Ai: Der russische Überfall auf die Ukraine hat die Weltpolitik erschüttert. Wie spiegeln sich die Entwicklungen im französischen Präsidentschaftswahlkampf wider?
Caroline Kanter: Der Krieg in der Ukraine dominiert die öffentliche Debatte in Frankreich. Auch im Präsidentschaftswahlkampf ist er das tonangebende Thema. Das stellt die Kandidatinnen und Kandidaten vor große Herausforderungen, vor allem wenn wir auf die extreme Rechte und die extreme Linke schauen, die in der Vergangenheit enge Bindungen zu Russland hatten. Diese Kräfte revidieren ihre Positionen nun teilweise und müssen sich verstärkt erklären. Das betrifft auf der linken Seite vor allem Jean-Luc Mélenchon, auf der rechten Éric Zemmour und natürlich Marine Le Pen.
Ai: Wie reagieren die genannten Personen denn konkret? Und nehmen ihnen die Wählerinnen und Wähler etwaige Kurskorrekturen überhaupt ab?
Kanter: Es ist interessant zu sehen, dass es Le Pen, die in den vergangenen Jahren enge Beziehungen zum russischen Präsidenten Wladimir Putin und seiner Partei pflegte, gelungen ist, ihre Position – auch durch ein gewisses rhetorisches Geschick – abzumildern und zu revidieren, gerade auch beim Thema Flüchtlingsaufnahme und Migration und der Frage, wie man mit den Menschen umgehen soll, die aus der Ukraine nach Frankreich kommen. Le Pen hat hier eine Unterscheidung vorgenommen zwischen Flüchtlingen aus Afghanistan und Syrien auf der einen und jenen aus der Ukraine auf der anderen Seite. Letztere seien Europäer, mit denen man sich solidarisch zeigen müsse. Außerdem handele es sich vor allen Dingen um Frauen und Kinder, so die Argumentation von Le Pen. Umfragen einige Tage nach Kriegsausbruch haben gezeigt: Sie hat in der öffentlichen Wahrnehmung keinen Schaden genommen. Zemmour, der seine Position weniger stark angepasst hat, hat dagegen an Zustimmung verloren.
Ai: Und Mélenchon?
Nele Wissmann: Wie viele Linkspopulisten stand auch Mélenchon Putin und Russland nahe. Angesichts des Krieges in der Ukraine hat er seinen Wahlkampf neu ausgerichtet. So hat er beispielsweise eine Wahlveranstaltung kurzerhand zu einer Friedensdemonstration gemacht und sich vom russischen Vorgehen distanziert. Wo er seine Haltung allerdings nicht geändert hat, ist mit Blick auf die NATO. Er sagt nach wie vor, dass Frankreich aus der NATO austreten sollte. Insgesamt muss man sagen, dass sich schwer abschätzen lässt, welche Auswirkungen der Krieg und die damit einhergehenden Debatten auf die Präsidentschaftswahl haben. Es ist ein absolutes Novum, dass Außenpolitik im französischen Wahlkampf eine so wichtige Rolle spielt.
Ai: Nun bieten Krisenzeiten Politikern immer auch die Möglichkeit, durch entschlossenes Handeln zu punkten. Ist das Präsident Emmanuel Macron, der zur Wiederwahl antritt, im Zusammenhang mit dem russischen Angriff auf die Ukraine gelungen?
Kanter: Frankreich sieht sich traditionell als wichtiger Gestalter in den internationalen Beziehungen – und auch Macron hat diesen Anspruch. Er nutzt die Rolle als Krisenmanager sehr offensiv und geschickt. Das wird von der Bevölkerung laut Umfragen positiv wahrgenommen. Es ist ja auch nicht die erste außenpolitische Krise, die er bestreiten muss. Für die anderen gemäßigten Präsidentschaftskandidaten wie Valérie Pécresse von der Partei Les Républicains und die Sozialistin Anne Hidalgo ist es in dieser Situation schwer, zum Zuge zu kommen.
Ai: Welche Themen sind denn abseits des Ukrainekriegs im Wahlkampf zentral?
Kanter: Wenn wir es auf einen Begriff zuspitzen wollen, dann ist es: Sicherheit. Wirtschaftliche, soziale und innere Sicherheit. Dieses Thema beschäftigte die französischen Bürger Ende letzten Jahres und Anfang 2022 am stärksten, bevor mit dem Ukrainekrieg eine neue Dynamik entstand. Wobei auch die oben genannten Aspekte von Sicherheit in indirektem Bezug zu der aktuellen geopolitischen Instabilität stehen und sich die mit ihnen verbundenen Herausforderungen durch diese Entwicklungen verschärft haben. Beim Thema wirtschaftliche Sicherheit geht es vor allem um die Frage der Kaufkraft und aktuell natürlich vorrangig um Energiekosten. Mit Blick auf die soziale Sicherheit mussten die Franzosen während der Pandemie feststellen, dass ihr Gesundheitssystem nicht den Erwartungen entsprach und vor allem zu Beginn der COVID-19-Krise in Teilen versagte. Hier und beim Thema Rentensystem hat man hohe Erwartungen an die nächste Regierung. Das Thema innere Sicherheit spielt in Frankreich eine wichtige Rolle, weil die islamistisch motivierten Terroranschläge der vergangenen Jahre in Teilen der Bevölkerung Verunsicherung hervorgerufen haben und die Rufe nach einem „starken Staat“ lauter wurden. Außen- und europapolitische Themen sind im Alltag der Franzosen angekommen – insbesondere die Frage nach der Rolle Frankreichs in der Welt gewinnt unter dem Eindruck der aktuellen Krise an Bedeutung.
Ai: Wie positionieren sich die wichtigsten Kandidaten zu diesen Themen? Wo liegen die zentralen Unterschiede?
Wissmann: Die derzeitige Inflation hat natürlich vor allen Dingen die Debatte zum Thema Kaufkraft befeuert. Die Kandidatin der Partei Les Républicains, Valérie Pécresse, hat Maßnahmen zur Förderung der Kaufkraft versprochen, etwa durch die Erhöhung von Löhnen und die Auszahlung von Überstunden – ganz im Sinne der Devise des ehemaligen Staatspräsidenten Nicolas Sarkozy: „Mehr arbeiten, um mehr zu verdienen.“ Der rechtspopulistische Kandidat Éric Zemmour hatte zu Beginn seines Wahlkampfs kaum Vorschläge zu diesem Themenkomplex. Jetzt fordert er von Unternehmen die Auszahlung einer Lohnprämie auf Niedriglöhne; diese würden dann vom Staat nicht besteuert. Die Senkung der Mehrwertsteuer auf die Preise für Kraftstoffe, Heizöl und Strom steht im Wahlprogramm von Marine Le Pen. Auf der linken Seite konzentrieren sich die Vorschläge des Linkspopulisten Jean-Luc Mélenchon, des Grünen Yannick Jadot und der Sozialistin Anne Hidalgo auf die Anhebung des Mindestlohns. Mélenchon verspricht darüber hinaus, die Preise für Grundnahrungsmittel einzufrieren.
Ai: Blicken wir auf die inhaltliche Ausrichtung des amtierenden Präsidenten Macron: Er wird nicht selten als Politiker beschrieben, der politisch schwer einzuordnen ist, der weder links noch rechts sei. Stimmen Sie dem zu?
Kanter: Macron ist 2017 damit angetreten, die gesellschaftlichen Gräben und politischen Spaltungen im Land zu überwinden. In den vergangenen fünf Jahren hat er weite Teile des politischen Spektrums bedient. Man kann sagen, dass zu Beginn seiner Amtszeit eher eine sozialliberale Handschrift erkennbar war. Macron hat Reformen auf den Weg gebracht, etwa die Arbeitsmarktreform oder die Reform der Unternehmenssteuern. Auch bedingt durch die islamistischen Terroranschläge in Frankreich hat er allerdings den Fokus dann verstärkt auf das Thema innere Sicherheit gelegt, das vielen Bürgerinnen und Bürgern sehr wichtig ist. So reagierte er mit einer Regierungsumbildung im Juli 2020 und Gesetzesvorhaben wie dem globalen Sicherheitsgesetz im Mai 2021. Macron hat Themen, die eher das konservative bis rechte Spektrum beschäftigen, aufgegriffen. Er weiß, dass Wahlen in Frankreich nicht links der Mitte, sondern eher rechts davon gewonnen werden. Dabei hat er sehr geschickt agiert und beispielsweise ehemalige Politiker der Partei Les Républicains eingebunden, die jetzt in der Regierung wichtige Posten haben. Macron deckt inhaltlich und personell also tatsächlich eine große Bandbreite ab.
Wissmann: Der Punkt, dass er ehemals bürgerlich-konservative Personen eingebunden hat, ist sehr wichtig. Ich würde ergänzen: Es gibt die Aufteilung in links und rechts in Frankreich durchaus noch, Macron ist es aber gelungen, aus beiden Richtungen Elemente zusammenzuführen. Das macht ihn allerdings auch angreifbar. Das bürgerlich-konservative Lager kritisiert seinen „Kulturliberalismus“, die Linke attackiert ihn für seine Positionen in der Migrationspolitik, die man als „konservativ“ bezeichnet.
Ai: Sie haben Macrons Vorhaben angesprochen, die Spaltung der Gesellschaft zu überwinden. Hat er das geschafft?
Kanter: Es ist ihm durchaus gelungen, bedeutende Teile seiner ambitionierten Reformagenda umzusetzen. Auch wichtige Wirtschaftsdaten sind positiv, so ist etwa die Arbeitslosenquote so niedrig wie zuletzt vor 15 Jahren. Das weiß die Regierung natürlich entsprechend zu kommunizieren. Bei der Staatsverschuldung sieht es zwar anders aus, das Thema spielt in der Öffentlichkeit aber keine große Rolle. Ob Macron sein Ziel, die Spaltung der Gesellschaft zu überwinden, erreicht hat, steht allerdings auf einem anderen Blatt. Ich würde da sagen: Das ist ihm nicht gelungen. Das kann man zum Beispiel an dem Thema Kaufkraft und den Protesten der Gelbwestenbewegung 2018 und 2019 sehen, als es um die Spritpreise ging. Viele Menschen außerhalb der Metropolen fühlen sich abgehängt – das hat auch Macron nicht ändern können. Wenn wir auf die Umfragen vor Ausbruch des Krieges in der Ukraine schauen, sehen wir, dass circa ein Viertel der Menschen ihn im ersten Wahlgang wieder direkt in den Elysée wählen würden. Die politischen Kräfte an den Rändern kamen zusammengenommen auf 35 bis 40 Prozent. Es gibt nach wie vor großes Frustrationspotenzial.
Ai: Mit Blick auf die Umfragen sehen wir tatsächlich, dass einige Kandidaten der politischen Ränder vergleichsweise hohe Zustimmungswerte haben, während sich die Kandidaten der gemäßigten Parteien schwertun. Vor allem die Sozialisten, die mit François Hollande vor einigen Jahren noch den Präsidenten stellten, sind mit ihrer Kandidatin laut Umfragen weit abgeschlagen. Erleben wir einen Bedeutungsverlust insbesondere der traditionellen Parteien?
Kanter: Frankreich hat ein präsidentielles System. Man sollte nicht den Fehler machen, unsere Vorstellungen von Parteien einfach auf Frankreich zu übertragen. Zugespitzt kann man sagen, dass es sich im Kontext von Präsidentenwahlen eher um „Wahlvereine“ von einzelnen Personen handelt. Bei den Präsidentschaftswahlen stehen ganz klar die einzelnen Kandidaten und ihre Positionen im Vordergrund. Deshalb kann man aus Ergebnissen von Präsidentschaftswahlen auch nicht ohne Weiteres Rückschlüsse auf den Zustand der Parteien ziehen. Insgesamt müssen wir feststellen, dass das Vertrauen in Parteien und ins Parlament in Frankreich geringer ausgeprägt ist als in Deutschland und auch in der jüngeren Vergangenheit fraglos noch einmal weiter zurückgegangen ist. So geben lediglich 8 Prozent der Franzosen an, dass sie politischen Parteien vertrauen; in Deutschland sind es hingegen 29 Prozent. Auch die Stärke von extremen Kandidaten stellt kein Novum in Frankreich dar. Marine Le Pens Vater Jean-Marie Le Pen etwa zog 2002 in die Stichwahl für das Amt des Staatspräsidenten ein, damals gegen Jacques Chirac. Auch Marine Le Pen schaffte es bereits 2017 in die Stichwahl. Wenn wir uns die Wahlergebnisse auf kommunaler und regionaler Ebene anschauen, stellen wir fest, dass die Sozialisten und die Bürgerlich-Konservativen nach wie vor die beiden großen politischen Kräfte in Frankreich darstellen. Macron ist es nicht gelungen, seine Bewegung La République en Marche! (LRM) auf dieser Ebene zu verankern.
Wissmann: Das bürgerlich-konservative Lager hat aktuell durchaus noch passable Umfragewerte und ist in den Regionen und Städten vergleichsweise stabil. Die Lage des linken Lagers ist deutlich schwieriger. Es gab in den verschiedenen linken Parteien zwischenzeitlich den Wunsch, einen gemeinsamen Kandidaten für die Präsidentschaftswahl aufzustellen, das hat allerdings nicht geklappt. Die Spaltung im linken Lager ist offenbar zu tief.
Ai: Sie haben eben darauf verwiesen, dass Parteien in Frankreich – insbesondere bei den nationalen Wahlen – eine etwas andere Rolle spielen als in Deutschland. Stichwort: mehr Wahlverein als Programmpartei. Hat Präsident Macron diesen Trend noch verstärkt? Und was heißt das eigentlich für die Kontinuität im politischen System Frankreichs?
Kanter: Macron hat versucht, auf das geringe Vertrauen in die Parteien eine neue Antwort zu finden und neue Formen der politischen Partizipation zu etablieren. Vor diesem Hintergrund hat er LRM gegründet, wo die Hürden, mitzumachen, sehr niedrig sind. Man muss sich lediglich auf einer Webseite eintragen und keinen Mitgliedsbeitrag zahlen. Deshalb sind die öffentlichen Zahlen von knapp 420.000 Anhängern nicht leicht nachweisbar. Auch Zemmour hat keine Partei, sondern ist in gewisser Weise als Einzelperson von den Medien großgeschrieben worden. Er hat dann eine Bewegung gegründet, die allerdings im Grunde nur auf dem Papier existiert und als Wahlkampfmaschine fungiert. Mit Blick auf diese „Bewegungen“ stellt sich die Frage, was aus ihnen in Zukunft wird. Was bleibt, wenn Macron nicht mehr Präsident ist? Ich sehe das nicht, dass LRM auch nach Macrons Präsidentschaft noch eine tragende Rolle spielen wird. Es ist insofern schwierig zu prognostizieren, wie sich die politische Landschaft Frankreichs in Zukunft gestalten wird.
Ai: Kommen wir nochmal zu den Spannungen und Rissen innerhalb der französischen Gesellschaft. Sie haben die Einschätzung geäußert, dass Macron diese nicht hat überwinden können. Welche Versuche hat er denn unternommen, die Kluft zumindest zu verringern?
Kanter: Macron hat in den vergangenen Jahren direktdemokratische Instrumente aus der Taufe gehoben, darunter die sogenannte „große nationale Debatte“, die als Reaktion auf die Gelbwestenbewegung lanciert wurde und deren Ziel es war, direkt mit den Menschen in den Kommunen in den Austausch zu kommen. Dies wurde durchaus positiv wahrgenommen. Ein weiterer Schritt war der Klimakonvent, wobei zweifelhaft ist, ob dieses Experiment wirklich gelungen ist.
Ai: Können Sie das konkretisieren?
Wissmann: Der Klimakonvent ist aus der „großen nationalen Debatte“ hervorgegangen. Dabei wurden Bürger ausgelost, die an diesem Konvent teilnehmen konnten. Diese Bürger haben sich mehrmals getroffen und diskutiert und 149 Vorschläge zur Klimapolitik vorgelegt. Das Problem: Macron hatte sich eigentlich verpflichtet, diese zu übernehmen. Tatsächlich hat er aber rasch zahlreiche Vorschläge verworfen – mit dem Argument, dass diese nicht umsetzbar seien. Zudem hat die Nationalversammlung Vorschläge teilweise umgeschrieben, sodass die Konventteilnehmer sehr enttäuscht waren. Der Eindruck war, dass es sich lediglich um eine Bürgerbeteiligung auf dem Papier handelte. Macron will allerdings an diesen Instrumenten festhalten und hat bereits angekündigt, die „große nationale Debatte“ im Fall seiner Widerwahl zu verstetigen und große Reformprojekte zum Beispiel in den Bereichen Gesundheit oder Bildung mit den Bürgern zu diskutieren.
Kanter: Mit dem Klimakonvent wurden Erwartungen geweckt, die nicht eingelöst wurden. Die lautstark angekündigte Aufnahme des Klimaschutzes in die französische Verfassung verlief im politischen Betrieb im Sande. Das hat in der Öffentlichkeit einen bitteren Nachgeschmack hinterlassen.
Ai: Nun ist es ja zunächst einmal positiv, zu versuchen, mehr Menschen in die politische Debatte einzubinden. Nur stellt sich die Frage, ob derlei Prozesse nicht auch dazu führen, dass etwa das Parlament, das immerhin demokratisch legitimiert ist, an Bedeutung verliert.
Kanter: Ja, das ist richtig. Und es gibt auch durchaus Kritik an den von Macron eingeführten Instrumenten, nicht zuletzt von Parlamentariern. Insgesamt hat die Legislative in den vergangenen fünf Jahren an Bedeutung verloren, in einem System, das ohnehin stark auf den Präsidenten und die Exekutive ausgerichtet ist. Ich würde nicht sagen, dass sich das System in einem Auflösungsprozess befindet, aber das repräsentative Element ist geschwächt – und wird vermutlich auch nicht zu alter Stärke zurückfinden.
Die Fragen stellten Sören Soika und Fabian Wagener.
Caroline Kanter ist Leiterin des Auslandsbüros Frankreich der Konrad-Adenauer-Stiftung.
Nele Wissmann ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Auslandsbüro Frankreich der Konrad-Adenauer-Stiftung.