Issue: Sonderausgabe 2021/2021
Giftanschläge auf politische Gegner, Strafverfahren gegen Oppositionelle, Polizeigewalt und willkürliche Festnahmen bei friedlichen Demonstrationen – aus diesen Gründen wird in der EU gerade über neue Sanktionen gegen Russland gesprochen. Hunderttausende Uiguren in Xinjiang als Zwangsarbeiter in Lagern, Unterdrückung der tibetischen Kultur, offener Bruch internationaler Verträge beim Vorgehen gegen Hongkongs Demokratiebewegung, Kriegsdrohungen gegen Taiwan – und die EU freut sich trotzdem, dass sie mit China gerade ein Investitionsabkommen unterzeichnen konnte.
Die Europäer sind weit davon entfernt, eine klare Linie gegenüber autoritären Staaten zu verfolgen, in denen die Menschenrechte nicht viel oder gar nichts zählen. Das ist nicht verwunderlich. Die liberalen Demokratien sind eine kleine Minderheit unter den Staaten. Es ist deshalb unvermeidlich, dass sie zur Wahrung ihrer Interessen Beziehungen mit allen Schattierungen des Unrechts und Grauens pflegen, Handel treiben, Kompromisse eingehen, manchmal sogar Bündnisse schließen. Vertreter einer als Realpolitik bezeichneten Schule belassen es gerne bei dieser Feststellung: Die Weltpolitik ist kein Ponyhof. Am anderen Pol der außenpolitischen Debatten stehen Menschenrechtler, die in jedem Deal mit Diktatoren einen unverzeihlichen Sündenfall sehen.
Oft werden interessengeleitete Realpolitik und idealistische Menschenrechtspolitik als Gegensätze dargestellt. Es wäre gut, wenn sich in der europäischen Politik die Erkenntnis durchsetzen würde, dass dem nicht so sein sollte: Eine Außenpolitik, mit der die Position Europas in der Welt auf Dauer gewahrt bleibt, muss die Forderung nach Achtung der Menschenrechte und Einhaltung demokratischer Grundsätze stets deutlich vorbringen. Denn sie sind die Grundlagen dessen, was das Leben auf diesem Kontinent attraktiv macht: des wirtschaftlichen Erfolgs, der sozialen Sicherheit, der Freiheit, den eigenen Lebensentwurf zu verfolgen. Diese Fundamente unseres Lebens werden von unterschiedlichen Seiten bedroht: von innen durch Populismus und Nationalismus, von innen wie von außen durch den Islamismus, und von außen durch autoritäre Mächte wie Russland und China.
Die beiden Mächte versuchen – auf unterschiedliche Weise – Einfluss auf Politik, Gesellschaft und Wirtschaft in der EU und bei ihren Verbündeten zu erlangen; beide versuchen dabei, die Grundlagen der europäischen Demokratien zu unterminieren. Während die russische Führung vor allem auf Destruktion setzt, wollen Chinas Kommunisten beeinflussen, was gesagt werden darf. Noch betrifft das nur Themen, die unmittelbar die chinesische Politik betreffen: Tibet, Xinjiang, Taiwan, Hongkong; und noch wirken diese Versuche oft so durchsichtig und tölpelhaft, dass sie das Gegenteil zu bewirken scheinen. Aber es gibt Beispiele dafür, dass es sich um eine reale Gefahr handelt. Einer der Punkte, mit denen China voriges Jahr wirtschaftliche Strafmaßnahmen gegen Australien begründete, waren „feindlich gesinnte Medienberichte“.
Die beste Verteidigung gegen diese äußere Bedrohung der europäischen Demokratien ist es, wenn die EU und die Regierungen der Mitgliedstaaten Menschenrechtsverletzungen ohne Rücksicht auf die Empfindlichkeiten autoritärer Herrscher öffentlich ansprechen. Selbst wenn das den Uiguren und den verprügelten russischen Demonstranten nicht unmittelbar hilft, wird damit weiter reichenden Machtansprüchen der chinesischen Diktatur und des russischen Regimes entgegengetreten.
Das bedeutet nicht, dass eine Kooperation mit Moskau oder Peking nicht möglich wäre. Im Gegenteil: Sie ist in vielen Fragen wünschenswert und in manchen unabdingbar. Eine wirksame Klimapolitik oder Rüstungskontrolle etwa sind ohne China und Russland nicht denkbar. Enge wirtschaftliche Beziehungen können allen Seiten Wohlstandsgewinne bringen und zudem sicherheitspolitisch stabilisierend wirken. Aber die Position Europas (und seiner Unternehmen) in diesen Beziehungen ist umso stärker, je offensiver es für seine Werte eintritt – und je realistischer es seine Politik am Charakter dieser Regimes ausrichtet. Wirtschaftliche Beziehungen sind mit ihnen nicht ohne geopolitische Komponente zu haben. Sie muss deshalb immer bedacht werden. Wenn man politisch nicht frühzeitig gegensteuert, kann die alte Losung „Wandel durch Handel“, aus der die Hoffnung auf die Demokratisierung autoritärer Regimes durch Wirtschaftsbeziehungen sprach, auch in die andere Richtung wirken.
Eine an solchen Linien ausgerichtete Außenpolitik kann in der Realität nie frei von Widersprüchen, Inkonsequenzen und schmerzlichen Kompromissen sein. In der konkreten Ausgestaltung kann sie gegenüber unterschiedlichen Ländern sehr unterschiedlich aussehen. Das wirtschaftlich aufsteigende, technologisch fortschrittliche China stellt die EU vor Herausforderungen anderer Art als die stagnierende russische Rohstoff-Autokratie. Die Möglichkeiten, die die Europäer im Verhältnis zu beiden haben, sind unterschiedlich. In beiden Fällen aber gilt: Sie nutzen sie nicht selbstbewusst genug.
Reinhard Veser ist Politikredakteur der F.A.Z.
Alle Rechte vorbehalten © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main. Vervielfältigungs- und Nutzungsrechte für F.A.Z.-Inhalte erwerben Sie auf www.faz-rechte.de