Issue: 3/2017
In letzter Zeit häufen sich die Schlagzeilen um Korruption in Lateinamerika. Waren schon die Namen Petrobras und Panama-Papers in aller Munde, so kam der Stein spätestens am 21. Dezember 2016 so richtig ins Rollen: An jenem Tag wurde bekannt, dass die brasilianische Baufirma Odebrecht zwischen 2005 und 2014 öffentliche Aufträge durch die Zahlung von Bestechungsgeldern in Millionenhöhe an hohe Staatsbeamte auf dem gesamten lateinamerikanischen Kontinent erkauft habe. Immer weiter zogen sich die Kreise der Vorwürfe und Ermittlungen gegen führende lateinamerikanische Politiker wegen Verwicklung in den Odebrecht-Skandal oder in ähnliche Korruptionsfälle. Zuletzt traf es Brasiliens populären früheren Staatschef Luiz Inacio „Lula“ Da Silva, der im Juli wegen Korruption und Geldwäsche zu neun Jahren und sechs Monaten Haft verurteilt wurde. Der zuständige Richter sah es als erwiesen an, dass Lula als Dank für die Bevorteilung des Baugiganten OAS ein Luxus-Apartment erhalten habe. Lula kann allerdings noch Berufung einlegen und bleibt vorerst auf freiem Fuß. Am 13. Juli wurden Perus Ex-Präsident Ollanta Humala und seine Frau Nadine Heredia in Untersuchungshaft genommen. Dem Paar wird vorgeworfen, die beiden Wahlkämpfe Humalas 2006 und 2011 mit illegalen Geldern, unter anderem von Odebrecht, aber auch aus der venezolanischen Staatskasse, bestritten zu haben. Seit Anfang des Jahres schon besteht der Verdacht, dass der zurückliegende Wahlkampf des kolumbianischen Präsidenten Juan Manuel Santos, der erst 2016 für die Friedensverhandlungen mit den FARC-Rebellen den Friedensnobelpreis erhalten hatte, mit Bestechungsgeldern in Millionenhöhe finanziert wurde.
Lateinamerika scheint im Sumpf der Korruption zu versinken. Dieser Eindruck verfestigt sich, wenn man bedenkt, dass auf dem Kontinent bis heute die Grenzen zum Kavaliersdelikt in der Wahrnehmung von Justiz und Gesellschaft häufig verschwimmen. So sagte beispielsweise der ehemalige kolumbianische Präsident Julio César Turbay während seiner Amtszeit, dass Korruption nur auf das richtige Maß reduziert werden müsse. Er suggeriert damit, dass Politik zwingend mit Korruption einhergehe.
Die weltweite Reaktion auf die genannten Skandale zeigt jedoch, dass die Bemühungen im Kampf gegen Korruption, wie sie internationale Organisationen wie etwa die Vereinten Nationen (VN), die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) und die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) mit ihrem Anti-Korruptionsprogramm für Lateinamerika oder Nichtregierungsorganisationen wie Transparency International seit Jahren betreiben, auch von der lateinamerikanischen Politik nicht länger ignoriert werden können. Angefacht durch medialen Druck und ein zunehmendes Unwohlsein in der Bevölkerung, sind in vielen lateinamerikanischen Ländern seit diesem Jahr intensive Bemühungen im Kampf gegen Korruption zu verzeichnen: Es werden Regierungsprogramme kreiert, Strafgesetze verschärft und Antikorruptionsbehörden ins Leben gerufen. Korruption ist längst zum Politikum geworden und wird z. B. in Kolumbien und Mexiko das mitentscheidende Thema im für 2018 anstehenden Präsidentschaftswahlkampf sein. Es scheint, als sei Lateinamerika nun endlich aus dem Dornröschenschlaf erwacht.
Was genau bedeutet Korruption?
Korruption ist die Perversion von Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten. Sie steht in direktem Widerspruch zu Werten wie Chancengleichheit und Gewaltenteilung. Doch was ist Korruption genau? Gemäß der Antikorruptionsorganisation Transparency International ist der Begriff Korruption so undurchsichtig wie die Strukturen, in denen Korruption gedeiht. Sie definiert Korruption daher allgemein als den „Missbrauch anvertrauter Macht zum privaten Nutzen oder Vorteil“. Demnach können Täter sowohl staatliche Akteure in Politik und Justiz als auch private in der Wirtschaft und anderen Teilen der Gesellschaft sein. Das entscheidende Kriterium ist hierbei der Machtmissbrauch.
Wesentlich konkreter wird Korruption in der kriminologischen Forschung definiert. Es handelt sich um den „Missbrauch eines öffentlichen Amtes, einer Funktion in der Wirtschaft oder eines politischen Mandats zugunsten eines Anderen, auf dessen Veranlassung oder in Eigeninitiative, zur Erlangung eines Vorteils für sich oder einen Dritten, mit Eintritt oder in Erwartung des Eintritts eines Schadens oder Nachteils für die Allgemeinheit (Täter in amtlicher oder politischer Funktion) oder für ein Unternehmen (betreffend Täter als Funktionsträger in der Wirtschaft)“. Korruptionsdelikte können demnach sowohl aktiv als auch passiv begangen werden. So wird nach dem deutschen Strafgesetzbuch Vorteilsgewährung und -annahme (§§ 331 und 333 StGB) sowie Bestechung und Bestechlichkeit (§§ 332 und 334 StGB) gleichermaßen unter Strafe gestellt. Vorteilsnehmer sowie -geber können Beamte, Staatsangestellte oder anderweitig staatlich Beauftragte sein, die Staatsgewalt missbrauchen. Es kann sich aber auch um Politiker oder Funktionsträger in der Wirtschaft handeln.
Der Vorteil muss nicht unbedingt dem Täter selbst zu Gute kommen. Der Tatbestand ist ebenfalls erfüllt, wenn dieser einen Dritten bedenkt. Nach der hier verwendeten Definition ist darüber nicht nur das Verhalten desjenigen erfasst, der privaten Nutzen aus dem Machtmissbrauch zieht, sondern auch das Verhalten eines unabhängigen Dritten, der bewusst vom korrupten Handeln anderer profitiert. Nichts anderes gilt in Lateinamerika, wo generell ein sehr weiter Korruptionsbegriff verwendet wird. Fraglich ist weiter, ob Steuerhinterziehung unter den Begriff der Korruption im engeren Sinne fällt. Nach der Definition von Transparency International wäre dies nicht der Fall, weil kein Fall von Machtmissbrauch vorliegt. Dennoch weisen Steuer- und Korruptionsdelikte eine Reihe von Parallelen auf und gehen in vielen Fällen miteinander einher.
Charakteristisch für Korruptionsdelikte ist, dass diese „opferlose“ Delikte sind, die sich regelmäßig im Verhältnis zwischen zwei Tätern, den „Korrumpierten“ und den „Korrumpierenden“, abspielen. Diese beiden Parteien sind grundsätzlich nicht an der Aufklärung der begangenen Straftaten interessiert. Das eigentliche Opfer, häufig der Fiskus und damit letztlich der Steuerzahler, steht regelmäßig außerhalb dieser Beziehung und hat daher keine Kenntnis von dem Vorgehen der Täter. Das erschwert die Aufklärung von Korruptionsdelikten erheblich.
Schaden durch Korruption
Der weltweit durch Korruption angerichtete materielle Schaden ist enorm. Er wird als größtes Hindernis für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung angesehen. Jedes Jahr werden ca. eine Billion US-Dollar an Bestechungsgeldern gezahlt, während den Staaten geschätzte 2,6 Billionen US-Dollar durch Korruption abhandenkommen. Dies entspricht mehr als 3,5 Prozent des globalen BIP. In einem ähnlichen Verhältnis stehen die Verluste für den lateinamerikanischen Kontinent: Laut Global Financial Integrity gehen ca. 143 Milliarden US-Dollar jährlich durch Korruption verloren. Dadurch fehlen den Regierungen immense Einnahmen, die sinnvoll für Bildung, Gesundheitswesen und Sozialleistungen einzusetzen wären. Gleichzeitig führt die durch Korruption geförderte Aushebelung von Marktmechanismen und die Ausschaltung eines fairen Leistungswettbewerbs zu überteuerten oder qualitativ minderwertigen Produkten und Dienstleistungen.
Vielleicht sogar noch schwerwiegender ist der immaterielle Schaden, der durch Korruption verursacht wird. Das Bekanntwerden einer großen Zahl von Korruptionsskandalen lässt den Bürger pauschalisierend vermuten, dass Politik und Wirtschaft durch korrupte Machenschaften verbandelt sind. Er verliert das Vertrauen in staatliche Institutionen und in die Politik. Der Staat wird schnell zum Feindbild und ohne den Rückhalt in der Bürgerschaft schnell instabil. Grundwerte des demokratischen und sozialen Rechtsstaats sowie Menschenrechte werden verletzt, Entwicklungen und Innovationen blockiert, Schattenwirtschaft gefördert und der Verfall politischer Moral begünstigt. Ebenso ruft Korruption Enttäuschung und mangelnde Leistungsbereitschaft derjenigen hervor, die keinen Vorteil für sich beanspruchen können. Sie begünstigt Ungleichheit in Bezug auf die Verteilung von Macht und Wohlstand und führt letztlich zur Stärkung von Populisten, die in der Wählergunst von dem Vertrauensverlust der etablierten Parteien profitieren.
Nationaler und regionaler Regelungsrahmen
Wegen der gravierenden, durch Korruption hervorgerufenen Schäden sah man auf internationaler Ebene schon vor mehr als einem Jahrzehnt Handlungsbedarf. So verabschiedeten die VN im Dezember 2005 die Konvention gegen Korruption (UN-Convention against Corruption, UNCAC). Das Abkommen ist der erste weltweit völkerrechtlich bindende Vertrag, der von 181 Staaten ratifiziert wurde (Stand: Dezember 2016), darunter alle lateinamerikanischen Staaten. Es verpflichtet die Vertragsparteien zur Bestrafung verschiedener Formen der Korruption gegenüber Amtsträgern und zur internationalen Zusammenarbeit. Es enthält Implementierungspflichten für die Vertragsstaaten unter anderem in den Bereichen Korruptionsverhütung (siehe Kapitel II UNCAC, das eine Auflistung der von den VN normierten vorbeugenden Maßnahmen enthält), Kriminalisierung und Strafverfolgung. Die Umsetzung der Vertragspflichten durch die einzelnen Mitgliedstaaten wird im Rahmen eines im Jahre 2009 geschaffenen Überprüfungsmechanismus (Peer Review Mechanism) evaluiert.
Auf regionaler Ebene verabschiedeten die Mitglieder der OAS sogar bereits im Jahre 1996 die Interamerikanische Konvention gegen Korruption (Convención Interamericana contra la Corrupción). Mit Ausnahme Kubas haben alle Mitgliedstaaten der OAS das Abkommen unterzeichnet. Seit 2002 existiert ein Überprüfungsmechanismus zu ihrer Durchführung (Mecanismo de Seguimiento de la Implementación de la Convención Interamericana contra la Corrupción, MESICIC). Dennoch fehlt es hinsichtlich beider Konventionen an einem Gericht, das die Mitgliedstaaten für die Verletzung der jeweiligen Konvention verurteilen könnte.
Ausmaß der Korruption in Lateinamerika
Nicht zuletzt wegen dieser oftmals fehlenden Justizialisierung internationaler und regionaler Abkommen zur Korruptionsbekämpfung konnte deren Ratifizierung durch die Mitgliedstaaten bisher noch nicht vollständig zur Problemlösung beitragen. Das zeigt der aktuelle Korruptionsindex von Transparency International, der das Ausmaß von Korruption in Lateinamerika anschaulich darstellt. Durch diesen werden die Länder nach dem Grad bewertet, in dem dort Korruption bei Amtsträgern und Politikern durch die Zivilbevölkerung wahrgenommen wird. Der durchschnittliche Wert der lateinamerikanischen Länder lag 2016 bei 44 von 100 zu erreichenden Punkten, wobei ein Wert unter 50 Punkten besagt, dass die Regierung in Sachen Korruptionsbekämpfung schlichtweg versagt hat. Uruguay, Chile und Costa Rica befinden sich als Einzige im oberen Drittel des Rankings.
Die Tatsache, dass Venezuela zu den 15 korruptesten Ländern der Welt gehört und seit dem letzten Jahr weitere acht Plätze nach unten auf Rang 166 gerutscht ist, verwundert bei der derzeitigen politischen und wirtschaftlichen Lage des Landes nicht. Die Inflation ist auf dem Höchststand, Menschen leiden Hunger und müssen hohe Bestechungsgelder zahlen, um überhaupt Grundnahrungsmittel sowie die nötigsten Arzneimittel zu erhalten. Zudem haben die Ermittlungen im Odebrecht-Skandal gezeigt, dass Schmiergeldzahlungen des Baugiganten auch nach Venezuela flossen. Informanten haben in diesem Zusammenhang eine Zahlung von drei Millionen US-Dollar zur illegalen Finanzierung des Wahlkampfs von Nicolas Maduro von 2012 bis 2013 erwähnt.
Während Venezuela den schlechtesten Platz Lateinamerikas einnimmt, ist Mexiko das Land, welches 2016 den stärksten Abstieg innerhalb des Kontinents aufwies, indem es von Platz 95 auf Platz 123 abrutschte. Als Sinnbild für den rapiden Fall Mexikos auf der Korruptionsskala und die Verstrickung von Politik und organisierter Kriminalität gilt das mutmaßliche Handeln des Gouverneurs des Teilstaates Veracruz, Javier Duarte, dessen Regierung laut dem mexikanischen Rechnungshof mindestens 1,7 Milliarden US-Dollar unterschlagen haben soll. Dies wurde von der nationalen Regierung jahrelang geduldet.
Auch Kolumbien sah sich in Sachen Korruptionsbekämpfung im letzten Jahr mit einigen Rückschlägen konfrontiert und sank im Ranking von Platz 83 auf Platz 90. Seit einigen Monaten ist das Thema Odebrecht, in dessen Skandal auch kolumbianische Spitzenpolitiker verwickelt zu sein scheinen, in den Medien omnipräsent und wird zum Damoklesschwert im Präsidentschaftswahlkampf 2018 werden. Dem ehemaligen Wahlkampfleiter des Präsidenten Santos wird vorgeworfen, Bestechungsgelder in Höhe von einer Million US-Dollar für die Wiederwahl Santos’ im Jahre 2014 erhalten zu haben.
Bereits der Petrobras-Skandal rückte Brasilien medial in ein negatives Licht; nun dient das Land mit dem Odebrecht-Skandal gar als Bühne des größten Korruptionsskandals in der Geschichte Lateinamerikas. Seit Mai 2017 steht zudem der amtierende brasilianische Staatspräsident Michel Temer im Kreuzfeuer der Ermittlungen. Er soll dafür verantwortlich sein, dass Schweigegelder an den ehemaligen Parlamentspräsidenten Eduardo Cunha gezahlt wurden, weshalb das Oberste Bundesgericht Brasiliens gegen ihn ermittelt. Anfang August entschied jedoch das brasilianische Parlament, dass gegen Temer vorerst nicht weiter wegen Korruption ermittelt werden soll, obwohl die Beweise gegen ihn eindeutig zu sein schienen. Obwohl das Land auf dem Index ein paar Plätze verlor – von Platz 76 auf Platz 79 –, ist die Aufdeckung und rigide Verfolgung dieser Korruptionsfälle durch die staatlichen Ermittlungsbehörden jedoch als Teilerfolg zu werten.
Der lateinamerikanische „Aufsteiger des Jahres“ in Sachen Korruptionsbekämpfung ist Argentinien. Das Land konnte sich trotz der Verwicklung in den Odebrecht-Skandal und der Korruptionsvorwürfe rund um die ehemalige Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner wegen eines strengen, neuen Antikorruptionsprogramms um zwölf Plätze von Rang 107 auf Rang 95 verbessern und findet sich nunmehr im mittleren Bereich des Index wieder.
Abb. 1: Lateinamerikanische Staaten im globalen Korruptionsranking 2016