorgesehen sind darüber hinaus sieben Milliarden Euro im Zeitraum von 2021 bis 2027. Dadurch erhofft sich die EU, dass bis zu 30 Milliarden Euro private und öffentliche Investitionen in die Region fließen. Ob sich solche Hoffnungen erfüllen lassen, bleibt fraglich. Hinweise darauf, welchen konkreten Beitrag Europa zur politischen Stabilisierung der Region oder zur Lösung der Konflikte und Krisen leisten kann, beinhaltet die Strategie nicht. Ebenso wenig finden sich darin Anhaltspunkte darüber, wie sich Europa in der Region geopolitisch positionieren will.
Diese wichtigen Fragen bleiben weiterhin den Mitgliedstaaten überlassen. Damit wird einer weiteren Bilateralisierung der europäischen Außenpolitik Vorschub geleistet. Divergierende Interessen und unterschiedliche nationale Präferenzen der Mitgliedstaaten machen einen kohärenten europäischen Ansatz vorerst unmöglich. Das Fehlen einer proaktiven europäischen Rolle wird von anderen Staaten wie der Türkei, China und Russland ausgefüllt. Deren Vorstellungen vom Nahen Osten und von Nordafrika speisen sich auch aus den eigenen – autoritären – Staats- und Gesellschaftsvorstellungen, was zu einer langfristigen Systemkonkurrenz und damit negativen Auswirkungen für die Europäische Union in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft führen könnte.
Wenn Europa langfristige und nachhaltige Wege finden will, um in der eigenen Nachbarschaft relevant zu bleiben und die Zukunft mitzugestalten, dann braucht es nicht nur finanzielle Anreize, umfangreiche Programme und vielfältige Initiativen, sondern eine positive Agenda und vor allem ein neues Narrativ für die Region: ein Gegenkonzept zum aktuellen Bild des südlichen Mittelmeers als Region mit vielen Problemen, als Pufferzone oder Grenze – hin zu einer Wahrnehmung des Nahen Ostens und Nordafrikas als Nachbarregion mit Potenzialen und Chancen.
Dr. Canan Atilgan ist Leiterin der Abteilung Naher Osten und Nordafrika der Konrad-Adenauer-Stiftung.